Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!. Tim Renner

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Название Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!
Автор произведения Tim Renner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783862871087



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Musikmagazins NME (New Musical Express).

      Pop braucht Kapital, aber noch mehr braucht es Massenmedien, die natürlich wiederum nur aufgrund von Kapitaleinsatz existieren und gemäß Kapitallogik funktionieren. Die Medien bekamen wir für Element of Crime, zumindest was die Presse anging, – weil John Cale und Derek Ridgers nach großer, weiter Welt rochen und die Platte »Try To Be Mensch« dennoch so schön nach nebenan klang. Die Inszenierung für die Medien ist im Pop fester Bestandteil des Werks. Massenmedien sind sein Transportmittel direkt in den Alltag des Betrachters, Lesers, Hörers hinein. Am besten geschieht das ohne Vorwarnung. Als Song im Taxi, Text in der Tageszeitung oder Bild im TV, das dich kalt erwischt und bewegt. Nicht selten wird das Medium dabei selbst zum Pop. Pop funktioniert dann perfekt, wenn durch das Alltägliche der Alltag beeinflusst wird. Pop misst seinen Erfolg daran, in welcher Tiefe, welcher Breite dies gelingt. Das hat maßgeblich mit der Häufigkeit und Intensität zu tun, mit der das Werk den Konsumenten erreicht.

      Das offensive und ehrliche Verhältnis zu Massenmedien und Kapital macht Pop aber auch so furchtbar verletzlich, wenn auf der anderen Seite die Verantwortung des Künstlers und der ihn umgebenden Managementstrukturen nicht mehr wahrgenommen wird. Management bedeutet im besten Sinne Moderation, bedeutet, im Interesse beider Seiten anzubremsen, wenn Inhalt durch Kapital und/oder Medium bedroht wird. Denn Inhaltsleere zerstört auf Dauer nicht nur unsere Gesellschaft, sondern auch das Geschäft. Wie soll man einen Konsumenten dazu bringen, für etwas Geld auszugeben, wenn es doch scheinbar um nichts mehr geht? Wenn die Wertschöpfung allein schon der Wert ist, darf sich niemand wundern, wenn die Charts nur noch eine Karaoke-Bar sind. Gute Karaoke-Sänger sind sicher nette Nachbarn oder Arbeitskollegen, aber eben keine Popstars. Innovation gehört nicht zum Programm von Casting-Shows. Doch eine Kultur, die sich nicht erneuert, nivelliert sich irgendwann. Pop führt somit gerade eindrucksvoll vor, wie man sich selbst abschaffen kann, wenn auf Dauer die Inhalte fehlen.

      Nach genau diesen Inhalten jedoch sucht der Konsument, um sich selbst zu definieren. Er steht nicht mehr auf der vierten Stufe der berühmten »Bedürfnispyramide«, die Verhaltensforscher Abraham Maslow vor mehr als 60 Jahren publizierte. Auf das Bedürfnis nach Nahrung, nach Fortpflanzung und nach Sicherheit folgt dort das nach Gruppenzugehörigkeit. Auf Stufe fünf winkt in sehr entwickelten Gesellschaften die Individualisierung. Man will nicht mehr nur Teil der wärmenden Masse sein, man wendet sich eher vom klassischen Mainstream ab und versucht, Eigenständigkeit zu demonstrieren. Das gelingt in den meisten Fällen nur bedingt. Es führt aber dazu, dass nicht mehr der »ideale« Schwiegersohn oder die tumbe, blonde Sexbombe den neuen Mainstream ausmachen, sondern durchaus eigenwillige Typen, die die Spitzen der jeweiligen Szenen darstellen. Der Konsument dokumentiert seine vermeintliche Eigenständigkeit, indem er sich musikalische Bouquets zusammenstellt: Norah Jones und U2, Shania Twain und Eminem – und natürlich Robbie Williams. Das bedeutet: Jazz und Alternative Rock, Country, Hip-Hop und natürlich Pop; Künstler aus unterschiedlichen Genres, die sich als Stilrichtungen eigentlich widersprechen. Zusammen bilden sie nun eine Plattensammlung, die vor Jahren noch schizoid erschienen wäre, die ich so aber schon oft vorgefunden habe. Alle genannten Interpreten haben ein eigenständiges Profil, kommen authentisch aus ihren jeweiligen Szenen und sie stehen, jeweils auf ihre Art, für Inhalte. Nebenbei bemerkt, sind sie die weltweit erfolgreichsten Pop-Künstler ...

      Die Musikwirtschaft ignorierte lange, dass sich der Konsument in seinem Drang nach Individualität längst selbst einen neuen Mainstream zusammengestellt hat. Gemeint ist damit jedoch nicht mehr die einheitliche Soße, die man klassisch unter Mainstream verstand. Die neue Mischung besteht vielmehr aus den Spitzen der jeweiligen Szenen. Statt aus diesen Szenen die neuen Ikonen aufzubauen, wurde das eigene Bild von Mainstream dagegengesetzt: TV makes the superstar und Bravo-Compilations. Ignoriert die Musikwirtschaft aber dieses Bedürfnis und bringt obendrein der nächste Digitalisierungsschub einen Formatwechsel (wie von der CD zum Internet) mit sich, der auf extreme Weise die Individualität des Konsumenten fördert, dann habe ich ein richtig handfestes Problem. Eines, das die Musikindustrie zu ersticken droht und das in ähnlicher Weise zumindest auf Film und Fernsehen zurollt. Die Musikwirtschaft hat hier die Rolle der Avantgarde, weil ein Popsong die Kunst der kleinen Datenmenge repräsentiert. Doch je mehr sich Datenkompression und Übertragungsgeschwindigkeiten entwickeln, desto eher holt dieses Problem auch andere Medien ein. Diese können aus der Geschichte der Musikindustrie lernen und sollten nicht denselben Fehler begehen und die Warnsignale überhören.

