Название | Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen |
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Автор произведения | Rainer Küster |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783898968577 |
Im Jahre 1918 genehmigen die Hauptversammlungen der Schlegel-Brauerei und der 1853 gegründeten Bochumer Bierbrauerei Moritz Scharpenseel AG die Verschmelzung beider Brauereien zur Schlegel-Scharpenseel-Brauerei AG. Der Zusammenschluss vollzieht sich nicht unbedingt stromlinienförmig, hat er doch seine kirchenpolitischen Knackpunkte; denn was geplant ist und am Ende auch realisiert wird, bedeutet, dass in Bochum das evangelische »blaue« Schlegelbier mit dem katholischen »schwarzen« Scharpenseel-Bier fusionieren wird. Das ist manchem Bochumer ein Dorn im Auge, so dass man anfangs sogar darüber nachdenkt, den Zusammenschluss als »Bochumer Bürgerbräu« firmieren zu lassen, um die konfessionellen Hakeleien zu entschärfen.
Ein Motiv für die Fusion beider Brauereien liegt wohl auch in der Tatsache begründet, dass der im Jahre 1896 geborene Hans Schlegel, Sohn und Erbe Wilhelm Schlegels, der als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gedient hat, seit 1915 in Russland vermisst wird und auch in der Familie als tot gilt. Doch Hans Schlegel hat das Glück, dass ihm, wie vielen anderen deutschen Kriegsgefangenen, die legendäre schwedische Rot-Kreuz-Schwester Elsa Brändström, die als »Engel von Sibirien« in die Geschichte eingegangen ist, hilft zu überleben. Im Oktober 1920 kehrt Hans Schlegel, der Vater von Klaus-Joachim Schlegel, nach fünfjähriger Kriegsgefangenschaft im ostsibirischen Wladiwostok, wo deutsche Kriegsgefangene in einer Seifenfabrik arbeiten, in seine Heimatstadt Bochum zurück. Hinter ihm liegt eine Odyssee durch verschiedene mittel- und westsibirische Gefangenenlager und eine entbehrungs- und schreckensreiche Flucht quer durch Russland, die ein halbes Jahr gedauert hat. Er tritt schon im Dezember 1920 als kaufmännischer Angestellter in die Schlegel-Scharpenseel-Brauerei ein und wird bis 1961 als Direktor im Unternehmen tätig sein.
Die wichtigste Führungspersönlichkeit der Bochumer Brauerei ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts Alfred Hövelhaus, seit 1921 im Unternehmen tätig, später Generaldirektor und Ehrensenator der TU Berlin. Auch während der Naziherrschaft leitet er den Betrieb. In einer Jubiläumsschrift zum 85-jährigen Bestehen der Brauerei heißt es:
Mit besonderem Stolz erfüllt uns alle die hohe Auszeichnung, die dem Werk durch Ernennung zum nationalsozialistischen Musterbetrieb zuerkannt worden ist. Die Schlegel-Scharpenseel-Brauerei war bei den ersten 30 Betrieben, denen diese ehrenvolle Anerkennung am 1. Mai 1937 durch den Führer Adolf Hitler persönlich zuteil wurde; seitdem ist sie ihr zweimal bestätigt worden, am 1. Mai 1938 und am 1. Mai 1939. Diese Auszeichnung ist uns Ehrung und Ansporn zugleich. Ansporn, allezeit einsatzbereit an unserer Stelle mitzuwirken an der Erfüllung der großen volkswirtschaftlichen Aufgaben der Gegenwart.
Im Zweiten Weltkrieg wird aufgrund der zentralen Lage auf der Turmplattform eine leichte Kanone zur Flugabwehr in Stellung gebracht. Genützt hat es nichts. Im November 1944 kommt nach der Zerstörung der Brauerei durch Bomben die Produktion zum Erliegen. Bei Kriegsende ist das gesamte Gelände der Brauerei nur noch ein Trümmerhaufen. Als es ans Aufräumen geht, findet man die geliebte Symbolfigur aus den dreißiger Jahren, das »Schlegel-Männeken«, unversehrt im Schutt. Es war stets Mittelpunkt bei allen Festakten im Schalander gewesen, also im Pausen- und Schankraum der Brauerei.
In den ersten Nachkriegsjahren sinkt der Bierausstoß auf seinen Tiefpunkt, und das Bier – eigentlich ein Ersatzgetränk aus Molke und Süßstoff – schmeckt auch so. Aber es geht dann doch noch einmal bergauf. Ab 1949 gibt es Schlegel-Bier wieder in bewährter Friedensqualität. In den fünfziger Jahren erhält Schlegel-Scharpenseel sogar die Generalvertretung für die Dubliner Guinness-Brauerei in der Bundesrepublik Deutschland. Ausdruck des wachsenden Erfolgs ist die Einrichtung der legendären »Senatorstube« hoch oben im Schlegelturm, mit Blick weit über Bochum. Im Jahre 1966 wird mit 587.000 Hektoliter der größte Brauausstoß erreicht; die AG beschäftigt in Bochum und Recklinghausen, wo das »Vest Pils« gebraut wird, insgesamt 763 Mitarbeiter.
