Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen. Rainer Küster

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Название Bochumer Häuser - Neue Geschichten von Häusern und Menschen
Автор произведения Rainer Küster
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783898968577



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Als der Junge im Jahre 1944 aus Treptow zurückkam, da wohnte die Mutter jedenfalls auf der Schmechtingstraße, was schon deshalb keine Verschlechterung bedeutete, weil die Familie dort eine richtige Etagentoilette hatte mit einem Zugband dran. Man brauchte also nicht mehr aufs Plumpsklo im Hof wie an der Castroper Straße. Aber zu dieser Zeit lag die Kindheit längst hinter ihm. Im Krieg wurden die Kinder aus dem Ruhrgebiet früh erwachsen.

      Zurück zum Haus an der Castroper Straße. Hierher waren die Eltern erst gezogen, als der Nachwuchs sich ankündigte. Eine Hausgeburt sollte es werden, das war damals nichts Ungewöhnliches. Heinz Esken erzählt:

      Meine Eltern haben sich 1929 verlobt und kurz darauf geheiratet. Zuerst wohnten sie für ein paar Monate auf der 2. Parallelstraße, also da, wo du immer dein Auto parkst, wenn du zum Stadion fährst. Und als ich dann unterwegs war, da bekam der Vater von der Zeche diese größere Wohnung auf der Castroper Straße. Vier Familien lebten in den beiden Haushälften, jeweils unten und oben eine Familie. Ich hab hier einen Zettel mit den Namen, die habe ich zu Hause aufgeschrieben.

      Wir stehen inzwischen auf der anderen Seite der Castroper Straße, mit Blick auf die Vorderfront des Hauses, den Windfang im Auge. Hinter uns das Haus mit der Nummer 234a, in dem früher ein Schreibwarengeschäft war, wo Heinz die Hefte für die Schule besorgte und der Vater auch seine Zigaretten kaufen konnte. Die Graffiti an der Hauswand sind jüngeren Datums.

      Für kurze Zeit versperrt uns die Straßenbahn, die 318, den Blick. Eine Straßenbahn gab es früher auch schon, die war aber deutlich kleiner und erheblich langsamer, manchmal musste man aussteigen, wenn sie zu voll war und den leichten Anstieg stadtauswärts nicht schaffte. Die Fahrt zur Oma in der Schmechtingstraße kostete 10 Pfennig. Heinz Esken erzählt, dass er und sein Freund Heinz Brandau, der um die Ecke wohnte, gern Nägel auf die Schienen legten, bevor die Bahn kam. Wenn die Räder die Nägel plattgefahren hatten, sahen die aus wie türkische Säbel.

      Jetzt ist der Blick wieder frei, und Heinz Esken zeigt mir zunächst auf seinem Zettel, dann auch am Objekt selbst die Lage der Wohnungen und die verschiedenen Gebäudeteile. Im milden Herbstlicht sieht das Haus heute schöner aus als bei meinem ersten Besuch im Frühjahr. Esken findet sich schnell zurecht. Irgendwie ist alles noch da, so wie vor siebzig Jahren, sogar der Stall auf dem Nachbargrundstück. Er erklärt:

       Also im linken Haus, da wohnte oben die Familie Hornberg. Die hatten eine Tochter, das war die Elisabeth Hornberg, genannt Elli; sie war älter als ich. Sie ist übrigens die Mutter von dem jetzigen VfL-Präsidenten. Unten links wohnte das Ehepaar Goldmann mit einem Jungen. Der war viel jünger als ich, deshalb hatte man wenig Kontakt. Und dann wir, Esken, wir wohnten unten rechts. Über uns die Familie Vierhok, die hatten drei Kinder. Mit dem ältesten Sohn von Vierhok war ich im selben Alter. Wir waren Freunde, haben gespielt, eigentlich alles zusammen gemacht. Insgesamt müssen acht Erwachsene und sechs Kinder in dem Haus gelebt haben.

      Heinz Esken beschreibt Lage und Größe der Räume in der elterlichen Wohnung. Das waren drei Zimmer, die Miete betrug 12 Reichsmark. Wohn- und Schlafzimmer waren fast quadratisch, vielleicht 4 × 4 Meter; die Küche kleiner, schmaler, wie auch der Eingang, von dem aus man nach oben oder in den Keller gelangte. Die reine Wohnfläche schätzt er auf 45 Quadratmeter. Allerdings war da noch die Bodenkammer, denn zu jeder Wohnung gehörte ein Zimmer ganz oben unter dem Dach. Das diente als Lagerraum, hatte ein ähnliches Grundmaß wie das Wohnzimmer, nur eben mit Schrägen. In dieser Kammer hingen bei Eskens die Schweinewürste von der letzten Schlachtung. Am Sonntag, wenn die Mutter in der Kirche war, stieg der Vater mit dem Jungen rauf, um sich außer der Reihe ein Stück vom Schinken abzuschneiden. Die Mutter durfte das nicht merken; Vater und Sohn gingen gleich mit dem Messer an das Geräucherte, sie brauchten kein Brot dazu.

