Bleierne Schatten. Erik Eriksson

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Название Bleierne Schatten
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895522



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Kamera lag in einer Kommodenschublade. Sie war von Olympus und nicht größer als eine Zigarettenschachtel. Ein kleines klappbares Tischstativ gehörte dazu. Sara hatte die Kamera schon mehrmals benutzt und kannte sich mit den Knöpfen aus.

      Jetzt öffnete sie die Abdeckung vor dem Objektiv, hob die Kamera, schaute hindurch, ging auf der Suche nach Motiven im Zimmer umher, blickte aus dem Fenster und hinein in eine Wohnung des Hauses auf der anderen Straßenseite. Im Fenster stand eine Frau, mit dem Rücken Sara zugewandt. Sie fuchtelte mit den Händen; vielleicht sprach sie mit jemandem im Zimmer.

      Sara holte das Stativ, schraubte es fest, stellte die Kamera auf den Tisch und setzte sich in den Sessel. Sie wollte ein Foto von sich selbst machen.

      Aber irgendetwas fehlte.

      Sie suchte nach einem Notizblock, riss drei Seiten heraus, holte den Lippenstift, den sie bei Åhléns mitgehen lassen hatte, und schrieb auf jedes Blatt einen großen Buchstaben: I C H.

      Dann legte sie die Blätter vor sich auf den Glastisch, kontrollierte den Bildausschnitt im Sucher, drückte auf den Selbstauslöser der Kamera und setzte sich eilig in den Sessel.

      In diesem Moment hörte sie, dass jemand einen Schlüssel in das Schloss der Wohnungstür steckte.

      2.

      Die schwarzen Wolken kamen ganz plötzlich. Gegen Mittag lag eine dicke Schneedecke auf den Straßen und Bürgersteigen von Älvsjö.

      Am Morgen war es vier Grad warm gewesen, die Sonne hatte hervorgeschaut und sich in der Fassade der Messehalle gespiegelt. Eine halbe Stunde lang badeten die abgetauten Straßen um das Zentrum von Älvsjö herum in einem trügerischen Licht, das weiß war und nicht zu dieser Jahreszeit gehörte.

      Dann kam der Schnee. Verner Lindgren war mit ein paar Lebensmitteln in einer Einkaufstasche auf dem Heimweg vom Konsum. Er ging ohne Kopfbedeckung, in Jackett und dünnen Schuhen. Jetzt beeilte er sich nach Hause zu kommen, lief das letzte Stück zum Törnrosväg, über den Wendeplatz und in den Hauseingang hinein.

      Er machte die Deckenleuchte an. Das Unwetter nahm zu, es wurde dunkel. Es war doch noch nicht Frühling geworden; nun war es wieder kalt, Matschwinter und Dunkelheit.

      Verner setzte Kaffeewasser auf, schlug Dagens Nyheter auf und las die Überschriften über den Mord an Fadime1. Das Wasser fing an zu kochen. Verner stand über den Tisch gebeugt, las weiter und ließ das Wasser eine Weile brodeln, bevor er in die Kochecke ging und den Kessel vom Herd nahm.

      Er dachte an das, was er gelesen hatte, und fühlte sich ruhelos und irritiert, beschloss jedoch, seine Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Er konnte diese Gefühle beherrschen, inzwischen konnte er das, beinahe jedenfalls.

      Es war halb eins. Verner schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und machte das Radio an. Der erste Beitrag der Nachrichtensendung handelte von Fadime, von der Trauer, dem Zorn und der Machtlosigkeit.

      Er hörte zu, trank seinen Kaffee, schmierte sich ein Butterbrot, trank langsam, kaute langsam und war zufrieden mit sich, weil er es schaffte, Schlucke und Bisse zu kontrollieren, während er gleichzeitig der brutalen Wahrheit über den Tod einer jungen Frau ausgesetzt war.

      Der Wetterbericht nach den Nachrichten kündigte weiteren Schnee an, mehr Kälte, glatte Straßen und stürmischen Wind.

      Verner aß noch ein Butterbrot.

      Um halb zwei war er mit der Zeitung fertig. Er genoss seine tägliche Zeitung, die er nach Hause bekam. Früher hatte er kein Abonnement gehabt. Jetzt las er sie meistens morgens in Eile, bevor er zu einem seiner wechselnden Jobs ging.

