Bleierne Schatten. Erik Eriksson

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Название Bleierne Schatten
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895522



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Verner war gezwungen gewesen, bei der Polizei aufzuhören, als bekannt wurde, dass er gewalttätig gegenüber Tatverdächtigen geworden war, die allesamt Frauen misshandelt hatten. Er kündigte von sich aus; es kam nicht zu einer Anklage.

      Die folgenden Jahre waren die schwersten in Verners Leben. Er verlor den Halt, begann zu trinken, wurde depres-siv und bekam starke Medikamente verordnet, war lange krankgeschrieben. Der Wendepunkt kam im Herbst 2000, als er im Zusammenhang mit einem Mord in Älvsjö als möglicher Täter verdächtigt wurde.

      Zu dieser Zeit brach er mit seinem destruktiven Leben. Er traf Margret Mattson von der Bezirkskriminalpolizei und half ihr, den Fall zu lösen. Verners Mithilfe wurde geheim gehalten, auch wenn Margrets Chef mehr begriff, als er zugeben wollte.

      Verner hörte auf zu trinken, während Lasse weitermachte und sich sein Umgang bald auf eine kleine Schar von Frührentnern beschränkte, die in kleinen Wohnungen im Viertel zwischen Bondegata und Kocksgata auf Söder wohnten. Manchmal sahen sie sich zusammen eins von Hammarbys Heimspielen an. Und manchmal tranken sie ein Bier im Kvarnen. Aber meistens saßen sie bei Lasse und tranken – es war recht gemütlich in seiner großen Küche.

      Lasse und Verner hatten sich fünf Jahre lang nicht gesehen. Verner wusste es wirklich zu schätzen, dass Lasse angerufen hatte, aber er schämte sich ein wenig, dass er selbst in all den Jahren nicht von sich hatte hören lassen. Nun hatte er das sehr starke Gefühl, dass es eilig sei.

      Das war am Donnerstag, dem 24. Januar 2002. Gegen sieben Uhr hörte es auf zu schneien.

      Verner las den ganzen Abend über, bis nach Mitternacht. Er las ein Buch zu Ende, das er für zwanzig Kronen aus einer Wühlkiste auf dem Flohmarkt in Skärholmen gekauft hatte, Frank Hurleys Buch über Shackletons Expedition zum Südpol. Das Buch roch nach altem Staub, duftete nach Abenteuer. Verner merkte nicht, wie die Stunden vergingen; er wurde ergriffen von den trockenen, heroischen Texten, tauchte ein in die Nebel auf den alten Fotografien, war selbst einer der Männer im Packeis, einer der Steuermänner auf der unglaublichen Segelfahrt über das Weddell-Meer.

      Einige Stunden lang befand er sich in einer gefährlichen, aber unkomplizierten Welt, mit ständiger tödlicher Bedrohung und einer unbeirrbaren Kameradschaft zwischen den Männern. Einer gefrorenen Welt ohne Frauen.

      Am Freitag um halb eins ging Verner zum Bahnhof Älvsjö, um den Pendelzug in die Stadt zu nehmen. Er hatte frei, wollte in die City fahren, in den Geschäften herumlaufen und nach einem Pullover suchen, vielleicht ein paar ausländische Zeitungen in der Stadtbibliothek lesen.

      Als der Zug am Bahnsteig hielt, stieg gleichzeitig mit Verner ein junges Mädchen ein. Sie trug eine kurze, schwarze Jacke und eine enge, schwarze Hose. An einem Riemen über der Schulter hatte sie eine kleine Tasche. Ihr Haar war rotbraun und kurz.

      Das Mädchen schaute Verner nicht an. Er sah sie und dachte flüchtig, dass es vermutlich kalt sein müsse in der eng anliegenden Kleidung und mit nacktem Bauch. Aber er hatte keinen Anlass, sich für das fremde Mädchen zu interessieren, und setzte sich im Wagen mit dem Rücken zu ihr.

      1 Die 1975 in Kurdistan geborene Fadime Sahindal, die mit ihrer Familie in Uppsala lebte, wurde 2002 von ihrem Vater getötet, weil sie sich weigerte, in eine von ihrer Familie arrangierte Hochzeit mit ihrem türkischen Cousin einzuwilligen. Dieser sogenannte Ehrenmord löste in Schweden eine große gesellschaftliche Debatte aus und ist bis heute Synonym für Verbrechen dieser Art. [Anm. d. Übers.]

      3.

      Sara nahm einen Briefbogen. Sie schrieb mit stark rückwärts geneigter Handschrift: Meine Tochter Sara musste nach dem Mittagessen nach Hause gehen und sich hinlegen, weil sie sehr starke Magenschmerzen hatte.

