Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen. Rainer Küster

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Название Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen
Автор произведения Rainer Küster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783898968577



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die Hände. Heinz bekam den Stock zu spüren, als er einen Nachbarn abschreiben ließ.

      Spielen durfte man nicht auf dem Schulhof. Der Hausmeister sorgte dafür, dass dieser Ort der Hitlerjugend vorbehalten blieb. Und bald wurde ohnehin Ernst aus dem Spiel. Seit dem 1. September 1939 war Krieg. Das bekam man auch im Ruhrgebiet zu spüren. Zum ersten Mal wurde das Ruhrgebiet im Jahre 1940 von der britischen Luftwaffe bombardiert. Vom Mai 1941 an fielen auch in Bochum die Bomben, zunächst aber noch nicht an der Castroper Straße. Doch das war nur eine Frage der Zeit, und die Fliegerangriffe würden nicht mehr aufhören bis zum bitteren Ende. Vater Esken war als Bergmann vom Kriegsdienst freigestellt worden. Wer in kriegswichtiger Position (Bergleute, Stahlarbeiter, Bauern) tätig war, wurde bis zum Jahr 1943 nicht einberufen.

      Auch der junge Heinz Esken machte seine Erfahrungen mit der neuen Situation. Einen Bruder des Vaters hatte es nach Ortelsburg in Ostpreußen verschlagen, heute heißt der Ort Szczytno und liegt im masurischen Seengebiet. Dieser Bruder war zum Kriegsdienst eingezogen worden und besuchte, wie es sich gehörte, in Uniform die Familie Esken in Bochum. Es war Sommer, die Familie ging im Stadtpark spazieren. Der Onkel hatte aufgrund der großen Hitze den obersten Knopf seiner Uniform geöffnet. Daraufhin wurde er von einem Offizier angeschnauzt, musste stramme Haltung annehmen und natürlich den Uniformknopf wieder schließen. Ein deutscher Soldat hatte sich ordentlich zu kleiden. Der Junge verstand nicht, was das sollte.

      Der Onkel wurde später an der Ostfront eingesetzt, zuletzt vor Leningrad. Eines Tages wurde die Wohnung an der Castroper Straße gestürmt, vom Ortspolizisten, der sich zu diesem Zweck extra seinen Tschako aufgesetzt hatte, und von einigen Herren in Zivil. Man sperrte die Familie Esken in der Küche ein und durchsuchte die gesamte Wohnung, den Keller, das Dachgeschoss und schließlich auch noch den Stall, ohne dass etwas dabei herauskam. Den Grund nannte man der Familie erst am Schluss: Der Onkel war fahnenflüchtig. Später traf ein Brief des Onkels ein, seine letzten Zeilen. Man hatte ihn gefasst. Als der Brief in der Castroper Straße abgegeben wurde, hatte man den Onkel schon erschossen. Mutter Esken musste der Witwe einen Ariernachweis besorgen, damit sie, nun auf sich allein gestellt, Arbeit bekam.

      Der Vater wurde nicht mehr eingezogen. Aber man kann in diesem Fall wohl nicht von Glück sprechen. Im April 1942 ereilte ihn das Schicksal unter Tage. Auslaufende Kohle, so hieß die lakonische Erklärung. Auf der Zeche Amalia. Seinem Jungen erklärte man später, der Vater sei von der abrutschenden Kohle eingeklemmt worden, so dass er sich nicht mehr habe retten, sich nicht mehr habe mitlaufend befreien können. Er war in der auslaufenden Kohle erstickt. Die Nachbarn hörten es eher als die Familie. Die heimkehrenden Kollegen wussten, Heinrich Esken war verschüttet. Ihnen war klar, was das bedeutete. Aber der Junge saß in der Küche der Bergmannswohnung und hoffte noch auf ein Wunder, betete. Aufgebahrt wurden die toten Bergleute damals auf der Zeche. Das war so üblich. Anschließend kam die Beerdigung in der Trauerhalle am Freigrafendamm. Das Bergmannsorchester spielte »Ich hatt einen Kameraden …«.

      Das war das Ende der Kindheit für Heinz Esken, der eine Woche zuvor gerade zwölf Jahre alt geworden war. Der Krieg brachte für ihn gleich zweimal die Verschickung in eins der weit entfernten Kinderländer. Die alten Freunde aus der Kolonie mussten andere Reiseziele ansteuern. Man verlor sich aus den Augen. Von der Harpener Bergbau-AG wurde Mutter Esken als Witwe die Miete erhöht, die Deputatkohle wurde gekürzt. Die Rente war auch für zwei Personen viel zu gering. Man war jetzt arm. Als Heinz Esken aus der zweiten Kinderlandverschickung, aus Treptow an der Rega, nach Bochum zurückkehrte, war die Mutter schon zur Oma an die Schmechtingstraße gezogen. Die Wohnung in der Castroper Straße 233 hatte sie aufgelöst.

