Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen. Rainer Küster

Читать онлайн.
Название Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen
Автор произведения Rainer Küster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783898968577



Скачать книгу

Als wir die Anwaltskanzlei betreten, werden wir gleichwohl erwartet; eine vorgewarnte Sekretärin geleitet uns zu einer Treppe aus Lichtgitterrost, die wir tief hinuntersteigen. Sieben Meter – ja, das könnte schon sein. Unten lagern tausende von Akten, eng in Regalen gestapelt. Um sich hier zurechtzufinden, dürfte man einen Kompass brauchen. Aber ich denke, die meisten der hier abgelegten Ordner wird wahrscheinlich nie wieder jemand hervorholen.

      Wir sehen uns um und finden auch etwas. Auf dem Betonboden entdecken wir Spuren, die irgendwie auf die Träger von Förderbändern schließen lassen, die natürlich längst entfernt worden sind. Hier oder bis hierher könnten tatsächlich Bierkästen zur Verladerampe transportiert worden sein. Zur gegenüberliegenden Seite, also zum Westring hin, befindet sich eine Stahltür, die allerdings einen sehr verschlossenen Eindruck macht. Was dahinter ist, weiß niemand mehr. Herr Schlegel und ich sind uns sicher: Es ist der alte Verbindungstunnel.

      Postskriptum: Es gibt ja doch noch ein Schlegelbier. »Schlegel Urtyp« heißt es und ist irgendwie ein Nostalgiebier, vor zehn Jahren ins Leben gerufen von zwei Schlegel-Freunden, die sich mit dem endgültigen Verlust ihrer Marke nicht abfinden wollten. Man bekommt es auch in Bochumer Getränkemärkten. Aber mit Bochum als Brauort hat es nichts mehr zu tun, selbst wenn die Rezeptur, was wir mal hoffen wollen, immer noch die alte ist. Übrigens war »Schlegel Urtyp« in den guten alten Zeiten von dem Verdikt, nach übermäßigem Genuss von Schlegelbier würden die heraldischen Hämmerchen des Hauses im Schädel des Genießers für den unvermeidlichen Kater sorgen, stets ausgenommen. Vielleicht eignet diese Qualität auch dem Nostalgie-Schlegel. Gebraut wird es, wie gesagt, nicht in Bochum, sondern seit seiner Wiederbelebung zunächst in Schwelm, heute in Iserlohn, wenn ich richtig informiert bin.

      Ach, noch eins, ganz zum Schluss: Frau Oberbürgermeisterin wollte sich doch eigentlich melden, den angedrohten Abriss der Schlegelreste betreffend. Das hat sie bisher noch nicht getan und auch nicht tun lassen. Was soll man dazu sagen? Jammern nützt nichts, denn so eine Oberbürgermeisterin hat wirklich anderes zu tun.

      [2012]

       Im Kinderland der Kohlengräber

      Diese Bochumer Straße ist noch immer ein Mythos, zumindest ein bescheidener. Sie wird es bleiben trotz mancher Umbenennungen, die auch Gutwillige zum Verzweifeln bringen können. Wenn am Samstag, dem 20. Oktober 2007, wieder Dreißigtausend, davon die meisten in banger Hoffnung, zum Spiel gegen die Bayern aus München ins Rewirpower-Stadion pilgern werden, dann liegt dieses stilistische Monstrum nach wie vor an der Castroper Straße. Das ist die Straße, nach der das Stadion einst benannt wurde, lange bevor es zum Ruhr-Stadion mutierte, und auf der nach dem Abpfiff eine zähe Autoschlange in beide Richtungen kriechen wird. Wenn man Glück hat, regeln ein paar Polizisten den Verkehrsfluss; Fußgänger, die sich zwischen den Autos hindurchquetschen wollen, leben an solchen Tagen gefährlich, riskieren alles Mögliche – je nach Ausgang des Spiels mit oder ohne Bierflasche in der Hand.

      Fast unmerklich steigt die Straße stadtauswärts an. Das Nahziel ist die große Kreuzung von Harpener und Castroper Hellweg, wo sich die Ströme der Heimkehrer zum ersten Mal verästeln; auf dem Sheffield-Ring, der guten alten NS 7, können die Fußballfreunde aus dem Bochumer Süden bald wieder richtig aufs Gas treten. Aber noch sind wir nicht dort, so schnell geht das nach einem Spiel gegen die Bayern nicht. Wer angesichts des mühsamen Flusses der Kolonne aus dem Fenster sieht, gewahrt einen Ruhrpott, wie er im Buche steht. Rechts Häuserreihen, die schon bessere Tage gesehen haben, dahinter mehr oder weniger Industrielles, nicht unbedingt einladend. Links kann man durchaus wohnen, einkaufen, zur Schule oder in die Kirche gehen.

      Genau dort, wo es für den Fußballfreund manchmal schon ein bisschen schneller vorwärtsgeht, steht ein bescheidenes, eher unscheinbares Haus mit der Nummer 233, gleich neben der Schule, nämlich da, wo von der Castroper Straße links die Wichernstraße abzweigt. Zwei Betonpfeiler blockieren von diesem Ende der Straße her die Einfahrt für Autofahrer. Am anderen Ende mündet sie in die Josephinenstraße. Von dort sind Autos willkommen. Die Straße ist benannt nach dem Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern, der damals, im einschlägigen Jahr 1848, auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg, nicht etwa den VfL Bochum, sondern die segensreiche Organisation der »Inneren Mission« gründete. Aber das hat mit dem Haus, von dem ich erzählen will, wirklich nichts zu tun. Man kann leicht daran vorbeifahren, ohne es wahrgenommen zu haben. Unscheinbar ist es auch deshalb, weil es vielen anderen Wohnhäusern in der unmittelbaren Umgebung und sonst im Revier so ähnlich ist, trotz mannigfaltiger Umbauten, die es immer wieder über sich hat ergehen lassen.

