Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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Mittelpunkt des Geld- und Handelswesens – schließlich sagt man mit Recht, Rialto sei die „Wallstreet“ der damaligen Zeit gewesen. Nicht ohne Grund lässt Shakespeare Shylock im Kaufmann von Venedig fragen: „Was hört man Neues vom Rialto?“ und betont damit dessen überragende wirtschaftliche Bedeutung. Zudem besitzt der Sestiere eine lange Wasserfront am Canal Grande, die reichlich Platz für repräsentativ gelegene Palastbauten bot. Zu Zeiten der Republik gab es hier noch weitere Attraktionen in Form von mehreren Theatern und Spielcasinos, so z. B. den berühmten Ridotto in unmittelbarer Nachbarschaft zur Piazza in der Calle Vallaresso. Heute ist vieles vollkommen anders geworden: Entgegen der ursprünglichen politischen Bedeutung ist S. Marco heute Bischofskirche des Patriarchen. Rialto spielt nur mehr eine Rolle als der größte Markt der Stadt. Die Paläste sind fast ausschließlich zweckentfremdet und dienen allenfalls vereinzelt noch als Wohngebäude, und dann in der Regel nicht mehr für einzelne Familien, sondern aufgeteilt in viele kleinere Wohneinheiten. Die dominierende Rolle spielt heute der Tourismus in allen seinen Formen. Im Übrigen hat gerade dieser Stadtbezirk in der Zeit nach dem Untergang der Republik einschneidende bauliche Veränderungen erlitten. So wurden grobe Schneisen durch die Stadt geschlagen, z. B. die Calle Larga del XXII Marzo oder die Verbindung zwischen S. Salvatore und dem Campo S. Bartolomeo, die völlig unvenezianisch breit und gerade verlaufen und einen pompösen, in keiner Weise autochthonen Baustil aufweisen. Von dem, was einst war, können nur mehr die zahlreichen feinen Adressen eine Ahnung vermitteln, seien es die Hotels, die Restaurants oder die exklusiven Geschäfte. Im Gegensatz zu eleganten Geschäftsstraßen in Florenz oder Rom sieht hier von außen vieles zunächst eher kleinteilig und zurückhaltend aus. Bei näherer Betrachtung ist aber durchaus noch ein Abglanz von der Zeit zu erkennen, in der Venedig die Hauptstadt des Luxus und des Überflusses war.

      Immer sind Gassen und Plätze ebenso wie die Piazza voll von Menschen, und in den Zeiten eines großen Besucherandrangs ist da manchmal kaum noch ein Durchkommen, es sei denn, man kennt die verborgen gelegenen Umgehungspfade. Der nämlich, dem die Stadt vertrauter ist und der es wagt, auch einmal von den Trampelpfaden abzuweichen, selbst auf die Gefahr hin, dass er sich verliefe, wird leicht Ecken und Wege finden, wo er ungestört ist und wo ihn die unvergleichliche Ruhe und Stille umgibt, wie sie als Stadt wohl nur Venedig bieten kann. Dabei sollten die Menschenmengen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sestiere von San Marco recht weitgehend entvölkert ist, da durch die exorbitanten Preise für Miete und Kauf von Wohnraum die Gebäude fast nur noch kommerziell genutzt werden können.

      ► Rundgang

      Piazza San Marco – Mercerie – S. Zulian – S. Salvatore – Campo S. Bartolomeo –

      Rialto – Campo Manin – Campo S. Stefano – S. Zobenigo – La Fenice – S. Moisè

      Der hier beschriebene Rundgang weist auf das Wesentliche dieses Stadtteils hin und ist als Anregung für die schönsten Wege gedacht. Doch sei betont, dass sich überall weitere, ähnlich faszinierende Wege öffnen, und es kann gar nicht genug empfohlen werden, sich durch sie verlocken zu lassen.

      Man verlässt die Piazza unter dem Uhrturm und geht durch die Mercerie. Hier lagen die Läden der kleinen Händler, deren Waren am Markusplatz angelandet wurden, und noch heute gehören die Straßen der Mercerie zu den belebtesten und exklusivsten Geschäftsstraßen der Stadt. Gleich nach dem Uhrturm ist links oben an einer Hauswand die Büste einer Frau zu sehen, die mit einem Mörser hantiert. In den Boden darunter ist eine kleine weiße Marmorplatte mit dem Datum „15. Juni 1310“ eingelassen. An diesem Tag wurde ein Staatsstreich versucht, der sich zum Ziel gesetzt hatte, das sich immer stabiler verankernde oligarchisch-republikanische Regierungssystem zu stürzen. Geputscht haben Angehörige des Adels unter der Führung eines Bajamonte Tiepolo (ein Urenkel des Dogen Lorenzo Tiepolo, 1268–75) und seines Schwiegervaters Marco Querini. Es waren aber auch die Familien Badoer, Barozzi, Baseggio, Doro und Orio beteiligt, „allesamt ganz große Namen und alles unzufriedene Nobili, die sich vom Sturz der Regierung gesteigerten Einfluss und persönliche Pfründen versprachen.“ (Lebe) Um das zu erreichen, war eine radikale Veränderung der Verfassung geplant gemäß den „Vorbildern“, wie sie andere italienische Städte bzw. Stadtstaaten zuhauf boten. In dem geplanten Staatswesen sollte Bajamonte Tiepolo künftig als „Tyrann“ herrschen. Der Putsch scheiterte jedoch, weil die Verschwörung verraten worden war, so dass die Machthaber entsprechende Abwehrmaßnahmen vorbereiten konnten. Aus diesem Grunde war es den Aufständischen nicht möglich, die Piazza zu erstürmen, und ihr Vormarsch kam an der Stelle des heutigen Uhrturmes zum Stehen.

