Für immer mein. Joe Schlosser

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Название Für immer mein
Автор произведения Joe Schlosser
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862871049



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Eindrucks der unbekannten Toten fertig. Seine Helfer hatten begonnen, die Frau vorsichtig zu entkleiden und die einzelnen Kleidungsstücke zu archivieren. Roder hatte sich etwas abseits des Seziertisches aufgestellt und beobachtete von Sülzen. Die Frau trug sehr altmodische Unterwäsche und Strumpfhalter, fiel Roder auf. Wie früher seine Mutter, dachte er, die er einmal als Junge beim Ankleiden überrascht hatte.

      Die nackte Leiche wurde jetzt hin- und hergewendet und in jeder Position abgelichtet. Der Rücken der Toten war unversehrt. Lediglich großflächige, dunkle Leichenflecken hatten sich durch das abgesunkene Blut gebildet. Vorne, auf dem Unterbauch, waren mehrere kreisrunde Wunden mit einem Durchmesser von circa einem Zentimeter zu erkennen, die sich durch einen dunklen Wundrand deutlich von der ansonsten hellen Haut abhoben. Die Brüste waren an der Unterseite mit Schnitten in Form eines auf dem Kopf stehenden T aufgeschnitten und die Wundränder anschließend mit weißem Gewebeklebeband wieder zusammengefügt worden.

      KHK Roder steckte sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Jetzt kam der unangenehmste Teil der Obduktion. Während in einigen anderen europäischen Ländern gezielt nur die Teile einer Leiche gerichtsmedizinisch untersucht wurden, deren Relevanz sich aus den davor liegenden Ermittlungen ergeben hatten, gab es in Deutschland nur die Totalobduktion. Die Deutschen waren eben besonders gründlich.

      Von Sülzen sprach seine Ergebnisse, Feststellungen und Vermessungsdaten in das an seinem Kittelkragen befestigte Kehlkopfmikrophon und setzte zum V-Schnitt für die Öffnung des Oberkörpers der Leiche an.

      Roder umgab sich mit einer Wolke aus Zigarettenqualm. Die Ansicht einer Leichenöffnung machte ihm nichts aus, aber er hasste den sich ausbreitenden Geruch. Besonders abstoßend empfand er den Gestank von Wasserleichen. Er hatte zwar noch nie gekotzt, aber wenn sich der Verwesungsgestank auf seine Geschmacksnerven legte, wurden seine Zunge und sein Gaumen trocken, und ein Würgereiz stellte sich ein. Eine instinktive Reaktion, die er nicht mit seinem Willen beherrschen konnte. Es gelang ihm lediglich, sich nicht zu übergeben. Von Sülzen schien das alles nichts auszumachen. Ein bis zwei Stunden würde es jetzt noch dauern. Dann würde Roder so viel Informationen zusammenhaben, dass er seine Kollegen auf den neuesten Stand bringen konnte und sie genügend Ansätze für ihre weitere Ermittlungsarbeit hätten.

      Ab heute wusste Benjamin, dass das Leben für ihn zugleich schön und schrecklich sein würde.

      Sein Vater hatte in den letzten zwei Jahren seinen Betrieb ausgebaut, und gestern Abend waren seine Eltern auf einen Empfang des Wirtschaftsministeriums für mittelständische Unternehmer eingeladen gewesen.

      Die Schlaftabletten nahm er nicht mehr. Seine strikte Weigerung hatte mal wieder eine schlimme Auseinandersetzung mit seiner Mutter nach sich gezogen. Er merkte, dass er immer aggressiver gegen sie wurde, aber statt sich mehr um ihn zu kümmern, drohte sie ihm immer häufiger mit einem Internat. Berta hatte ihm erzählt, wie schlimm und erniedrigend die Verhältnisse dort für ihn sein würden, und da er die Drohung seiner Mutter sehr ernst nahm, versuchte er weitere Konflikte mit ihr zu vermeiden. Das funktionierte zwar, aber er zog sich auch viel stärker in sich zurück, und neben seiner unerfüllten Liebe zu seiner Mutter wuchs das Misstrauen.

      Berta war vergangene Nacht unbemerkt in sein Zimmer gekommen, und er wurde davon geweckt, als sie an seinem Bettrand sitzend seinen Penis unter der Bettdecke massierte. Als er wach wurde, schlug sie seine Decke zurück und zog sich den Bademantel aus. Sie trug nur Strümpfe an Strumpfbändern, und dieser Anblick erregte ihn noch mehr.

      Er mochte Strümpfe. Er wusste, dass seine Mutter auch solche trug. Wenn er allein zu Hause war, schlich er sich in ihr Badezimmer, verriegelte die Tür und suchte im Wäschekorb nach der Unterwäsche seiner Mutter. Dann saß er auf dem Klodeckel und sog genüsslich den Geruch ihrer getragenen Strümpfe ein. Sein einziger indirekter Körperkontakt mit ihr.