      Im Frühjahr habe ich mir das Haus schon einmal angesehen, das sich aus zwei einigermaßen symmetrischen Hälften zusammensetzt. Hellgrau ist der Putz auf der linken, grau in grau auf der rechten Seite. Hier und da sind die Rollläden heruntergelassen. Mit Gardinen geschmückte Fenster an den Kopfenden signalisieren, dass es über der ersten Etage jeweils noch ein bewohnbares Dachgeschoss gibt. Zentral dem Doppelhaus vorgelagert ist ein kleiner, durch ein Satteldach geschützter Windfang, an dem die beiden Hälften des Hauses partizipieren und der sicherlich erst nach dem Kriege angelegt wurde. Zumindest auf der rechten Seite dient der Windfang als Eingangsportal. Eine blaue Plastikbank lehnt an seiner Wand und bringt etwas Farbe ins Bild.

      Zwischen Haus und Straße liegt ein gar nicht so kleiner Vorgarten, der auch Platz für die Mülltonnen bietet. Das Grundstück umschließt das Gebäude auf beiden Seiten; zur Wichernstraße hin lehnt sich ein Schuppen an, der so aussieht, als habe man ihn irgendwann einmal vergessen. Eine triste Steinmauer mit aufgesetztem Stacheldraht schützt das Areal vor manchen Unbilden, die entnervte Fußballfreunde der Castroper Straße zugemutet haben. Drei große Reklametafeln flankieren das Ensemble.

      In diesem Haus hat der Bergmannssohn Heinz Esken (eigentlich Heinrich), der am Karfreitag im Jahre 1930 geboren wurde, die Kindheit verbracht. Heute lebt er in der Bochumer Constantinstraße und dokumentiert in mächtigen Aktenordnern sein Leben, das in vieler Hinsicht seine Besonderheiten aufweist, das aber zugleich auch exemplarisch ist. Gewissenhaft schreibt er auf, wie es ihm, dem Bochumer Jungen, in bald achtzig Jahren ergangen ist, wie der Lebensweg, privat und beruflich, durch die jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse geprägt wurde, fügt Bilder und vielfältige Dokumente hinzu, so dass eine Vita rekonstruiert und wieder belebt wird, die so wohl nur im Ruhrgebiet, im Kohlengräberland, wie es der Dichter Heinrich Kämpchen genannt hat, verlaufen konnte. Vor einem halben Jahr hat auch die WAZ unter dem Titel »Als ›Knochen-Karl‹ zurückkam« über Esken berichtet. Er hofft natürlich, dass seine beiden Töchter irgendwann die Zeit finden, einen Blick in die Ordner zu werfen. Vielleicht interessiert sich auch das »Institut für soziale Bewegungen« an der Ruhr-Universität für Eskens Sammlung.

      Für unseren Weg in die Vergangenheit wählen wir einen normalen und glücklicherweise sonnigen Oktobertag, nicht den zwanzigsten, an dem die Bayern kommen. Das geht auch gar nicht, sonst würde im Block L ein kostbarer Platz frei bleiben. Und kampflos geben wir die Sache sowieso nicht her, denn sogar gegen die großen Bayern fängt ein Spiel zunächst einmal bei 0 : 0 an.

      Wir parken auf der Wichernstraße, gleich neben der Schulhofmauer. Fast hätten wir den Fotoapparat vergessen. Linker Hand liegt die Grundschule »In der Vöde«, auf deren Gelände sich ein paar Skater vergnügen. Hinter der Schule, aus ähnlich rotem Backstein errichtet, erhebt sich die katholische »Heilig-Kreuz-Kirche«, seit 2002 degradiert zur Filialkirche der Grummer Liborius-Gemeinde. Heinz Esken erzählt im Vorbeigehen die Geschichte von den Schweinen, die ausgebrochen waren und an die Tür des Pfarrers klopften. Aber davon wird später die Rede sein. Wir wollen vorn anfangen.

      Für Heinz Esken ist es schon mit merkwürdigen Erinnerungen verbunden, das Haus seiner Kindheit jetzt wiederzusehen, da zu stehen und zu fotografieren. Gemischte Gefühle kommen auf, Wehmut und auch ein bisschen Skepsis. Wenn er in der Gegend war, hat er das Haus zwar immer wieder flüchtig wahrgenommen, aber seltsamerweise nie mehr so richtig beachtet. Von 1930 bis 1943 oder vielleicht auch 1944 hat er, hat seine Familie hier gelebt. Der Vater war 1942 tödlich verunglückt, und dann ist die Mutter zur Oma gezogen, in die Schmechtingstraße.

      Ob das nun Ende 1943 oder Anfang 1944 geschah, weiß Esken deshalb nicht so genau, weil er da gerade in Pommern in der Kinderlandverschickung war, und zwar in Treptow an