Für immer mein. Joe Schlosser

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Название Für immer mein
Автор произведения Joe Schlosser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871049



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beiseite und machte sich ihre ersten Notizen. Dann legte sie auf und drückte die Taste für die Konferenzschaltung an ihrem Telephon. Bei all ihren Mitarbeitern klingelte es nun gleichzeitig mit einem besonderen Ton, der darauf hinwies, dass eine Nachricht erster Priorität auf dem Display abzulesen war. „Einsatz! Sofort Lagebesprechung!“

      Mechthild schnappte sich ihren Notizblock und eilte zum Besprechungszimmer. In Kürze waren alle versammelt, bis auf Heller, der nach dem vermissten Rentner suchte.

      Kurz und knapp gab Mechthild die wenigen Erkenntnisse, die sie bisher hatte, ihren Mitarbeitern bekannt. „Fund einer weiblichen Leiche. Fremdverschulden nicht auszuschließen. Identität unbekannt. Fundort in der Richard-Dunkel-Straße 10a in einer leerstehenden Fabrikhalle. Die Kollegen der Schutzpolizei sind vor Ort. Die Absperrung steht. Zeugen werden vor Ort festgehalten.“

      Sie blickte auf ihre Kollegen. Roder saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, die Arme verschränkt. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Ganz anders bei Ayse Günher. Sie wirkte aufgeregt und voller Einsatzfreude.

      Mechthild Kayser sah kurz auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie schrieb die Zeit auf ihren Block und sann dann über ihre zu treffenden Maßnahmen nach. Gerade Roder brauchte eine klare Ansprache, sonst wurde er bockig. Ayse würde auch ohne ihr Zutun wissen, was im ersten Angriff zu unternehmen sei. Aber Mechthild war die Chefin und hatte hier das Sagen. Sie musste jetzt präzise Aufträge verteilen.

      „Herr Roder, Sie informieren den Erkennungsdienst und fahren beim ED mit. Wir haben nur einen Wagen. Der andere ist mit Heller unterwegs. Informieren Sie auch die Gerichtsmedizin und sorgen Sie dafür, dass die vor Ort erscheinen!“ Dann wandte sie sich Ayse Günher zu. „Du fährst mich! Am Tatort nimmst du dir dann zuerst alle Zeugen vor. Sprich vorher mit den schon eingetroffenen Kräften, ob Personen sich schon entfernt haben und ob Personalien hinterlassen wurden. Frag sie nach Auffälligkeiten!“ Sie überlegte noch einen Moment, und mit einem „Los geht’s!“ hob sie die kurze Lagebesprechung auf.

      Als Mechthild auf dem Innenhof des Polizeihauses in ihren Dienst-Mercedes einstieg, hatte Ayse gerade das mobile Blaulicht mit dem Magnetfuß am Wagendach festgeklickt. Sie fuhr in zügiger Fahrt mit eingeschaltetem Blaulicht von der Buchtstraße links über die Straßenbahnschienen und versuchte so den Weg in die Neustadt abzukürzen. Mechthild hatte währenddessen ihr Funkgerät eingeschaltet und ihre Einsatzfahrt der Zentrale gemeldet. Ayse legte ein rasantes Tempo vor, und obwohl Mechthild wusste, dass ihre Freundin ein Auto wie ein Rallyemeister beherrschen konnte, war es ihr doch etwas zu riskant, so zu brausen.

      „Ayse, bitte etwas langsamer! Wir wollen heil ankommen. Die Leiche kann uns nicht mehr weglaufen!“

      Ayse reduzierte wie befohlen das Tempo und kam trotzdem überraschend gut durch den Verkehr. Sie überquerten die Weser auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke und gelangten in die Friedrich-Ebert-Straße. Dann passierten sie bei roter Ampel vorsichtig die vielbefahrene Neuenlander Straße. Ein innerstädtisches Hinweisschild zeigte nach links in Richtung Flughafen. Rechts ab ging es hier zur Richard-Dunkel-Straße.

      Ayse schaltete das Blaulicht aus. Beide Frauen hielten Ausschau nach Hausnummern an den größtenteils leerstehenden Gebäuden dieser ehemaligen Gewerbeansiedlung. So wie Siemer & Behrendt waren hier auch andere Betriebe weggezogen, und weitere Hallen moderten vor sich hin. Ayse kannte die Gegend. Sie hatte sich im zurückliegenden Herbst von einem Gotcha-Club überreden lassen, auf dieser Industriebrache an einem Häuserkampf teilzunehmen. Das war zwar nicht erlaubt, aber Spaß gemacht hatte es ihr trotzdem. Die vielen bunten Farbkleckse an den Wänden der Hallen zeugten noch davon.

      „10a muss weiter hinten von der Straße weg liegen“, erinnerte Mechthild ihre Fahrerin. Langsam bewegten sie sich weiter vorwärts, und dann sahen sie etwa zweihundert Meter entfernt ein Blaulicht blitzen.

