Название | Der Wünscheerfüller |
---|---|
Автор произведения | Achim Albrecht |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783942672221 |
Ich war kein Arzt und ich war unersetzbar. Ich schnitt und kerbte und alles war eine riesige Sauerei. Fast wäre mir bei dem Versuch schlecht geworden, den Mittelfinger aus seiner Position zu schälen. Ich muss ganz klar sagen, das Versagen lag auf meiner Seite. Das Messer tat, was es konnte und gemeinsam schafften wir es dann.
Der Finger sah in seiner blutenden Losgelöstheit unschuldiger aus, als ich vermutet hatte. Er war dick, kräftig und kurz mit spatenförmigen Fingernägeln und einer pelzartigen Behaarung. Er würde so bald keine verbotenen Spiele mehr spielen, die seinen Herrn in Verlegenheit und dessen Frau in Verzweiflung stürzen würde. Alles in allem eine vielleicht alttestamentarisch drakonisch erscheinende Maßnahme und doch ein zukunftsweisender Fingerzeig, der dem Sünder Platz für tätige Reue ließ. Sie sagen, dass ich unnütz und geschwollen daherrede? Sie haben recht. Mir war kotzübel und das Blut schoss aus der zerfransten Wunde, als habe es all sein Leben auf diese Fluchtmöglichkeit gewartet. Ich schlang das gesamte in Streifen zerrissene Betttuch mit Nachdruck um Wunde, die übrigen Finger und Hand, bis ich einen unförmigen Wäscheklumpen vor mir hatte, der begann, zähes Blut in Stößen auszuschwitzen, obwohl ich ein Fläschchen blutstillende Tinktur über die ganze Masse ausgekippt hatte.
Auch wenn ich ein kompletter medizinischer Laie war, hatte ich mir doch das Kapitel über Reflexbeziehungen zwischen bestimmten Nervenbahnen und Muskelsträngen angeschaut und wunderte mich daher über die Metamorphose des Nikolaus nicht. Sie können mir sicher nicht verdenken, dass ich recht wenig auf sein Wohlbefinden geachtet hatte, während ich versuchte, ihn möglichst schonend von seinem übeltäterischen Mittelfinger zu befreien. Ich muss halb auf dem Mann gekniet haben und es grenzt an ein Wunder, das wir nicht mit dem Stuhl zur Seite gekippt waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich nach Benedikt stank, nach seinem widerwärtigen Schweiß, seinem ordinären Parfüm und Resten erkalteter Schokolade. Um mit dem Unangenehmsten anzufangen – ich stank objektiv gesehen nach seinem Urin, denn als sein Widerstand erschlaffte, tat dies auch seine Blase. Soviel zu den Reflexbeziehungen unseres Körpers. Ich veranschlagte einen großzügigen Betrag aus seiner Börse für die Reinigungskosten meiner Kleidung.
Ansonsten hing er verdreht und schlaff in seinem Kostüm. Alles, was vom Hals aus abwärts an nackter, bewaldeter Haut zu sehen war, erschien unnatürlich bleich, während die Kopfpartie in einem Rotstich glühte, der vermuten ließ, die letzten Blutreserven hätten sich ohne Rücksicht auf die Gesetzmäßigkeiten des Kreislaufsystems in ein hoch gelegenes Depot geflüchtet, um dort Asyl zu beantragen. Ich nahm an, dass über diese Art der Ohnmacht auch etwas im Praxislexikon zu finden war. Das richtige Stichwort wäre „Tod durch Herzinfarkt“ gewesen.
Es war ruhig im Zimmer und jeder zufällige Zuhörer unseres kleinen Hörspiels musste annehmen, dass die Akteure nach dem Erreichen diverser Höhepunkte nun in eine Phase der erschöpften Abkühlung übergegangen waren. Im Prinzip hatten sie recht, denn das Einzige, was mir noch zu tun verblieb, erledigte ich mit Akribie und ohne die Verhinderungstaktiken des ausgeknockten Nikolaus. Mit Nadel und Faden konnte ich recht gut umgehen, wenn man bedenkt, dass ich mir schon seit Jahren Knöpfe an Hemden annähte, weil meine Mutter die meiste Zeit zwar willens, aber außerstande war, derartige Dienstleistungen zu erbringen. Ihre Qualitäten lagen eindeutig im erotischen Nahkampf.
Zugegeben, der abgetrennte Mittelfinger baumelte vom Ballen der anderen Hand, als ob er nicht dazugehöre. Anatomisch gesehen tat er es auch nicht. Als mahnende Nachricht erfüllte er seinen Zweck. Es war schwierig genug, das glitschige, unansehnliche Ding mit einer Serie von Stichen einigermaßen zu befestigen. Ich erspare Ihnen besser die Details meiner Fehlversuche und weise nur pauschal darauf hin, dass das Vernähen einer Wunde augenscheinlich wesentlich einfacher zu bewerkstelligen ist, als das Annähen eines Fingers an eine Stelle, die auf ein solches Vorhaben nicht vorbereitet ist.