      Das war nicht gut; sie schrieb es noch einmal und fügte hinzu: Mit freundlichen Grüßen, Christina Larsson. Das war der Name ihrer Mutter.

      Sie zerknüllte das Blatt mit dem missglückten Versuch, faltete den anderen Bogen zusammen und steckte ihn in die Handtasche. Dann ging sie. Es war halb acht am Montag. Ihre Mutter hatte Nachtwache im Krankenhaus Huddinge gehabt und würde bald nach Hause kommen, ins Bett gehen und noch schlafen, wenn Sara aus der Schule kam.

      Wenn Sara sich überhaupt die Mühe machte, nach Hause zu fahren. Vielleicht würde sie wieder bei Hanna schlafen.

      Sie rief Hanna vormittags während der Pause an. Hanna war zu Hause; doch, das würde schon gehen, meinte sie. Sie hatten zwei Stunden Kunst und sprachen über Fotografie. Sara hatte sich für den Kunstzweig entschieden, als sie in die siebte Klasse kam; jetzt ging sie in die achte und fand immer noch, dass die Kunststunden die einzigen waren, die Spaß machten.

      Vor dem Mittagessen gab sie die Entschuldigung bei ihrer Klassenlehrerin ab, die sie las und nickte und sagte, dass sie hoffte, dass es Sara nun wieder gut gehe.

      »Ich glaube schon«, sagte Sara.

      »Willst du zur Schulschwester gehen?«, fragte die Lehrerin.

      »Nein, es ist wieder in Ordnung.«

      »Bestimmt?«

      »Absolut.«

      Hanna saß im Wohnzimmer und las, als Sara kam. Sie stand auf, ging in die Diele und umarmte Sara. Die Schwestern umarmten sich immer. Manchmal machte ihre Mutter es auch so, aber meist nur, wenn es ihr richtig gut ging, wenn sie nicht gestresst war und ein paar freie Tage hatte, was nicht oft vorkam.

      »Willst du irgendwas haben?«, fragte Hanna.

      »Ja, was Warmes«, sagte Sara.

      »Soll ich Kakao machen?«

      »Ja, gerne.«

      »Und ich habe superleckere Zimtschnecken. Ich war bei NK, in der Konditorei im Untergeschoss. Bist du mal dagewesen?«

      »Nein, gehst du zu NK

      »Ich war mit jemandem da, der dort etwas kaufen wollte.«

      »Mit wem denn?«

      »Jemand, den ich bei der Arbeit getroffen habe.«

      »Ein Mann?«

      »Ja, das kann man sagen.«

      Sie waren in die Küche gegangen. Hanna machte den Kakao. Sara setzte sich an den kleinen Tisch vor dem Fenster.

      »Papa hat angerufen«, sagte Hanna.

      »Was wollte er?«

      »Ich weiß nicht, vielleicht wollte er einfach nur reden. Ruft er dich nie an, Sara?«

      »Wozu sollte ich mit ihm reden?«

      »Kannst du dich überhaupt an irgendwas erinnern?

      Du warst ja noch so klein; du warst erst drei, oder?«

      »Ich kann mich an ein Mal erinnern, als Mama und Papa stritten und Mama Angst bekam.«

      »Ja, so ging es die ganze Zeit. Hat Mama nie was erzählt?«

      »Nein, sie hat nie was gesagt.«

      Sara wollte ihre Schwester fragen, wie es ihr ging, ließ es dann aber bleiben. Sie tranken den Kakao und aßen die herrlich klebrigen Schnecken von NK. Hanna machte Musik an, Come along von Titiyo, und es war warm und gemütlich, und Sara dachte, dass sie auch gerne so leben würde, mit einer eigenen Wohnung und einer guten Arbeit, ohne nörgelnde Erwachsene und widerliche alte Kerle.

      Es war fünf Uhr und schon dunkel draußen.

      Eine Viertelstunde später klingelte Hannas Handy das erste Mal. Sie waren ins Wohnzimmer gegangen. Das Handy lag im Regal versteckt. Es war ihr zweites Handy, das von ihrer Arbeit.

      Hanna stand auf, nahm das Handy und ging zurück in die Küche, während sie das Gespräch entgegennahm. Sara sollte es wohl eigentlich nicht mitbekommen, meinte aber zu hören, dass Hanna sich nicht mit ihrem eigenen Namen meldete.

      Shirley, hatte sie das gesagt?

      Hanna blieb eine Weile in der Küche. Als sie zurückkam,