Название | Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! |
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Автор произведения | Tim Renner |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871087 |
Die neue Technik machte das Geschäft mit der Musik auch für die Hardwarehersteller wieder attraktiv. Siemens hatte bereits während des Krieges die Deutsche Grammophon in Hannover erworben, Philips stieg 1950 mit der Phonogram ein, kaufte amerikanische Labels wie die Mercury hinzu und fusionierte dieses Bouquet zusammen mit der Siemens-Tochter Deutsche Grammophon und deren Pop-Label Polydor 1972 zur PolyGram, der größten Plattenfirma der Welt. Das war zuvor lange Zeit die Electric and Musical Industries Ltd., kurz EMI, gewesen, eine Vereinigung aus dem englischen, von Fred Gaisberg kontrollierten Arm der Grammophone und der Columbia Phonograph, seinem früheren Arbeitgeber. EMI verstand sich, wie ihr Name schon sagte, ursprünglich als Mischunternehmen, verkaufte aber 1954 zur Konsolidierung die Grammophon- und Radioproduktion an den Konsumartikel- und Waffenfabrikanten Thorn, der 25 Jahre später auch die restliche EMI erwarb. Die Decca, das Wunderkind der Rezession, fand bei Telefunken unter dem verkoppelten Namen Teldec eine neue Heimat.
Bei CBS dachte man vertikaler. Neben Fernsehen, Radio und Schallplatten gab es auch einen Musikinstrumente-Sektor (die Firma fertigte zum Beispiel die legendären Fender Gitarren und Steinway Flügel), HiFi-Geräte und eine eigene Handelskette. Mitte der sechziger Jahre war es kaum möglich, in den USA mehr als ein paar Dollar für Musik auszugeben, ohne dass CBS davon profitiert hätte. Damals machten die Schallplatten noch 15 Prozent des Konzernumsatzes aus, 1972 war es dann schon die Hälfte. Dieser maßgebliche Anteil relativierte sich wieder, nachdem CBS für 2 Milliarden US-Dollar von Sony geschluckt worden war. Sony war zuvor im Videobereich mit dem Beta-System und im Audio-Segment mit der DAT-Kassette am fehlenden Einfluss auf die Inhalte gescheitert – trotz überlegener Technik, aber eben ohne Mehrheit an einem Content-Unternehmen. Diese frustrierenden Erfahrungen sollten durch den Kauf von CBS in Zukunft ausgeschlossen werden.
Vertikale Integration scheint für die Musikindustrie eigentlich immer nur zu bedeuten, dass sie sich integrieren lässt, sobald eine technische Innovation durchzusetzen ist. Auch in Zeiten gewaltiger Umsätze und Renditen, ob in den zwanziger, sechziger, siebziger oder neunziger Jahren, unternahm sie selbst nie einen ernsthaften Anlauf, den Spieß umzudrehen, die Geräte und Kanäle offensiv an sich zu binden und somit Entwicklungen selbst moderieren zu können. Es scheint, als würde sich die Innovationskraft der Musikfirmen in der Konzentration auf den Inhalt erschöpfen. Als gesellschaftlicher Treiber agieren die Künstler und ihre Inhalte. Als Firmen werden sie weiterhin getrieben – von technologischen Neuerungen.
Aber selbst dort, wo das integrierte Denken leichter fällt, weil es auch um Inhalte geht, sind es meist Dritte, die agieren. Die Warner nimmt als Filmgesellschaft über ihren Musikarm ab 1958 zunächst die Nebenrechte selbst wahr und wächst dann mit dem Kauf von Atlantic und Elektra zur weltumspannenden WEA. Bei Bertelsmann erweitert man das Buchclubangebot 1956 konsequent um die Schallplatte, da diese – Vinyl sei Dank – nun endlich ohne Schäden versandt werden kann. Erst gründet man 1958 die Ariola, dann wird zwecks Internationalisierung erst Arista (1979) und schließlich die große RCA (1985) gekauft.
Das Paradies – beschützt von Ahmed und Nesuhi Ertegun
1986, als ich bei der Philips-Tochter PolyGram begann, war keine große Schallplattenfirma wirklich noch ihr eigener Herr. Aber dafür befand sie sich auch nicht direkt im Schussfeld von Anlegern oder Besitzern. Ihre Produkte stützten jeweils eine übergeordnete Firmenstrategie und leisteten insofern auch jenseits der direkt erwirtschafteten Rendite einen Beitrag.
Besorgniserregend war hingegen die zunehmende Konzentration. Mit nur fünf wirklich marktbestimmenden Anbietern (Teldec geht wenig später in der Warner Music auf) sind nach all den Fusionen und Aufkäufen über die Jahre ziemlich gewaltige, internationale Gebilde entstanden. Mit Tochterunternehmen in allen wichtigen Territorien, Tausenden Mitarbeitern, mit zig Unter-Labels und zahllosen Künstlerverträgen haben die Bertelsmann Music Group, EMI, Sony, PolyGram (später die Universal) und Warner Apparate geschaffen, die als Folge ihrer schieren Masse Kreativität eher zu erdrücken drohen als sie zu fördern. Nur starke Persönlichkeiten, die diesen Systemen Identität und Halt geben, können das abfedern und so strukturieren, dass weder Künstler noch Mitarbeiter Schaden nehmen. Zu ihnen zählen klassische Musikunternehmensführer wie Ahmed Ertegun, der Atlantic-Gründer, Clive Davis, der als CBS-Präsident, später als Arista-Chef zum Prototyp des Talent-Scouts und -Förderers wurde, und Siggi Loch, der Warner Deutschland aufgebaut hat.
Als Ahmed Ertegun 1947 vom New Yorker Ritz aus aufbrach, um die Welt der schwarzen Musik, der so genannten »race music« zu erkunden, war das ein ungeheuerliches Unterfangen. Seine Künstler hätten im Bus für ihn aufstehen und ihren Sitzplatz freigeben müssen, sonst wären sie festgenommen worden – so wie Rosa Parks acht Jahre später in Montgomery. Rassentrennung war seit dem Spruch »separate but equal« des Obersten Gerichtshofs von 1894 in den USA Gesetz, Martin Luther King zu diesem Zeitpunkt noch ein einfacher Priester und der friedliche Widerstand gegen die amerikanische Form der Apartheid begann gerade erst, als Idee in den Köpfen einiger weniger zu entstehen.
Der junge, verwöhnte Sohn des türkischen Botschafters ließ das beste Hotel der Stadt hinter sich und überschritt nördlich der 125sten Straße die Grenze zu einer für das weiße Amerika unbekannten Welt. Doch in Harlem gab es die aufregendsten Jazzclubs, hier feierte man den Rhythm & Blues (R&B). Hier hörte Ahmed Ertegun so viel heiße Musik wie nie zuvor. Er kam immer wieder und fasste den Entschluss, den Rest Amerikas nach Harlem mitzunehmen. Er wollte aufnehmen, was er hörte, es auf Platten pressen und der weißen Mittelschicht verkaufen. Harlem wäre dann plötzlich in jedermanns Wohnzimmer.
Ertegun war viersprachig aufgewachsen, hatte sich auf Privatschulen in der Schweiz, in Paris, London und Washington den letzten Schliff geholt, hatte Kierkegaard gelesen und die besten Weine getrunken