Dann kommt der Abstieg. Die brauhistorischen Fakten, nüchtern aufgereiht, lauten folgendermaßen: Anfang der siebziger Jahre werden zunächst die Schlegel-Scharpenseel-Brauerei AG und die Dortmunder Union-Brauerei AG miteinander verschmolzen. Dann fusionieren die DUB-Gruppe und die Schultheiss-Brauerei-Gruppe miteinander. Am 11. Dezember 1979 wird vom Aufsichtsrat der Dortmunder Union-Schultheiss Brauerei AG beschlossen, den Bochumer Hauptbetrieb der Schlegel-Brauerei stillzulegen. Nachdem schon ein paar Jahre zuvor der Braubetrieb in Recklinghausen geschlossen worden ist, wird im Juni 1980 auch derjenige in Bochum eingestellt. Nur wenige Jahre danach beginnt der Abriss.
Ich blicke auf das, was damals stehen geblieben ist. Oben am Turm sind die bekannten Schlegel-Hämmerchen entfernt und vor zwanzig Jahren durch das Bochumer Stadtwappen ersetzt worden. Statt der Küfer-Hämmerchen nun also das Buch. Wenn man auf die große Tafel neben der Eingangstür guckt, weiß man, warum. Die Stadt hat das hohe Haus in Beschlag genommen, ist wohl auch die Besitzerin. Das Schulverwaltungsamt residiert hier und auch das Schulamt für die Stadt Bochum. Um Gottes willen! Wo ist der Unterschied? Besucher sind nicht zu sehen. Vielleicht sind auch nur noch die Schilder da, während die Ämter längst ausgezogen sind? Potemkinsche Ämter? Die Gleichstellungsstelle – was für eine unglückselige Wortbildung – und das Integrationsbüro, auch das Ordnungsamt, das Presse- und Informationsamt und noch viel mehr. Alles im alten Malzsilo.
Zwei städtisch uniformierte Herren, die aussehen, als wüssten sie, wo sie sind, nehmen mich mit ins Gebäude. Einer wählt den Fahrstuhl, der andere begleitet mich über die Treppe auf die nächste Etage. Er zeigt mir die Übergänge zum Nachbarhaus, also zu dem, was einmal das Sudhaus, einst Herz der Brauerei, gewesen ist. Hinter der Durchgangstür muss irgendwo das Fundbüro sein – habe ich auch nicht gewusst. Bevor er mich allein weiterwandern lässt, fragt er mich noch, halb im Vertrauen, ob ich denn überhaupt wisse, dass dies alles spätestens 2014 abgerissen werden soll? Wieso abgerissen? Wenn das Gerichtsgebäude fällt, sagt er, dann soll auch dies hier fallen. Eine neue Einkaufsmeile, mit vielen Geschäften, mehr oder weniger Einzelhandel, Boutiquen, durchaus höherwertig – so sei es geplant.
Ich bin perplex. So etwas darf man doch nicht abreißen! Nicht hier bei uns in Bochum, wo die paar mehr oder weniger historischen Gebäude, die uns geblieben sind, an zwei Händen abzuzählen sind! Außerdem ist der Turm tatsächlich so etwas wie eine Landmarke, gibt der Bochumer Mitte ein Gesicht.
Wie es der Zufall will, habe ich am selben Abend Gelegenheit, Frau Dr. Ottilie Scholz, die Oberbürgermeisterin der Stadt Bochum, die in der »Herrengesellschaft Kanone« einen Vortrag hält, zu fragen, ob an den kolportierten Plänen etwas dran sei. Sie weiß es – glaubwürdig – nicht, nimmt auch nicht an, dass es so sei. Das Postgebäude, ja, das könnte sein. Aber nicht Schlegel. Schließlich habe sie erst kürzlich veranlasst, dass abends das Wappen am Turm angestrahlt werde. Aber sie will noch einmal nachfragen, will sich drum kümmern, lässt sich meine Karte geben.
Eigentlich ist die Arbeit getan – bis auf eine Kleinigkeit. Klaus-Joachim Schlegel hatte mir bei unserer ersten Begegnung erzählt, dass Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Tunnel gebaut worden sei, der die Werksgelände dies- und jenseits des Westrings miteinander verband. Wie – ein Tunnel? Ich war sofort elektrisiert von der Annahme, dass man da unter Umständen noch einmal reingehen oder vielleicht auch trotz lädierter Bandscheibe reinkriechen könnte. Der Tunnel soll sieben Meter unter dem Westring gelegen haben und sei begehbar gewesen. Er sei bergmännisch vorgetrieben worden, heißt es. Davon müsste doch noch etwas zu sehen sein, vielleicht ein Loch mit einer Platte drauf oder eine Treppe, die vor eine Wand läuft. Herr Schlegel hat Menschen, die sich auskennen, befragt, und – er hat inzwischen etwas herausgekriegt.
Freitagmittag. Ich hole Klaus-Joachim Schlegel in der Uhlandstraße ab. Wir haben Glück, können sogar ganz in der Nähe unseres Ziels auf dem Westring parken, überqueren zu Fuß die Alleestraße. Vor dem Gebäude Westring 23 werfen wir einen Blick auf das große Schild einer Anwaltskanzlei. Einer der Anwälte heißt Michael Emde. Herr Schlegel hat mit ihm telefoniert, und Herr Emde hat uns erlaubt, dass