      Ayse bog ab auf einen welligen, asphaltierten Weg, der zu beiden Seiten von Maschendrahtzaun begrenzt wurde. Ein Eingangstor hatte es mal gegeben, aber an den verrosteten Türangeln konnte man erkennen, dass es schon lange fehlte. Sie fuhren an einer ehemals weißen Halle vorüber, deren Putz an vielen Stellen von den Wänden gebrochen war und rote Backsteine zum Vorschein kommen ließ. Scheiben befanden sich nicht mehr in den Fenstern. Der Weg machte jetzt eine Rechtskurve, und sie gelangten auf einen grasüberwucherten Vorplatz, der mal als Parkplatz gedient haben musste. Ein Blechschild auf einem abgebrochenen Balken wies früher einmal den Stellplatz für die Geschäftsleitung aus. Vor der hier befindlichen Halle waren mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei abgestellt. Neben einem geöffneten Rolltor stand ein weißer Lkw mit heruntergelassener Hebebühne.

      Als erstes dirigierte Mechthild Kayser einen Schutzpolizisten an die Straße, um die nachfolgenden Kräfte in die richtige Einfahrt zu weisen.

      Ein uniformierter Polizeihauptkommissar, der bis zu ihrem Eintreffen den Einsatz am Tatort geleitet hatte, erstattete ihr seinen Bericht und fragte, ob er für weitere Unterstützung vor Ort bleiben sollte. Aus Erfahrung wusste Mechthild, dass verfügbare Kräfte nicht so schnell entlassen werden sollten. Wenn man sie nach geraumer Zeit gleich wieder anfordern musste, galt man als unfähig. Sie bat den Polizeihauptkommissar, der sich nun als Leo Jettner vorstellte und stellvertretender Leiter des Neustädter Polizeireviers war, mit seinen Leuten zu bleiben. Dann wollte sie sich den Fundort der Leiche ansehen.

      Zuerst zeigte sie sich sehr verärgert darüber, dass Jettner die Absperrung um den Tatort auf die unmittelbare Umzäunung des Loches im Boden und den darin hängenden Tresen reduziert hatte. Aber nachdem er erklärt hatte, dass hier unmittelbar zuvor über tausend junge Leute gefeiert hatten und auch die Umgebung der Halle mit Dutzenden von Autos befahren worden war, nahm sie ihre Kritik zurück. Sehr zur Freude von Jettner übernahm nun die attraktive Ayse die weiteren Gespräche mit ihm.

      Mechthild Kayser hatte aus dem Kofferraum ihres Mercedes ein Diktiergerät und eine starke Lampe mitgenommen. Als sie in die Halle trat, sprach sie eine kurze Beschreibung der Umgebung auf das Band, hielt den Weg vom Rolltor bis zum Loch im Boden fest und nickte dabei ernst den umstehenden Polizisten und anwesenden Zivilisten zu.

      Sie trat an die Öffnung im Boden und leuchtete hinein. Alles, was sie sah und entdeckte, wurde von ihr verbal auf dem Diktiergerät festgehalten. Der Hohlraum unter dem Boden war mit Brettern und darauf einer dünnen Schicht Estrich verschlossen worden. Die Öffnung war rechteckig, circa 1,30 Meter breit und 2,50 Meter lang. Die Tiefe schätzte Mechthild auf etwas mehr als einen Meter. Am Boden liegend war ein Sack aus transparenter Folie zu erkennen, darin liegend eine bekleidete weibliche Leiche. Nach erstem Eindruck vollständig.

      Mechthild drückte die Stopptaste des Diktiergerätes. Sie ging noch weiter in die Knie und senkte ihren Kopf in die vorhandene Öffnung. Im Schein der Lampe sah sie das Gesicht der toten Frau. Sie hatte blonde Haare und auffällig war − neben ihren aufgerissenen Augen −, dass die Verwesung noch nicht oder nur in geringem Ausmaß eingesetzt hatte. Verwesungsgeruch war nicht wahrnehmbar. Soweit Mechthild das beurteilen konnte, lag die Tote noch nicht lange hier.

      Als KHK Roder mit dem Erkennungsdienst eintraf, richtete sich Mechthild Kayser auf und ging zur Seite. Nun mussten erst einmal die Spezialisten der Spurensicherung ran. Zufrieden registrierte sie, dass auch der leitende Gerichtsmediziner erschienen war.

      Obwohl die Frau im Sack zweifellos tot war, war die Ausstellung eines Totenscheins mit der amtlichen Feststellung des Exitus durch einen Arzt zwingend erforderlich. Häufig waren damit eilig herbeigerufene Hausärzte oder völlig überforderte und unerfahrene Notärzte betraut. Sehr oft kam es vor, dass sie unbedacht vorgingen und wichtige Spuren zerstörten, verfälschten oder neue legten. Oder sie attestierten vorschnell einen natürlichen Tod oder einen tödlich verlaufenden Unfall. Während ihrer Ausbildung hatte Mechthild selber einmal erlebt, wie ein Notarzt einem aufgefundenen Toten in der Alexanderstraße einen Tod durch Treppensturz attestierte und später die Transporteure einer Bestattungsfirma hilfesuchend auf eine Wunde am Hinterkopf hinwiesen, die sich anschließend als Einschussloch herausstellte.

      Aber jetzt war Prof. Dr. von Sülzen da. Der Pathologe und Gerichtsmediziner genoss bei der Bremer Polizei hohes Ansehen, das er sich mit genauesten und intensivsten Untersuchungen von Todesfällen erworben hatte. Zudem war er in keiner Weise abgehoben oder einem Standesdünkel verfallen,