Kahlbergs Talfahrt. Joe Wentrup

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Название Kahlbergs Talfahrt
Автор произведения Joe Wentrup
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369693



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gestellt und nie zugelassen, dass er etwas Disziplin mit auf seinen ach so eigenen Weg bekam.

      Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinen Erinnerungen.

      »Es ist Zeit reinzugehen, die Sonne geht bald unter.«

      »Sie geht noch lange nicht unter«, antwortete er trotzig und fügte mit rauer, matter Stimme hinzu: »Nur in diesem engen Tal, da ist sie bald fort.«

      Die Hand glitt von seiner Schulter und löste die Feststellbremse des Rollstuhls, ohne dafür seine Einwilligung erhalten zu haben. Er hörte das Knistern von Stoff, spürte die Wärme des sich vorbeugenden Körpers. Wieder stieg ein weiblicher Geruch in seine Nase, diesmal muffig und vermengt mit einer Spur Schweiß. Roh und unparfümiert, war es der einer Frau, die schon lange kein Begehren mehr verspürt noch erfahren hatte.

      Der Rollstuhl wurde auf der eigenen Achse gedreht, das Geländer vor den Knien des Alten und das Tal dahinter schwenkten aus seinem Blickfeld und vor ihm erschien die weit geöffnete Terrassentür mit ihren weißen Kassettenfenstern. Die Drehung endete, dann trat die Frau vor ihn. Sie war kräftig, in mittleren Jahren und mit schmalen Hüften. Immer trug sie Weiß, obwohl er schon mehrmals angedeutet hatte, es vorzuziehen, sie in Alltagskleidung um sich zu haben. Aber sie bestand darauf, dass man sähe, weshalb sie sich in seiner Nähe aufhielt. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit«, pflegte sie zu sagen.

      Sie hielt ihm einen Becher mit Tabletten und ein Glas Wasser hin. »Heute sind es ein paar mehr«, meinte sie, ohne dafür jedoch ein mitfühlendes Lächeln aufzubringen.

      Er nahm den Becher ohne Widerspruch, kippte sich den Inhalt wie einen Schnaps hinunter, griff dann nach dem Glas und spülte mit dem Wasser nach. Er spürte die Tabletten wie eine sperrige Prozession miniaturisierter Gürteltiere seine Speiseröhre hinabwandern. Trotzdem wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab, als hätte er soeben einen nahrhaften Bissen zu sich genommen.

      Mit unverhohlenem Missfallen musterte er seine Pflegeschwester, die davon gänzlich unbeeindruckt, stur und gleichgültig zurückstarrte. Er zuckte schwach mit den Schultern.

      »Schieben Sie mich hinein, Agata, und geben Sie mir die Fernbedienung, mal schauen, was in den Nachrichten kommt.«

      KAPITEL VIER

      Warum nur hatte Ted ihn hierherbestellt. Nicht sein Anliegen beschäftigte Kahlberg in diesem Moment, sondern das Lokal. Anscheinend wollte Ted ihm zeigen, dass man auch hier auf der Höhe der Zeit lebte. Kahlberg allerdings hätte einer urigen Landspelunke den Vorzug gegeben, mit rotgesichtigen Bauern und einfachen Gesprächen, die durch den musikfreien Schankraum schollen. Aber es lag ihm fern, sich zu beschweren. Dafür war er nicht hierhergekommen.

      Er trank den Rest seines Bieres aus. Als er dessen schalen Geschmack wahrnahm, wurde ihm bewusst, wie die Zeit vergangen war. Der immer gleiche wummernde Sound aus der Konserve hatte ihn eingelullt wie ein Sonnenuntergang auf Ibiza nach einem durchtanzten Wochenende.

      Der Mann mit dem schmalen Schnäuzer war in der Zwischenzeit von einem kurzen Toilettenbesuch zurückgekehrt, hatte einen kleinen Geldschein auf die Theke gelegt und das Lokal verlassen, ohne auf das Wechselgeld zu warten. Zweifellos ein Snob, den es an den falschen Ort verschlagen hatte.

      Wie Kahlberg nun so allein im Club saß, begann er darüber nachzusinnen, ob er Teds offensichtliche Verdauungsprobleme mit einer Zigarette überbrücken oder sich doch lieber das dritte Bier bestellen sollte.

      Schließlich entschied er sich für keine der beiden Optionen und stand auf, um nach dem Rechten zu sehen. Ted war einfach schon zu lange fort.

      Die Toiletten befanden sich im Keller, eine schmale Treppe führte hinab, geradewegs auf ein aus Flusskiesel und Wurzelholz drapiertes Gebilde zu, das wohl irgendwie spirituell und Zen sein sollte. Kahlberg erblickte sich im darüber angebrachten Spiegel und zweifelte daran, ob er jenes Stillleben bereicherte. Überhaupt überließ er das Betrachten seines Äußeren lieber dem Rest der Welt.

      Als er die Herrentoilette betrat, schien sie leer zu sein.

