Название | Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! |
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Автор произведения | Tim Renner |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871087 |
Kurz darauf sah Philips davon ab, den Plattenfirmen Lizenzen für die Nutzung des CD-Patentes zu berechnen. Stattdessen wurden von allen Presswerken (die meist den Muttergesellschaften gehörten und diese Gebühr als Bestandteil der Fertigungspreise einfach aufschlugen) 3 US-Cent pro Disc eingeholt. Gleichzeitig pendelte sich der Preis für eine CD fast 100 Prozent über dem einer LP ein. Nun begann die Skepsis der Musikmanager zu weichen.
Während die CD rasend schnell vom Spielzeug für Klassik-Snobs zum Spielzeug für Rock-Snobs, also zum Musikalltag von Millionen wurde, begann die Musikindustrie mit wachsender Begeisterung, ihre zuvor ängstlich geschützten Master in digitaler Form ans Volk zu verteilen.
Das Paradies – erschaffen durch Emile Berliner und Fred Gaisberg
Ich kam gerade rechtzeitig zum 100. Geburtstag der Schallplatte in den PolyGram-Konzern. 1987 wurden Emil Berliner und seine Erfindung gefeiert. Wir bekamen einen Ersttagsbrief mit den Jubiläumsbriefmarken der Deutschen Bundespost und eine Festschrift geschenkt. In der konnten wir nachlesen, dass Emil mit 14 die Schule abgebrochen hatte, um dann mit 19 Jahren vor dem preußischen Wehrdienst nach Amerika zu fliehen. Die Lektüre eines physikalischen und meteorologischen Lehrbuchs des Freiburger Professors Johannes Müller brachte Emile – um amerikanischer zu erscheinen, hatte er mittlerweile ein »e« an seinen Vornamen gehängt – dazu, sich mit elektronischen und akustischen Phänomenen zu beschäftigen. Die Begeisterung dürfte durch Nachbarstochter Cora gesteigert worden sein. Berliner, der seine Brötchen eigentlich als Buchhalter verdiente, musste für seine akustischen Experimente nach Feierabend auch Strippen durch die Zimmer ihrer Familie ziehen. Die geduldigen Adlers von nebenan ließen ihn gewähren und schließlich ihre Tochter heiraten. Ergebnis der hormongetriebenen Forschung war die Erfindung des Telefonmikrofons. Das Patent verkaufte er Alexander Graham Bell und ermöglichte diesem die Massenproduktion des Telefonapparats. Seinen Brüdern Joseph und Jacob baute er daheim in Hannover eine eigene Fabrik. Mit Telekommunikation verdienten die Berliners 20.000 Mark Startkapital, um im Jahr 1892 die Grammophon Gesellschaft zu gründen.
Thomas Alva Edison hatte derweil den Phonographen erfunden, um Stimmen aufzuzeichnen. Einige Hundert Exemplare tourten ab 1877 über die amerikanischen Jahrmärkte und versetzten das Volk in Staunen. Edison selbst hatte längst das Interesse verloren und wendete sich der Erfindung der Glühbirne zu. Emil Berliner hingegen setzte statt auf das Büro und die Tonaufzeichnung fürs Diktat lieber auf den Hausgebrauch. Sein 1887 zum Patent angemeldetes Grammophon verwendete anstelle von Walzen leicht austauschbare Platten und war deutlich billiger zu produzieren.
Das »Vaterunser«, gesprochen vom Straßenhändler John O’Terrel, hieß der erste Bestseller. Dieser Hit war geplant, die Technik hingegen noch nicht ganz ausgereift und Berliners Kalkül, dass das Vaterunser jedermann mitsprechen könne und deshalb die Aussetzer auf der Platte nicht so sehr stören würden, ging auf. Die Software diente lediglich als Mittel zum Verkauf der Ware Grammophon. Das Niveau der ersten Schallplatten war deshalb eher niedrig und das Image der Hardware litt darunter. Im Volksmund hieß das Grammophon plötzlich »des Spießers Wunderhorn«. Um das zu ändern, brauchte es den ersten künstlerischen Leiter, also den Urvater aller späteren Artist & Repertoire Manager, den die junge Grammophone-Gesellschaft sich leistete.
Er hieß Fred Gaisberg und kam als 21-Jähriger von der Columbia Phonograph. Die Firma war von einem ehemaligen Gerichts- und Kongress-Stenographen gegründet worden. Das sagte viel darüber aus, worum es ihr bei der neuen Aufnahmetechnik eigentlich ging. Gaisberg versuchte sich als Pianist auf ersten, eher lustlos wirkenden Musikaufnahmen, stieß aber bei Columbia Phonograph auf wenig Interesse. So zog er es vor, fasziniert von den neuen Möglichkeiten des Grammophons, bei Emil Berliner erst einmal die Tontechnik zu erlernen. Der junge Musiker erlangte schnell dessen Vertrauen und wurde 1898 nach London geschickt, wo er die Grammophone Company Ltd. anmeldete und das erste Tonstudio aufbaute. Die räumliche Trennung hatte einen guten Grund. Berliner wusste, dass er auf dem europäischen Kontinent nicht auf Dauer ausschließlich mit amerikanischem Repertoire reüssieren konnte. Gaisberg hatte ihn sogar davon überzeugt, dass sie Aufnahmen von authentischen Künstlern aus allen Ländern bräuchten, in denen sie seine Erfindung auf den Markt bringen wollten. Musik, die von einer Scheibe wie der Schallplatte kam, war schon abstrakt genug – wenigstens die Interpreten und ihre Lieder sollten den ersten Konsumenten Vertrautes vermitteln. So zog Gaisberg von London aus quer über den europäischen Kontinent, durch Russland, Indien bis in den Fernen Osten. Er nahm Heurigenlieder in Wien, Fandangos in Madrid, Chansons in Paris, Tablas in Hyderabad, Pipamusik in Shanghai und Opernarien in Berlin und Leipzig auf.