      [2007]

       Kunst auf Lothringen

      Man möchte es gar nicht glauben, aber Politiker können unter Umständen Menschen sein, in besonderen Fällen sogar Menschen mit Sinn für die Kunst. Das Beispiel von Norbert Lammert, dem Bochumer Bürger und Berliner Bundestagspräsidenten, zeigt dies aufs Glücklichste. Im Februar des Jahres 2012 saß er an einem winterlich-frischen Samstagvormittag ein paar Reihen hinter mir in dem kleinen Veranstaltungsraum des Kulturrats in Bochum-Gerthe und freute sich mit denen, die auch gekommen waren, dass man dem Dichter Hugo Ernst Käufer die Ehre erwies und ihn dort anlässlich seines 85. Geburtstags feierte. Das war genau an dem Tag, als Herr Lammert in Berlin noch als möglicher Nachfolger des ausgemusterten Bundespräsidenten Wulff gehandelt wurde. Aber er hatte wohl intern schon abgewinkt, hatte sich anders entschieden. Vielleicht hat ihm damals auch seine Ehefrau abgeraten. Man muss eben Prioritäten setzen, und es ist immer gut, wenn jemand weiß, wo er hingehört.

      Auch dem Künstlerischen im engeren, folglich im bildenden Sinne ist das Ehepaar Lammert zugetan. Als Horst Dieter Gölzenleuchter vor ein paar Jahren zur Feier seines Fünfundsechzigsten in Wattenscheid eine Ausstellung eröffnete, war auch Herr Lammert dabei und erwarb ein Bild des Bochumer Künstlers, bei dessen intensiver Betrachtung (gemeint ist das Kunstwerk) allerdings der Ehefrau unseres Bundestagspräsidenten nachträglich erhebliche Bedenken kamen. Das Bild – ein großformatiger Holzschnitt, auf dem man auf den ersten Blick nur Linien erkennt, von denen aber einige bei genauem Hinsehen zu ausdrucksstarken Gesichtern werden – erinnerte Frau Lammert zumindest entfernt an diese unsäglichen Präparate des Anatoms Gunther von Hagens. Das ist ein Arzt und Unternehmer, der damit sein Budget erheblich aufbessert, dass er menschliche Leichen konserviert oder plastiniert, wie er selbst dieses Verfahren nennt, und in spektakulären Ausstellungen, die durch die Welt reisen, von noch lebenden Menschen angucken lässt. Wer jemals das Pech hatte, diesen Anatom von Hagens in einer Talkshow wahrnehmen zu müssen, kann auch aus diesem Grund gut verstehen, dass man sich nichts ins Haus hängen möchte, was mit ihm auch nur gefühlt zu tun hat.

      Was genau Frau Lammert auf dem Bild gesehen hatte, blieb auch dem Künstler Gölzenleuchter nicht vollends verschlossen; er hatte allerdings nicht das unbedingte Bedürfnis, den assoziativen Bezug zwischen seinem Werk und den Präparaten des besagten Gruselmediziners bis in die letzte Konsequenz hinein nachzuvollziehen. Trotzdem freute er sich, als Frau und Herr Lammert ein paar Wochen später in seinem Atelier im Kulturrat an der Lothringer Straße erschienen und ihn darum baten, das zuvor erworbene Kunstwerk wieder umtauschen zu dürfen. Klar, sagte Gölzenleuchter, umtauschen sei völlig in Ordnung. Die Lammerts haben sich dann ein bisschen vor Ort umgesehen, und sie sollen am Ende sogar mehr aus dem Atelier mit nach Hause getragen haben, als sie mitbrachten, was den Künstler wiederum gefreut hat.

      Als mir Horst Dieter Gölzenleuchter, genannt Oskar, diese Geschichte erzählt, sitzen wir genau in demselben Atelier, in dem das Ehepaar Lammert seine künstlerische Auswahl getroffen hat, und trinken Kaffee. Hier sieht es so aus, wie es sich für ein Atelier gehört. Wenn man sich irgendwo hinsetzen möchte oder eine Tasse abstellen will, muss immer erst mal etwas anderes weggeräumt werden. Aber das gehört eben dazu, man fühlt sich trotzdem willkommen. Kaffee gibt es aus einer Stempelkanne, die Becher sind bunt.

      Gölzenleuchters Atelier besteht aus einem langen Flur und viereinhalb zum Teil recht großen Räumen, die allerdings gut angefüllt sind mit größtenteils eigenen Kunstwerken aller Art, die an den Wänden hängen, irgendwo angelehnt stehen, auf Tapeziertischen liegen oder vorübergehend abgelegt wurden, und natürlich einer Fülle von Gegenständen und Materialien, die demnächst einmal Kunstwerke werden sollen. In den Ecken oder an den Wänden gibt es ein paar Vitrinen, in denen kleinere Arbeiten aufbewahrt sind, darauf Skulpturen, die hier und da afrikanisch anmuten, und immer wieder stehen da Tische und Regale mit Farbtöpfen und Geräten, die der Hausherr wohl zum eigenhändigen Drucken und Reproduzieren von Kunst gebraucht. Holz, in Scheiben, Planken, Stangen, bearbeitet oder frisch, ist allgegenwärtig.

      Manchmal stecke im Holz etwas Erotisches, sagt der Künstler, es habe etwas Sinnliches, müsse in die Hand genommen, müsse gestaltet werden. Manchmal wird aus einer Holztür ein Holzschnitt, ein Druck, menschengroß. Alles ist da, Tischplatten, Baustellenholz, Vierkantbalken, Keilrahmen, Paletten. Wie man in diesem Ensemble allerdings genau das finden kann, was man gerade sucht, kann wohl nur der Künstler selbst wissen. Vielleicht sucht man aber als Künstler ohnehin nur das, was man auch findet. In dem Band »Holzschnittgeschichten« aus dem Jahre 2008 widmet Gölzenleuchter seinem Atelier einen kleinen Hymnus:

       Ein Ort der gefangen nimmt.