      Berta hatte sich jetzt auf ihn gesetzt und bewegte ihren schweren Körper auf seinem steifen Penis auf und ab. Er konnte nichts mit ihrem Körper anfangen. Er schaute ihn an, sah, wie sich ihre Brüste im Takt ihrer Bewegungen auf und ab schwangen. Aber er traute sich nicht, sie zu berühren oder auch nur irgendetwas zu Berta zu sagen. Sie kam regelrecht über ihn, und er konnte nur stillhalten. Er sah und hörte diesen keuchenden Berg Fleisch über sich, als sich plötzlich sein Penis anspannte wie noch nie. Sein Körper wurde immer heißer, und er begann zu schwitzen. Denn in dieser Nacht geschah noch etwas Außergewöhnliches. Seine Knie wurden ihm weich, er begann zu zittern und immer schneller zu atmen. Er erlebte seinen ersten Orgasmus. Im gleichen Augenblick wälzte sich Berta von ihm herunter. „Geiles Schwein!“ sagte sie zu ihm und verließ einfach das Zimmer.

      Benjamin war völlig durcheinander. Mit seinen verwirrten Gefühlen allein gelassen, fing er an zu weinen. Ganz leise natürlich. Damit bloß keiner etwas hören würde. Er schämte sich.

      Seit dieser Nacht war auch Berta anders geworden. Sie schob ihm die Schuld dafür zu, dass sie nachts zu ihm kommen würde. Sie erzählte ihm ständig, dass er sie anmachen, sie absichtlich erregen würde und sie ihm nicht widerstehen könnte. Aber weil sie ihn gerne mochte, würde sie seinen Eltern nichts davon erzählen. Sie wollte nicht verantwortlich dafür sein, dass er ins Internat kommen würde.

      Benjamin wurde immer verwirrter. Er konnte sich nicht erklären, dass er Berta dazu gebracht hatte, nachts zu ihm zu kommen. Und er die Schuld daran hätte. Er spürte aber auch, dass ihr Tun irgendwie nicht in Ordnung war. Er wusste sich nicht zu helfen. Wahrscheinlich hatte Berta recht, und irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung. Er kam mit der Situation nicht mehr zurecht. Auf der einen Seite sein Vater, den er kaum noch sah, und seine Mutter, der er nichts so recht machen konnte, dass sie ihn liebte − obwohl er sich das immer noch unbedingt wünschte. Auf der anderen Seite Berta, die ihn wenigstens mochte und sich um ihn kümmerte. Sie war sein letzter Halt, und er wollte sie nicht auch noch verlieren.

      Immer häufiger griff er nun abends in das Barfach seiner Eltern und nahm sich vom Cognac oder Wodka. Die Bar war groß, und viele Flaschen galt es auszuprobieren. Am Anfang war er sich sicher, dass niemand etwas merken würde, aber als er begann, größere Mengen zu trinken, füllte er die Flaschen mit Leitungswasser wieder auf.

      Berta erwischte ihn dabei, versprach aber, ihn nicht zu verraten. Geheimnisse verbanden. Seitdem hatte sie ein kleines Arsenal an Flaschen, aus denen sie die von ihm entnommenen Mengen nachfüllte. Doch kurze Zeit später kam sie abends mit einer Flasche im Arm in sein Zimmer und schenkte ihm ein. Manchmal war er an solchen Wochenenden so betrunken, dass er nicht mehr wusste, was alles in seinem Rausch passiert war. Nur manchmal ließ ihn am nächsten Morgen seine schmerzende Vorhaut erahnen, was alles noch geschehen war.

      In der Schule wurde er jetzt schlechter. Seine Mutter machte ihn vor Berta nieder, als sie einen Brief des Klassenlehrers erhalten hatte, in dem er als aggressiv, provozierend und aufmüpfig angeklagt wurde. Das Erreichen des Klassenziels war gefährdet. Er wusste nicht, was er antworten sollte. Später kam Berta mit einer Flasche Wodka zu ihm und tröstete ihn.

      Benjamin schaffte die Schule nicht mehr. Er lehnte sich immer mehr gegen alles auf und nahm jede Gelegenheit wahr, gegen die verhassten Lehrer zu opponieren und musste im Ergebnis das Gymnasium verlassen. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die aus ihm gerne einen Stararchitekten oder wenigstens einen Arzt gemacht hätte. Nun hatte er eine Gärtnerlehre angefangen.

      Jetzt, in diesen Jahren, wo seine eigene Sexualität in ihm lebendig wurde, ließ Berta plötzlich von ihm ab. Wieder etwas, das ihn verunsicherte, weil er es nicht verstand. Und obwohl er begann, den Zusammenhang zwischen ihr und seinem Leben im Suff zu verstehen und sich zeitweise Hass und Gewaltphantasien gegen Berta richteten, war sie für ihn doch immer auch eine feste, einschätzbare Instanz geblieben. Er hatte sogar manches Mal daran gedacht, mit ihr weiter zusammen zu leben und damit wenigstens etwas Sicherheit zu erhalten. Aber ihre Abkehr von ihm war so deutlich, dass ihm selbst dieses kleine Glück vorenthalten blieb. Das Verlangen, von seiner Mutter geliebt zu werden, war ungebrochen, wurde aber mit jedem Tag ausgeschlossener. Und sein Vater hatte nur noch den Betrieb im Kopf. Für ihn existierte er überhaupt nicht mehr. Besonders sein schulisches Versagen war der Grund, warum er ihn völlig fallengelassen hatte.

      Benjamin sah seine Eltern nur noch selten. Dass von Anfang an schon sein Kinderzimmer mit eigenem Bad versehen war,