Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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offizielle Führungslinie weist über einen längeren schmalen Gang zur Seufzerbrücke und von dort in die Prigioni und anschließend wieder auf den Korridor, in dessen rechter Ecke eine Treppe in den kleinen Hof neben der Gigantentreppe führt, in den Cortile dei Senatori. Von dort verlässt man den Dogenpalast durch den Arco Foscari, um durch die Porta della Carta auf die Piazzetta zu gelangen.

      Erwähnt sei noch, dass heute im Erdgeschoss des Süd- und Westflügels, im Museo dell’Opera, diejenigen Originale der Architekturteile des Dogenpalastes untergebracht sind, die 1876 abgenommen und durch Kopien ersetzt wurden, so z. B. zahlreiche Säulen und Kapitelle.

      ► Der Glockenturm

      Der Porta della Carta, dem früheren Zugang zum Dogenpalast unmittelbar gegenüber ragt der Campanile in den Himmel, der mit 95 Metern höchste Kirchturm der Stadt. „Freistehend wie die meisten Glockentürme der Stadt und wie diese der Kirche und dem Platz gemeinsam dienend, ist der Campanile der ‚Herr des Hauses‘ („el paròn de caxa“), wie ihn die Venezianer treffend bezeichnen, Wahrzeichen der Stadt und Symbol des Gemeinsamen schlechthin. Er verkörperte für die Venezianer nicht nur den Ort des Wohnens als Heimat, sondern auch den Blick auf die Weite des Meeres und stellt die Richtung allen Strebens, das sich irdischer Grenzen bewusst bleibt, nach oben nämlich, unerschütterlich fest.“ (Hubala).

      Geschichte: Der Legende nach wurde mit seiner Errichtung 912 begonnen, und zwar am Sankt Markus-Tag, dem 25. April. Erste Fundamente stammen schon aus dem 9. Jahrhundert, über denen sich ein mächtiger Ziegelbau erhob. Dieser wurde im 12. Jahrhundert erhöht, erhielt 1156–72 ein erstes Klangarkadengeschoss und im 15. Jahrhundert ein weiteres. Nach 1500 kam der Pyramidenhelm dazu. Bekrönt wurde das Ganze 1517 mit der drei Meter hohen, mit Goldblech verkleideten Holzfigur des Erzengels Gabriels, die sich frei im Winde dreht. Während der Kriege gegen die Genuesen im 14. Jahrhundert waren fünf Kanonen in der Glockenstube aufgestellt. Gleich nach der Vollendung des Bauwerks hatte man die Turmspitze mit vergoldetem Messing überzogen. Das war zwar recht praktisch für die Schifffahrt, die sich bis weit aufs Meer hinaus an diesem Leuchtzeichen orientieren konnte, doch schlug der Blitz so häufig ein, dass das Blech schließlich durch eine Außenfläche aus farbigen Steinen ersetzt werden musste. Dadurch wurden die Blitzeinschläge zwar seltener, führten aber auch weiterhin zu erheblichen Schäden. So wurde im Jahre 1745 die Engelsstatue getroffen, so dass sie auf die Buden stürzte, die den campanile an dessen Fuß umgaben. Im Jahre 1776 wurde erstmals ein Blitzableiter angebracht, der conduttore elettrico. Bis 1537 stand der Glockenturm im Verbund mit dem Vorgängerbau der heutigen Neuen Procuratien. Erst als Sansovino anfing, die Libreria zu errichten, hat er die südliche Front der Piazza zurückgenommen und dadurch den Turm freigestellt.

      Die mehrfachen Erhöhungen des Turms hatten wohl dessen Statik ungünstig beeinflusst, außerdem hatte man irgendwann einmal Bauteile im Inneren des unteren Turmabschnittes beseitigt. All das führte letztlich dazu, dass der Turm am 14. Juli 1902 einstürzte. Die Statue des Erzengels Gabriel rollte vor das Hauptportal der Basilika „come portato da una forza superiore“, was als gutes Omen dafür angesehen wurde, dass der Kirche selbst nichts geschehen werde. Als einzige der Glocken blieb die Marangona erhalten. Von ihr erzählt man sich, dass sie aus Metall von höchster Qualität gegossen worden war und dass sie mit Sicherheit eine der ältesten Glocken auf dieser Erde sei. 1204 sei sie aus Konstantinopel nach Venedig gebracht worden, und schon die zeitgenössischen Dokumente sprechen von einem uralten Instrument, dessen Guss auf das 4. bis 6. Jahrhundert zurückgehen könne. Sie läutet jetzt um 12 Uhr und – als einzige der Stadt – um 24 Uhr.

      Marangon ist die venezianische Bezeichnung für falegname, was „Zimmermann, Schreiner“ bedeutet. Aus den Trümmern des Campanile wurden auch sechs Hemden geborgen, die am Tag vor dem Einsturz noch gebügelt worden waren und sich in einem so gut wie unberührten Zustand befanden. Diese Hemden wurden beim Festbankett anlässlich der Einweihung des neuen Turmes (am 25. April 1912, auf den Tag genau tausend Jahre nach der ersten Grundsteinlegung) von sechs Gästen getragen. Außerdem hatte ein alter Mann eine wunderschöne Schale aus Muranoglas aus den Trümmern gezogen und aufbewahrt, die völlig unbeschädigt geblieben war. Am Tag der Einweihung durfte er die Schale mit einem köstlichen Wein füllen und dann den Inhalt des Glases auf die Erde gießen, somit einen Ritus vollziehen, der an Opferszenen der Antike erinnert. Das Glas wird heute im Museo Vetrario auf Murano aufbewahrt und gilt als ein kostbares Symbol für die unsterbliche Seele Venedigs.