      »Ted?«, rief Kahlberg in die Stille.

      Er lauschte in den zwielichtigen Raum hinein. Nichts. Eine nach der anderen öffnete er die Toilettentüren, aber die Kabinen boten nur den Anblick reinlicher, unberührter Leere in Erwartung eines lebhaften Wochenendes.

      Er machte kehrt und durchquerte erneut den Flur in Richtung Treppe, als er eine Tür bemerkte, an der er zuvor achtlos vorübergegangen war. Sie war nicht verschlossen. Er öffnete sie, näherte den Kopf dem lichtlosen Spalt und hörte ein kaum vernehmbares Rascheln.

      »Ted, bist du hier?«

      Kahlbergs Hand ertastete den Lichtschalter. Mit einem Klick war der Raum erleuchtet.

      Ted saß auf einem abgewetzten, dunkelgrünen Kunstledersofa, auf dessen Rückenlehne ein gerahmtes Poster der Beatles stand. An den Wänden befanden sich Regale, vollgestopft mit Geschirr, ausgedienten Dekorationen und sonstigem Ramsch. Von der Decke hing eine britische Flagge, wohl ein Relikt vom letzten Themenabend.

      Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Fotograf durch seine verrutschte Brille zu Kahlberg. Eine Hand hatte er an den Hals gelegt, seine Lippen bewegten sich wortlos.

      »Was ist los mit dir?«, fragte Kahlberg noch bevor er das Blut sah, das zwischen Teds Fingern in einem pulsierenden Schwall hervorströmte.

      Mit einem Satz war er bei ihm und presste seine Hand ebenfalls auf die Wunde, die sich erschreckend feucht und tief anfühlte, ein professionell gezogener Schnitt. Mit der anderen Hand holte er sein Telefon hervor und wählte den Notruf, während er, zur Treppe gewandt, lauthals »Hilfe!« brüllte. »Hilfe, verdammt noch mal!«

      Endlich meldete sich eine Jungmännerstimme am anderen Ende der Leitung und bat um die genaue Adresse, welche ihm Kahlberg nicht nennen konnte, nur den Namen des Clubs und seine ungefähre Lage auf der Hauptstraße; die Stimme fragte erneut nach der exakten Hausnummer und Kahlberg brüllte ins Telefon: »Fick dich, hier stirbt jemand!« Endlich schien Bewegung in den Typen der Notrufannahme zu kommen. Das Blut unter Kahlbergs Hand quoll weniger, pochte weniger, während Ted ihn mit großen, glasigen Augen anblickte, die seiner eigenen Hinrichtung beiwohnten, die er nicht fotografieren würde noch irgendjemand sonst; eine sinnlose Hinrichtung an einem verschissenen Wintersportort im Sommer.

      Die Bedienung erschien in der Tür, ihr entwich ein entsetzter Schrei, bevor sie beide Hände vor den Mund schlug, zurückstolperte und auf den ihr gefolgten Kollegen prallte, der ebenfalls vor Schreck erstarrte, bis Kahlberg beide mit sich überschlagender Stimme auf die Straße vor den Club scheuchte, damit sie dem Krankenwagen ein Zeichen geben konnten.

      Plötzlich löste Ted seine Hand vom Hals und streckte sie mühsam aus. Sie leuchtete grotesk rot, wie ein inneres Organ, das zu einer Extremität mutiert war. Schwerfällig versuchte Ted, mit dem daran haftenden Blut etwas auf die Lehne des Sofas zu schreiben. Doch die gewölbte Fläche und die dunkle, alles Licht verschluckende Farbe machten es unmöglich.

      »Warte!«, sagte Kahlberg hastig. Er nahm das gerahmte Poster der Beatles mit seiner freien Hand, ohne die andere von der pochenden Wunde zu nehmen, und legte es auf Teds Schoß.

      Der hob mühsam seine Hand und ließ auf der Unterlage ein krakeliges »M« entstehen, wie ein unbeholfenes, verstörtes Kind, das mit Fingerfarben malt. Dann folgte eine aufsteigende Linie, die seine ganze Kraft beanspruchte und von deren Gipfel sein Finger erschöpft hinabrutschte, als hätten ihn seine Kräfte verlassen. Doch mit letzter Anstrengung zeichnete er einen Querstrich durch die beiden entstandenen Linien und es entstand ein »A«. Er versuchte erneut, seine Hand zu bewegen, die heftig zu zittern begann, bis sein ganzer Körper von einem Krampfanfall geschüttelt wurde. Dann versagten seine Muskeln ihren Dienst. Die Hand sackte schlaff herab, Ted starrte ausdruckslos durch die offene Tür des Abstellraums auf die weißen Kacheln des Toilettenflurs. Die klaffende Wunde unter Kahlbergs Hand hatte aufgehört zu pochen.

      »Ted!«, schrie Kahlberg. »Halt durch, Ted!«

      Doch er wusste, Ted Jones war tot.

      Sein Blick fiel auf die mit