Danach räumte ich auf und verstaute meine Utensilien. Die Maske konnte ich gefahrlos abnehmen, denn Goldlocke und Schokopenis hatten auf der Zielgeraden versagt. Ein bisschen Schwund ist immer. Herzinfarkt und Ersticken. Welch eine Kombination. Tröstlich, dass sie beide gemeinsam gegangen waren. Ich hatte Durst auf eine Fanta und brauchte ein Bad. Der Nebel hatte sich gelichtet. Ich benutzte den Notausgang und beschloss ein Stück zu laufen, um abzukühlen.
Die Top-Schlagzeile des nächsten Tages lautete: „Die sechs Finger des Nikolaus“.
VIII.
Wissen Sie, was mit Ihnen nicht stimmt? Ich verrate es Ihnen. Sie sind einfach zu perfektionistisch, was die Ergebniserwartung anbetrifft.
Was Sie propagieren, ist eine Philosophie des Zauderns. Das übertriebene Nachdenken und Verharren ist der Vetter der Trägheit und die Vorstufe des Müßiggangs, der sich gerne in sehnsüchtigen Konjunktiven wie „hätte“, „müsste“ und „könnte“ artikuliert. Attribute der gewollten, aber niemals vollzogenen Veränderung führen zu einem fühlbaren Knirschen im Weltgefüge und letztendlich zu einem Stillstand, der die Räder des Fortschritts blockiert. Man kann diese Dinge in jedem halbwegs gelungenen Deutsch- und Geschichtsunterricht lernen, wenn man Ohren hat zu hören.
Wer erschauert nicht angesichts des Verderben bringenden Zauderrhythmus des K., den Kafka seine „dauerhaft gezauderten Wege“ in seinen Labyrinthen nehmen lässt? Zu welcher Elendsgestalt wandelt sich der selbstherrliche Wallenstein in dem Drama Schillers, als er sich um die Wende des 18. Jahrhunderts in ein Knäuel verschiedener Handlungsmöglichkeiten verstrickt sieht und das Zögern zur Maxime seines Handelns macht? Warum zögert in der Orestie des Aischylos der tragische Held, bevor er seine Mutter Klytaimnestra ersticht, obwohl er von der Notwendigkeit seines Tuns überzeugt ist?
Hat der Limbo-Zustand zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ irgendetwas Gutes hervorgebracht außer dem törichten Lob, dass tiefe Denker methodisch zaudern, weil sie die negativen Folgen einer Affekthandlung abwehren wollen? In der ganzen Diskussion um Abwägung und Verhältnismäßigkeit wollen wir doch nicht vergessen, dass es die beherzten Macher sind, denen die Durchbrüche gelingen, die die Welt in Atem und am Laufen halten.
Genau das hatte ich aus uneigennützigen Motiven getan. Die öffentliche Meinung war auf meiner Seite. Das ein oder andere bigotte Blatt rief zwar halbherzig dazu auf, der Perversion, wie sie ihrer Meinung nach in der Absteige geschehen war, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, aber die Mehrzahl der Medien schnürten aus der homoerotischen Skandalgeschichte eine spannungsgeladene und mysteriöse Fortsetzungsstory mit nachgestellten Bildern und aufgeputschten Details. Ein besonders engagiertes Boulevardblatt hatte die Witwe des Fleischers überredet, ihr die Exklusivrechte an dem Hintergrundmaterial ihrer Ehe zu überlassen und veröffentlichte in loser Folge Fotos des verstorbenen Benedikt im Kommunionsanzug und als Messer schwingender Metzger, Aufnahmen einer mehr als traditionell begangenen Hochzeit in weißem Kleid, Spangenschuhen, voll hochfliegender Hoffnungen und düster illustrierte Familiengeheimnisse, deren Bedeutung im Halbdunkel blieben.
Die Umsätze der Messerindustrie zogen augenblicklich an und die Schwulenvereinigung rief zu einem Protestmarsch gegen Diskriminierung auf, der von den Linken unterstützt wurde. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen und vermutete persönliche Motive hinter der bizarren Tat. Goldlocke hieß in Wirklichkeit Stefan und entstammte einer einflussreichen Industriellenfamilie, die für Hinweise, wer ihren Sohn entführt und in hilfloser Lage in einem zweifelhaften Etablissement erstickt hatte, eine stattliche Belohnung ausgesetzt hatte. Nach der Lesart seiner Familie war ihr Sohn ein drogen- und skandalfreier junger Mann mit vielversprechenden Talenten und einer ganz und gar heterosexuellen Neigung, die er schon früh durch eine Verlobung mit einer untadeligen Elevin aus besseren Kreisen unter Beweis stellte. Der Betreiber des „Palais d’Amour“ wurde von Goldlockes Familie für die erlittenen Unbilden und dafür entschädigt, dass er bestätigte, den tragisch ums Leben gekommenen Sohn niemals zuvor gesehen zu haben. Im Überschwang der Gefühle fügte er ungefragt gerne hinzu, dass der junge Mann mitnichten schwul gewesen sein könne, so als ob er aus gefesselten nackten Leichen den