      Auf der ersten internationalen Managementtagung der PolyGram, an der ich als frisch gebackener Geschäftsführer von Motor Music 1994 teilnehmen durfte, gönnte man sich Nicholas Negroponte als Gastredner, den Gründer und Leiter des legendären Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Der Visionär Negroponte, Mitgründer des Magazins Wired, erklärte, wie Datenkompression und Peer-to-Peer-Netzwerke funktionieren würden. Er prognostizierte, dass in zehn Jahren schon die Hälfte aller Musiktitel über das Netz kommen würde. Der Geschäftsführer von A&M Records schlief während des Vortrags ein, andere begannen zu plaudern und in der Pause stand Negroponte ganz alleine da. Als er gegangen war, entschuldigte sich der Chairman bei seinen Mitarbeitern. Das sei natürlich alles Quatsch, der Mensch sei haptisch veranlagt, ein Download würde niemals als Besitz begriffen werden. Zur selben Zeit kauften sich bereits Tausende von Kids Computer-Games für über 100 Mark, schmissen deren Verpackungen weg und nannten einen Game-Icon auf dem Bildschirm ihr Eigen.

      Sowohl Negroponte als auch der PolyGram-Chairman hatten unrecht: Schon sieben Jahre später kamen mehr Titel aus dem Netz, als über die Ladentheke gingen. Das Dumme daran war, dass dies fast ausschließlich über illegale Quellen geschah. Der Konsument hatte eine perfekte Entschuldigung: Die Industrie ließ ihn allein, zu häufig hatte er erleben müssen, dass ihre Inhalte nicht mehr als Blendwerk waren, ein legales Angebot gab es nicht, also konnte er zum Dieb mit gutem Gewissen werden. Als Möchtegern-Robin-Hood streift er durchs Netz, nimmt von den vermeintlich Dummen und Reichen und gibt – sich selbst.

      Und nun stelle man sich vor, wie der gleiche Konsument in naher Zukunft mit Film im Netz, mit Internet- und Handy-Radio, mit TV, über digitale Videorekorder mitgeschnitten, von Werbung befreit und zeitversetzt konsumiert, und selbst mit Büchern bei einer anderen Art von Bildschirmen umgehen wird. Die Konsumenten-Demokratie wird zur Konsumenten-Anarchie, zu einem kurzfristigen, selbstzerstörerischen Bad im kulturellen Überfluss, wenn die Anbieter nicht in Führung gehen, indem sie glaubwürdige Inhalte und legale Strukturen schaffen. Das und vieles mehr kann man von der Geschichte der Musikindustrie lernen. Und wenn man es weiß und sich darauf einstellt, ist der Tod der alten Strukturen und Geschäftsmodelle plötzlich gar nicht mehr so schlimm.

      TEIL EINS:

      Das Alte Testament

      Das Paradies

      Das Paradies – gerettet von Herbert von Karajan und Jan Timmer

      Mein erster Tag am 1. August 1986 bei Polydor als Junior Artist & Repertoire Manager begann damit, dass mir mein zukünftiger Chef mitteilte, heute sei sein letzter. Was für eine sprunghafte Branche, dachte ich, als ich ihm viel Glück auf seinen Wegen wünschte. Ich ging nicht zu Unrecht davon aus, nun ein bisschen unbeobachteter recherchieren zu können. Noch immer wollte ich die schmutzigen Geheimnisse des Musikbusiness aufdecken, indem ich als verdeckter Ermittler arbeitete. Wäre ich aufmerksam genug gewesen, hätte mir auffallen müssen, dass mir schon kurz darauf der Stoff für eine viel gewaltigere Story in den Schoß fiel: Die Geschichte vom Anfang des Endes der Musikindustrie, wie wir sie kannten. Und ich war live dabei.

      Ein dicker Mann mit Halbglatze, der mich stark an den damaligen südafrikanischen Staatspräsidenten Piet Botha erinnerte, stand im Ostseebad Timmendorf auf der Bühne des Golf & Sporthotels. Mir und den meisten anderen Anwesenden ging es schlecht. Der Tag war noch jung und der Abend zuvor ein unglaubliches Kräftemessen mit Schnäpsen und Bier zwischen uns, den Produktmanagern, und dem Außendienst gewesen, welches Letzterer nach Punkten klar für sich entschieden hatte. Auf den nächsten Vertriebstagungen, das schwor ich mir, würde ich, was das Trinken angeht, besser vorbereitet sein. Jetzt sah ich nur Kreise. Sie hatten alle ein Loch in der Mitte und wurden per Overhead-Folien an die Leinwand projiziert. Der große, korpulente Herr, der sich als Jan Timmer, Weltchef der PolyGram, vorgestellt hatte, gab den Dingern Namen. Das eine war eine Daten-CD, die auf Computer-Bildschirmen