      Die Dachgeschosszimmer in den Bergmannssiedlungen, das waren praktisch die Zimmer für die Kostgänger. Aber in der Castroper Straße 233 gab es keine Kostgänger, jedenfalls nicht in den frühen dreißiger Jahren. Da herrschte auch im Ruhrgebiet die große Arbeitslosigkeit, so dass Arbeitskräfte kaum nachgezogen wurden. Auch Vater Esken, der bei der Harpener Bergbau-AG auf der Zeche Robert Müser als Hauer beschäftigt war, wurde für kurze Zeit entlassen. Zwischenzeitlich erhielt er Arbeit auf der Zeche Constantin, Schacht 3, nicht weit von der Wohnung entfernt, dort, wo heute der Turm der Telekom steht, gegenüber dem Stadion. Später konnte er in Bochum-Werne auf der Zeche Amalia wieder für die Harpener Bergbau-AG arbeiten, also für die Gesellschaft, der auch die Bergmannskolonie an der Castroper Straße gehörte.

      Heinrich, so hieß der Vater, so nannte er auch den Sohn. An sechs Tagen fuhr er mit dem Fahrrad zur Arbeit. Unter der Woche rauchte er nach dem Dienst seine Pfeife; sonntags gönnte er sich drei Zigaretten, immer die grüne Dreierpackung der Firma Eckstein. Wenn er rauchte, saß er auf einem Stuhl neben dem Küchenofen.

      Er war ein lustiger Mann. Manchmal wurde bei Eskens gefeiert, dann drängte man ihn, den berüchtigten »einarmigen Geiger« zu spielen. Er besorgte sich einen Krückstock, der als Violine diente, und ein kleineres Stöckchen, das war der Geigenbogen. Allerdings musste die Sache gründlich vorbereitet werden. Im Hausflur präparierte der Vater seinen Auftritt. Den linken Arm steckte er in die Hose und schob den Krückstock so durch den freien Ärmel der Jacke, dass er in Geigenstellung sehr schön hoch stand.

      Nun betrat er das Wohnzimmer und forderte die Anwesenden auf, ihm, dem einarmigen Geiger, alles nachzusingen. Er strich die »Geige« mit dem »Geigenbogen« und sang Goethes »Heideröslein«. Beim ersten Mal noch Zeile für Zeile, »Sah ein Knab’ ein Röslein stehn …«, und so weiter, alles wurde von den lernwilligen Zuschauern mit Inbrunst repetiert. Dann steuerte die Vorstellung auf ihren Höhepunkt zu. Da das Publikum inzwischen textsicher war, konnte man die Ballade noch einmal gemeinsam singen. Jetzt kam endlich der versteckte Arm zur Geltung. Der Vater fuhr den Mittelfinger aus dem Hosenschlitz, klemmte damit den »Geigenbogen« ein und betätigte sich gleichzeitig mit der rechten Hand als Dirigent. Heinz Esken sagt, das sei der Moment gewesen, auf den besonders die Frauen, die das Schauspiel schon kannten, gewartet hatten. Sie kreischten aufgeregt. Und manch eine von denen, die den einarmigen Geiger noch nicht kennengelernt hatten, mag zunächst nicht gemerkt haben, dass es nur der Mittelfinger war, der da ausgefahren wurde und den Geigenbogen hielt.

      Einmal in der richtigen Stimmung hielt der Vater auch noch eine Sonntagspredigt. Er zog seine Jacke verkehrt herum an, setzte ein Taschentuch als Latz auf die Brust und mimte derart kostümiert einen evangelischen Pastor. Wieder wurde ein Wechselgesang zelebriert, Zeile für Zeile, diesmal mit klerikalem Pathos:

      Pastor sine Husölschke

      Hätt Sundags nummedags

      Von vier bis fünf Utgang

      Mit dem Paraplüie

       Halleluja

      Zum Schluss machte der Vater noch einen Handstand. Dabei, sagt der Sohn, sei ihm einmal ein Fünfmarkstück aus der Westentasche gefallen. »Den Heiermann hatte er wohl beim Restlohn plattgemacht.« Die Mutter hob das Geldstück auf und rief: »Heinrich, du betrügst mich!«

      Solche Feiern fanden im Wohnzimmer statt, das für entsprechende Gelegenheiten und für Familienfeste reserviert war, das nur benutzt wurde, wenn Besuch kam. Zum Inventar dieses Zimmers gehörten der Dauerbrenner-Ofen, eine Couch, ein Tisch, zwei Sessel und eine Blumenbank. Dann war da noch ein kleiner Schrank, der eigentlich in die Küche gehörte, dort aber keinen Platz mehr fand. Oben im Schrank hatte der Vater den Bergmannsschnaps, seinen »Klaren mit Speck« – in Bochum Schweinchen genannt – deponiert, von dem die Ehefrau jedes Mal nach der Schicht ein Gläschen für ihn bereithielt. Daneben lagen die Tabakwaren. Unten im Schrank wurde das Spielzeug des Jungen aufbewahrt. Das beste Stück war die Eisenbahn, die man aufziehen konnte. Normalerweise waren Couch und Sessel im Wohnzimmer mit Schonbezügen abgedeckt. Das wollte die Mutter, und bei den anderen Familien in der Kolonie war es genauso.

      Das Familienleben spielte sich in der Küche ab. Da war’s gemütlicher als in der kalten Pracht des Wohnzimmers. Es gab den Kohlenherd, den großen Küchenschrank, auf dem der Volksempfänger stand, der im Krieg immer so tolle Erfolgsmeldungen von der Front verkündete. Außerdem ein Sofa, Tisch und Stühle. Heinz Esken hat einen kleinen Lageplan mitgebracht: