Название | Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch |
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Автор произведения | H.J. Perrey |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373444 |
»Hans-Georg«, sage ich und schlage ein. Der Chardonnay gluckert in die Gläser. Wir stoßen an. Konrad fragt, ob er ein paar Schallplatten auflegen soll.
»Richtige LPs?«, frage ich.
Man sieht ihm den Stolz an. »Alles originale Alben aus der guten alten Zeit. Wenn wir in der Bravo vom Erscheinen eines neuen Albums erfuhren, das eine Woche später in den Handel kam, waren wir nicht zu halten. Die Platte gab es natürlich nicht hier in Neustadt. Da war nur das Elektro-Fachgeschäft von Griese, das heute noch existiert. Doch beim alten Griese, genauer muss es natürlich beim uralten Griese heißen, fand die Beatles-Revolution nicht statt. Der hatte ein Dutzend Platten im Schaufenster, von Rudolf Schock, Johannes Heesters, Freddy Quinn und natürlich Heintje. Also mussten wir nach Ahrensberg oder gleich mit der S-Bahn nach Hamburg.«
Es klingelt an der Haustür. Der Neufundländer blafft, macht aber keine Anstalten, den Wachhund zu spielen. Konrad kehrt zurück. »Auf unseren Pizza-Service können wir stolz sein. Wenn unsere Stadtverwaltung so termingerecht arbeiten würde … die Abteilung Chronik natürlich ausgenommen. Also: Prost. Aber noch mal zu Sonntag, Die Sache mit George Harrison war eine geile Nummer. Und dann wir beide, wie wir Let It Be gesungen haben. Werde ich dir nie vergessen. Aber ich seh, du wirst ganz hippelig. Dich drückt die Chronik, wie du mir erzählt hast. Du willst, dass die Geschichte von Traugott und Brenda zu ihrem Recht gelangt, kannst die Geschichte in der Chronik aber nicht groß ausbreiten.«
Ich nicke. Konrad schenkt Wein nach. Er sieht mich erwartungsvoll an.
»Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht«, sage ich. »Die Beatles haben in meinem Leben eine entscheidende Rolle gespielt. Dabei begreife ich bis heute nicht, warum meine Eltern sich so über die vier aufgeregt haben. Ich sehe meine Mutter noch die Zeitung lesen, draußen in unserem Garten, als plötzlich ein Aufschrei ertönt.
Da sind vier englische Musiker, die sich die Haare wachsen lassen. Das war der Auftakt zum Weltuntergang. Am liebsten hätten meine Eltern mir verboten, diese Musik zu hören. Aber das war nicht möglich. Die schlichten, eingängigen Lieder waren eine Revolution, und Revolutionen haben es nun einmal an sich, dass sie nicht zu stoppen sind. Sonst sind sie keine Revolutionen, allenfalls Rebellionen.
Ich habe den vier viel zu verdanken. Sie haben mir nichts Geringeres als Freiheit gebracht, keine politische Freiheit, sondern Lebensfreiheit. Ihr Auftreten, ihr Aussehen, die sich konsequent weiterentwickelnde Musik, diese anspruchsvolle Liedkultur – das waren unsere Waffen gegen die Generation unserer Eltern, mit denen zumindest ich mich im mentalen Dauerkriegszustand befand. Unsere Eltern waren durch die Zeitumstände verbogen worden. Sie wollten Vorbilder sein, hatten aber überhaupt nicht die Fähigkeit dazu, weil man ihnen selbst jegliche Vorbilder genommen hatte. Sie wussten genau, wie man zu leben hatte, was sich gehörte und was nicht. Und das sollte ich durch ihre Erziehung in mich aufnehmen. Wichtiger als irgendein Schulbuch war die Lektüre von Benimm-Büchern, beispielsweise des beliebten Lebenshilfebuches Der gute Ton. – Die Beatles haben es möglich gemacht, dass wir unseren eigenen Weg gehen konnten.«
»Das hast du schön gesagt, wir sollten alles in Ruhe erörtern, gerade das mit der Revolution. Jetzt zu deinem Anliegen. Du willst etwas über meine Mutter erfahren. Dass ich da ein Wörtchen mitreden will, wirst du verstehen. Ich bin auch nur deswegen dafür, über ihr Leben etwas zu erzählen, weil so viele widerliche Dinge über sie verbreitet wurden, dass ich mich zu einer Art Gegendarstellung gezwungen sehe.
Natürlich benötigt man Quellen für so ein Unternehmen. Früher befanden sich die Briefe der beiden im schriftlichen Nachlass. Doch wir hatten einen Wasserschaden, und infolge dessen ist viel beseitigt worden. Meine Ex-Frau Paula hat damals einiges mitgenommen, um nicht zu sagen: geklaut. Ich vermute einmal, dass sie die Briefe hat. Ich kann auch vieles erzählen, was mir von meinen Eltern später mitgeteilt wurde. Die gute Nachricht vorweg: Traugott Busch ist mein leiblicher Vater, auch wenn ich ihn lange Zeit Onkel genannt habe …«
Von leeren Brieftaschen und von Glück und Treue …
KONRAD ERZÄHLT VON BRENDA
Sie hat mir erzählt, irgendwann, als sie dreizehn oder vierzehn war, habe sie vor dem großen Wandspiegel im Schlafzimmer ihrer Mutter beschlossen, aus ihrem Körper kommerziell etwas zu machen. Fotomodel schwebte ihr vor.