      Nach dem crollo, dem Einsturz, beschloss der Magistrat der Stadt umgehend die Rekonstruktion des Turms: „com’era dov’era – wie er war und wo er war“ sollte er wieder errichtet werden. Schon im Jahre 1885 hatte der Ausgräber des Forum Romanum, Giacomo Boni, das Fundament des Turms untersucht und dabei festgestellt, dass es noch völlig intakt war. Überraschend war damals, dass das Fundament „nicht tiefer als etwa 28 Fuß war“ (Varè), also bei einer Turmhöhe von 320 Fuß nur etwas mehr als neun Meter. „Er entdeckte sieben Lagen Steine, auf die das folgte, was er ein ‚zatterone‘ aus Holz nannte, eine Art Floß, und schließlich Pfeiler wie bei einem vorgeschichtlichen Pfahlbau, ... wohingegen die lokale Legende davon sprach, dass das Fundament viel tiefer hinunterreichte und sich dann unter dem Pflaster der Piazza nach allen Seiten wie ein Stern ausbreitete.“

      Der campanile wurde zwar „wo er war“ wieder aufgebaut, zum Teil wurde auch das alte Material wieder verwendet. Jedoch wurde die Form des Turmes etwas verändert, sie wurde kompakter und massiger, was sich ohne weiteres bei einem Vergleich mit Darstellungen auf älteren Gemälden erkennen lässt.

      Exakt, wie die Venezianer sind, haben sie über Gewichte und verwendete Materialien genau Buch geführt. So beträgt das Gewicht des Turmes 8.900 Tonnen ohne, 12.970 Tonnen mit Fundament. Verwendet wurden 1.530 Kubikmeter istrischer Kalkstein neben den alten Blöcken, 1.204.000 Ziegelsteine, 11.860 Doppelzentner Zement, 39,38 Tonnen Metall für die Armierung des Stahlbetons, 6,23 Tonnen Eisen für die Glockenstube und die Aufhängung der Glocken und 4,5 Tonnen Kupfer für das Dach.

      Trotzdem schwingt sich der massive Mauerbau mit erstaunlicher Leichtigkeit empor. Seine Wandflächen sind nur durch lange Lisenen gegliedert und durch vereinzelte weiß gefasste Fensterchen unterbrochen. Dieser Eindruck der Leichtigkeit wird durch das blendende Weiß der Glockenstube verstärkt, über der sich der Helm förmlich im Licht des Himmels auflöst, so dass der Erzengel Gabriel auf der Turmspitze zu schweben scheint. Der Ausblick von der Glockenstube über Stadt und Lagune auf die Adria auf der einen, bis hin zu den Dolomiten, die bei gutem Wetter deutlich zu sehen sind, auf der anderen Seite, gehört zu den stärksten Eindrücken, die die Stadt vermitteln kann. „Es war um Mittag und heller Sonnenschein, dass ich ohne Perspektiv Nähen und Fernen genau erkennen konnte. Die Flut bedeckte die Lagunen, und als ich den Blick nach dem sogenannten Lido wandte ... sah ich zum ersten Mal das Meer und einige Segel darauf...“, schreibt Goethe in seiner „Italienischen Reise“. Galilei benützte den großen Glockenturm als Plattform für seine astronomischen Studien und entdeckte von hier aus am 21. August 1609 die Trabanten des Jupiter.

      Früher war der Turm von Holzbuden umgeben, in denen auch Weinhändler ihre Verkaufsstände hatten. Die Bezeichnung ombra (ein wichtiges Wort in Venedig!), die für ein kleines Glas Wein oder eine ähnliche Menge eines anderen alkoholischen Getränkes steht, kommt vermutlich daher, dass die Weinhändler mit ihren Ständen im Schatten des Turms mitgewandert sind, um ihre Getränke möglichst kühl zu halten – „andare al ombra“ in der ursprünglichen Bedeutung des Ausdrucks, der heute eher eine kleine Kneipentour bedeutet.

      Zu Füßen des campanile liegt feingliedrig und elegant die Hauptwache, die Loggetta. Sie steht in einer langen italienischen Bautradition: „Offene Bogenhallen auf Pfeilern oder Säulen, wo sich die Vornehmen treffen und Geschäfte besprechen, finden sich in allen oberitalienischen Städten und stellen ein antikes Fossil in mittelalterlicher oder neuerer architektonischer Gestaltung dar, lagen gewöhnlich an Platz- oder Straßenecken und sind auch für den Markusplatz seit dem 14. Jahrhundert bezeugt.“ (Hubala). Die Loggetta, die möglicherweise einen Vorgängerbau hatte, wurde 1537–40 von Jacopo Sansovino errichtet, während der Vorbau mit der Balustrade erst später entstand und das Bronzegitter 1733–35 hinzukam. Architektonischer Grundgedanke des Bauwerkes ist der des antiken Triumphbogens. Er wurde hier mit drei gleich hohen und gleich weiten Bögen gestaltet, denen Säulen vorgestellt wurden, die wiederum