      Gewissermaßen den Rest aber gab ihnen eine brave Bürgersfrau mit Namen Giustina (oder Lucia) Rossi. Die hatte mit ihrer Handlungsweise sicher nicht die Erhaltung der Republik im Sinne, sondern war vermutlich eher verärgert über den Lärm, der da vor ihrem Fenster herrschte. Offenbar sehr resolut, drückte sie ihr Missfallen dadurch aus, dass sie einen Mörser aus dem Fenster warf. Der traf ausgerechnet den im Kampfgetümmel hierher abgedrängten Fahnenträger der Rebellen und streckte ihn auf der Stelle nieder – und mit ihm sank das Feldzeichen zu Boden, was die Rebellen veranlasste, die Flucht zu ergreifen. Die Republik hat sich bei der Frau großzügig bedankt. Sie erhielt gemäß ihrem Wunsch das Recht, an Feiertagen die Fahne des hl. Markus an ihrem Balkon aufzuhängen. Außerdem durfte die Miete, die sie für ihren Laden und ihre Wohnung zu zahlen hatte, nicht mehr erhöht werden, was auch für alle ihre Nachkommen galt. Die Republik hat sich an diese Vereinbarung bis zu ihrem Ende gehalten und die Jahresmiete bis 1797 auf 15 Dukaten festgeschrieben.

      Am Ende der Gasse biegt diese nach rechts ab und führt nach ein paar Metern auf den kleinen Campo San Zulian, an dem die gleichnamige

      ► Kirche S. Giuliano (S. Zulian)

      liegt, deren mächtige Fassade der ravennatische Arzt und Humanist Tommaso Rangone finanziert hat. Sie wurde nach Plänen von Sansovino in den Jahren 1553–55 errichtet. Rangone ließ sich in der Fassade mit Sansovinos qualitätvoller Sitzstatue ein Denkmal errichten, das in edler Bronze ausgeführt ist und ursprünglich vergoldet war. Die Figur ist im Gestus antiker Philosophen über ihrem Sarkophag aufgestellt, ein Denkmaltypus, auf den auch Päpste für ihre Grabmäler zurückgegriffen haben (z. B. Urban VIII. in St. Peter, Rom). Es war das erste Mal, dass die Republik einer Privatperson erlaubte, sich in einer Kirchenfassade ein Denkmal zu errichten.

      Dieser Mann Tommaso Rangone, dem es mittels zahlreicher Gesuche und großer Spenden gelungen war, eine solche Genehmigung zu erreichen, war eine in jeder Beziehung schillernde Persönlichkeit, auch was sein berufliches Spektrum anbetrifft, denn er war Arzt, Humanist und Astrologe. Zu Rangones Arztberuf meint Kretschmayr etwas spitz, die Medizin dieser Zeit habe sich „nur allzusehr in der Mitte zwischen Wissenschaft und Scharlatanerie“ bewegt, „und vielleicht hat sie gerade deshalb ihre seit 1515 zu einem Kollegium zusammengefassten Leute so gut ernährt wie jenen Gio­vanni da Ravenna, genannt ‚il Rangone‘, der sich von Sansovino ein Denkmal setzen lassen konnte“ und dessen Portraitstatue im Übrigen zum „Vorbild für unzählige Nachfolgerinnen“ wurde. Dabei hatte Rangone noch deutlich hochfahrendere Vorstellungen für seine Verewigung, da er ursprünglich bestrebt war, sich ein Standbild errichten zu lassen, nicht irgendwo, sondern auf der Piazza selbst und zwar vor San Geminiano. Erst ein Veto der Aufsichtsbehörde bereitete diesen Plänen ein Ende. Doch sein Standbild in einer Kirchenfassade war ihm noch nicht genug. Denn als er 1562 Vorsteher der Scuola Grande di San Marco wurde, beantragte er, auch in der Fassade dieser scuola ein Denkmal für sich errichten zu dürfen, was jedoch abgelehnt wurde. Auch später noch tat Rangone wirklich alles, was in seiner Macht stand, um „unsterblich“ zu werden. So hat er, uralt geworden, seine Funeralien bis ins kleinste Detail arrangiert. Da gab es dann einen pompösen Trauerzug, und zwar nicht direkt von der Piazza, an der er wohnte, nach San Zulian, sondern auf weiten Wegen durch die ganze Stadt. Die Glocken jeder Kirche, an denen der Sarg vorbeikam, läuteten und die Priester traten aus ihren Kirchen mit Kreuz und Weihwasser heraus, um ihn zu segnen. Sein Grab erhielt er, wie er es gewünscht hatte, im Chor von San Zulian.

      Fassade: Diese hat zwei Stockwerke, die von einem Dreiecksgiebel mit zentraler Serliana überfangen werden. Vertikal ist sie in drei Abschnitte unterteilt. Das Untergeschoss gliedern kraftvoll zwei kannelierte Freisäulen zu Seiten des Portals, über dem die Statue Rangones auf dem Sarkophag sitzt. Die Gliederung im Obergeschoss erfolgt in analoger Weise, jedoch durch Pilaster. Das Innere