Immer nach Talent und Repertoire suchend, kam er 1902 selbstverständlich auch in die legendäre Mailänder Scala. Dort war ein junger, bislang wenig bekannter Tenor namens Caruso in einer Inszenierung der Oper Germania zu sehen. Fred Gaisberg war hingerissen, eine solche Stimme war selbst ihm noch nicht untergekommen. Er bot dem jungen Mann nach seinem Auftritt hinter der Bühne enthusiastisch gleich mehrere Schallplattenaufnahmen an. Doch Enrico Caruso war ein selbstbewusster Künstler und schätzte, obwohl er erst am Anfang der Karriere stand, seinen Wert durchaus richtig ein. 100 englische Pfund für zehn kurze Arien forderte er. Eine unglaubliche Summe für die damalige Zeit und für ein Format, das sich noch in der Markteinführung befand. Gaisberg versuchte, sich im Mutterhaus rückzuversichern, bekam aber eine deutliche Abfuhr gekabelt. Wie viel Apparate man wohl mehr verkaufen würde, wenn dieser Caruso und nicht irgendein anderer italienischer Viehhirte oder Fischer in den Aufnahmetrichter singen würde ...
Fred Gaisberg war zu stolz und zu überzeugt, um sich auf diese Diskussion einzulassen. Kurz entschlossen bezahlte er Caruso aus eigener Tasche. In nur zwei Stunden sang dieser ihm alles ein. Besonders die Arie E lucevan le stelle aus Puccinis Tosca sorgte für Furore, und das nicht nur in Italien. Der Intendant der Metropolitan Opera in New York bekam eine Aufnahme in die Hand und engagierte Enrico Caruso vom Fleck weg. Die erste musikalische Weltkarriere begann und mit ihr setzte die Schallplatte zum Quantensprung an. Sie emanzipierte sich vom Abspielgerät, wurde plötzlich in den Zeitungen und den besseren Kreisen als Kulturträger entdeckt und geachtet. Zu verdanken hat sie das dem unbeirrbaren Glauben einer einzelnen Persönlichkeit, seinem Glauben an Regionalität und Qualität.
Joseph und Jacob Berliner, die für ihren Bruder die Platten in einem Kuhstall neben ihrer Telefonfabrik pressten, wussten gar nicht, wie ihnen geschah. Nach Caruso boomte der Markt. Ein neues Presswerk musste her, um den Bedarf an den aus England von Fred Gaisberg angelieferten Aufnahmen zu decken. 1907 wurden in Hannover bereits 36.000 Exemplare am Tag gepresst. Auch in Amerika zog mit etwas Verspätung der Markt an, aber dafür dann umso kräftiger. Die junge Schallplattenindustrie wurde in den frühen zwanziger Jahren der größte Player im amerikanischen Entertainment-Business. 1921 wurden bereits für 106 Millionen US-Dollar Tonträger umgesetzt. Der scheinbar so mächtige Film kam im Vergleich auf nur 93 Millionen.
Die Freude währte nicht lange. Ohne dass es die im Expansionstaumel befindliche Industrie gemerkt hätte, wurde in Amerika eine Technik entwickelt, die es dem Konsumenten ermöglichte, Musik zu konsumieren, ohne dafür zu bezahlen. Das Teufelsding hieß Radio. Es war, wie später das Internet, ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt worden, und ab 1922 mit zwei großen Netzwerken, der Radio Corporation of America (RCA) und dem Columbia Broadcasting System (CBS) plötzlich in jedem Haushalt zu empfangen. CBS wurde von einem Künstlermanager und Konzertveranstalter, einem verkrachten, ehemaligen Violinisten namens Sarnoff Judson gegründet, weil er Angst hatte, dass durch Radiokonzerte das Livegeschäft leiden würde. Das tat es nicht, dafür aber umso mehr die Schallplattenindustrie, die nicht so entschlossen wie Judson handelte. Durch die Weltwirtschaftskrise geriet sie weiter unter Druck und ging in den frühen dreißiger Jahren in die Knie: Nur noch 6 Millionen US-Dollar – 5,7 Prozent von der Herrlichkeit zwölf Jahre zuvor – betrug der Umsatz mit Tonträgern in den USA im Jahr 1933.
Die Radiokonzerne RCA und Erzrivale CBS schluckten ab 1934 fast vollständig den traurigen Rest. Einerseits geschah das als strategisches Investment, andererseits weil die Schallplattenfirmen gerade so günstig zu haben waren. Irgendwoher mussten schließlich auch die Aufnahmen von den Künstlern kommen, die man senden