      In dieser Woche hielt er Vorträge vor jungen Männern und Frauen, die eine Ausbildung als Wachpersonal machten. Verner hatte aus seinen Jahren als Polizist Kenntnisse und Erfahrungen, die er nun mit anderen teilte; er hielt Seminare über die Beurteilung von Verbrechen und die Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen ab, berichtete über Fälle, Irrtümer und Erfolge.

      Aber er erzählte nie von sich selbst. Er sprach über Fälle, die er kannte, von denen er gehört oder gelesen hatte. Er nahm an, dass das Unternehmen, das sein Honorar bezahlte, nicht wusste, warum er aufgehört hatte als Polizist zu arbeiten. Oder sie wussten es, und es war ihnen egal.

      Es war kurz nach vier, als das Telefon klingelte. Verner war im Badezimmer. Der Wasserhahn lief, sodass er das Klingeln zunächst nicht hörte. Dann eilte er ins Wohnzimmer und meldete sich mit seinem Nachnamen. Eine unbekannte Stimme murmelte etwas.

      Verner wiederholte seinen Namen und klang dabei leicht verärgert.

      »Bist du es, Verner?«, fragte der Unbekannte.

      »Ja, ich bin’s«, antwortete Verner, und nun klang er noch ärgerlicher.

      »Hier ist Lasse.«

      »Ach ja?«

      »Erkennst du mich nicht?«

      »Nein.«

      »Lasse, verdammt nochmal, Lasse Gunnar Bergman.«

      Verner musste nachdenken. Er wusste, wer Lasse Bergman war, aber die Stimme erkannte er nicht. Der Mann, mit dem er sprach, klang angestrengt und heiser, die Stimme war etwas zischend.

      »Lasse?«, sagte Verner nach einigen Sekunden der Stille.

      »Genau.«

      »Das ist ja lange her; ich habe tatsächlich in letzter Zeit ein paar Mal daran gedacht, dich anzurufen. Hättest du nicht angerufen, dann hätte ich mich wohl dieser Tage gemeldet.«

      »Ja, siehst du, Verner, die Leute sind alle gleich, wir denken ganz einfach gleich.«

      »Wie geht es dir?«

      »Tja, eher bescheiden. Ich hatte eine Halsoperation.«

      »Ich dachte schon, dass du dich anders anhörst.«

      »Eine Weile ging es mir gar nicht gut, aber jetzt bin ich auf dem Wege der Besserung.«

      »Wohnst du noch auf Söder?«

      »Ja klar, in der Bondegata, an derselben Stelle. Ich bin heute nicht mehr so beweglich.«

      »Wir können uns aber doch treffen?«

      »Ja klar, das wollte ich vorschlagen.«

      »Von alten Zeiten sprechen.«

      »Genau, Verner, wir haben viel zu bereden.«

      »Wollen wir eine Zeit ausmachen?«

      »Ich melde mich nochmal deswegen. Ich habe nächste Woche einen Termin im Krankenhaus; danach werde ich hoffentlich wieder gesund. Ich rufe an, wenn ich das erledigt habe, in ein paar Wochen.«

      »Okay, Lasse, aber vergiss es nicht.«

      »In dem Fall musst du mich anrufen, Verner.«

      »Unbedingt, ich verspreche es.«

      Als das Gespräch vorbei war, blieb Verner eine Weile am Tisch sitzen und versuchte sich zu erinnern, wann er Lasse Bergman das letzte Mal getroffen hatte.

      War es vor fünf Jahren?

      War es in demselben Jahr, als er bei der Polizei aufgehört hatte?

      Nein, es war im Jahr davor. Verner hatte Lasse aufgesucht, um ihm einige Fragen zu einer Untersuchung zu stellen, die in Verbindung mit einem alten Fall aus den siebziger Jahren stand, als Lasse als Researcher beim Fernsehen beschäftigt war. Er hatte für Nils Lövgren gearbeitet, der damals Reporter beim Wochenmagazin Fokus war. Nils und Verner kannten sich. So freundeten auch Lasse und Verner sich an.

      Sie tauschten Informationen über Untersuchungen und Verbrechen aus, trafen sich dann und wann, und nur Nils Lövgren wusste von ihrer Zusammenarbeit. Es wurde als eher unpassend betrachtet, dass Polizisten und Fernsehjournalisten einander halfen.

      So vergingen einige Jahre. Verner hielt den Kontakt mit Lasse und Nils aufrecht. Sie sahen sich gelegentlich,