Der Auslöser war jener Onkel Tiberius, der Rosalies Geliebter, zugleich aber väterlicher Freund war, denn Rosalie litt unter einer chronischen Geldnot. Sie war einfach auf einen Mann angewiesen, der mit beiden Füßen Bodenhaftung hatte. Lebensnotwendig war das besonders in Krisenjahren, von denen Deutschland ja genug zu bieten hatte.
Tiberius kam aus der Filmbranche und half, wo er konnte. Brenda hasste die Abhängigkeit von anderen, aber mehr noch hasste sie Armut, diesen Abgrund, an den die Mutter sie des Öfteren geführt hatte.
Eines Abends, in einem Berliner Hotelzimmer, gab es irgendetwas zu feiern, und die drei stießen gutgelaunt an. Tiberius schenkte Rosalie ständig Rotwein nach. Die ließ es geschehen, während sie mit einer gespielt fröhlichen Resignation zu ihrer wohlgewachsenen Tochter hinüberblickte, als müsste sie sich für alles, was da noch kommen sollte, entschuldigen.
Brenda erzählte später, an den Blicken des Onkels sei ihr klargeworden, dass sie an diesem Abend dran war. Zunächst war ihre Hoffnung, Müdigkeit vorzutäuschen. Doch Tiberius fing an, sie zielgerichtet mit der ganzen Erfahrung eines Lebemanns zu entkleiden, während Brenda lustlose Abwehr leistete. Mit einem Mal begriff sie, dass hier ein abgekartetes Spiel stattfand.
Brenda verstand schlagartig das merkwürdige Verhalten ihrer Mutter, die seit geraumer Zeit mit Gesten und Bemerkungen um Verständnis für das bat, was sie nicht auszusprechen wagte. Auch das ständige vertrauliche Lächeln des Freundes, das eine gewisse Vorfreude auszudrücken schien, sowie dubiose Bemerkungen oder anzügliche Komplimente deutete sie im Nachhinein so, dass es irgendeinen Deal gegeben hatte. Aber erst im nächtlichen Hotelzimmer begriff Brenda vollends, um was es sich handelte.
Als Rosalie im Nebenraum das Bett vollkotzte, begutachtete Tiberius den herrlichen Mädchenkörper, den er mit gezügelter Begierde genoss. Brenda ließ das alles über sich ergehen. Tatsächlich versuchte sie eine Erklärung dafür zu bekommen, was in diesen Mann gefahren war, den sie Stunden zuvor noch als väterlichen Onkel erlebt hatte, der jetzt nur Wollust zu empfinden schien und sich der nackten Brenda bediente, als hätte er es mit einem kalten Buffet zu tun.
Als er fertig war (was einige Zeit in Anspruch nahm), rauchte er eine Zigarette. Gönnerisch bot er Brenda eine an. Doch die würdigte ihn keines Blicks. Er zog sich an und begab sich in sein Zimmer, das um einiges komfortabler war als das der beiden Frauen.
Rosalie ging es am nächsten Morgen nicht gut. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Brenda hatte nach der Tat lange geduscht. Danach passte sie einen günstigen Moment ab und entnahm Tiberius’ Brieftasche sämtliche Geldscheine. Anschließend fuhr sie mit dem Fahrstuhl nach unten, betrat die Hotelbar, schlug die schlanken Beine übereinander und bestellte schwarzen Kaffee.
Tiberius fürchtete, sich in die junge Frau zu verlieben, eine Gefühlslage, die er unbedingt vermeiden wollte. Da kam ihm Brenda zu Hilfe. Als er sie auf die Banknoten in seiner Brieftasche ansprach – er tat es auf seine humorvolle Art –, wurde ihm mitgeteilt, dass dies nur eine Anzahlung gewesen sei. Wollte er ein zweites oder drittes Mal von ihrem Körper Gebrauch machen, würde der Spaß um einiges teurer werden.
Rosalie war und blieb die alte Freundin, der Tiberius weiterhin half. Da war er ein Ehrenmann alter Schule. Brenda hingegen betrachtete er wie ein Naturwunder, wie eine Raubkatze, die im Dschungel ihre eigenen Wege geht.
Er nahm sie mit zu Filmaufnahmen, stellte sie einflussreichen Männern vor und lud sie eines Tages ein, mit ihm den Hanseatischen Hof zu besuchen, eine Art Vergnügungs- und Erholungseinrichtung der gehobeneren Klasse, die sich nicht weit von Ahrensberg in der Geborgenheit der hamburgischen Walddörfer etabliert hatte.
Vor