Название | Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch |
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Автор произведения | H.J. Perrey |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373444 |
»Es geht doch nichts über Briefquellen«, sagte ich. »Damals hat man sich noch geschrieben, obwohl viele Haushalte schon einen Telefonanschluss hatten. Fasse Dich kurz, stand an jeder Telefonzelle. Das Telefon ist der größte Feind des Historikers. Heute kommen E-Mails und SMS hinzu. Sie verhindern das Generieren brauchbarer Texte, die noch in zweihundert Jahren von unserer Gegenwart künden.«
Sie sah mich mitleidig an. »Aber wenn wir den ganzen Blödsinn archivieren, den wir tagtäglich produzieren … Nehmen Sie den Krempel mit und werten Sie ihn meinetwegen aus.«
»Und was sagt Konrad dazu?«
»Er weiß nicht, dass ich die Briefe habe. Er geht davon aus, dass sie alle entsorgt wurden. Als er von seiner Tournee heimkehrte, waren sie jedenfalls weg. Hinzu kommt, dass er sich all die Jahre nicht sonderlich um den schriftlichen Nachlass seiner Eltern gekümmert hat. Ich bin froh, dass wir jetzt in Ihnen jemanden gefunden haben, der all den Geheimnissen einmal vorurteilsfrei auf den Grund geht. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand.«
Ich saß tagelang an der Entzifferung der Texte, deren Inhalt oft nur mit der Lupe erschlossen werden konnte. Ich hatte die Briefe eingescannt und konnte die Schrift entsprechend vergrößern, wodurch ebenfalls Unklarheiten beseitigt wurden. Zunächst erstellte ich Regesten, schrieb wichtige Informationen in eine Textdatei. Als die Sichtung abgeschlossen war, wollte ich einen Text schreiben, den ich als Baustein für eine mögliche Lebensgeschichte Traugott Buschs verstand, des Helden meiner Kommunalbiographie. Ich hatte die Geschichte vollständig vor Augen, sah die Bilder in mir wie die eines Films. Ich ließ den Film ablaufen, wenn ich nicht schlafen konnte, und überarbeitete ihn auf längeren Spaziergängen. Meine Geschichte war inhaltlich und stilistisch gelungen. Sie hatte nur den einen Nachteil: sie existierte allein im Kopf, ich hatte noch keinen einzigen Buchstaben zu Papier gebracht …
Der die das Dingsda …
[NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]
… Es klemmte, sträubte sich, wollte nicht hinaus. Es klang im nächsten Augenblick nicht, war banal, bedrückte mich, stellte mich infrage, forderte mich auf, es ein andermal zu versuchen. Dabei leuchtete es im Kopf hell und klar vor mir auf …
… Dann schrieb ich:
Rosalie saß auf dem alten Sofa und stopfte Strümpfe. Bisweilen unterbrach sie ihre Tätigkeit und streichelte den alten Kater, der neben ihr lag und sich eng an sie geschmiegt hatte. Streicheln und Kraulen hatten zur Folge, dass der alte Hinz – so hieß der Kater – noch heftiger schnurrte als sonst. Die alte Dame überlegte: Hier bin ich nun zur Ruhe gekommen. Vor ’33 habe ich in Berlin, Wien und Zürich auf der Bühne gestanden, da war an Ruhe oft nicht zu denken. Der brutalste Ruhestörer war dieser Hitler. Wo der auftauchte, war es vorbei mit der Ruhe. Erst kamen die Eroberungen, und als es mit denen nicht mehr ging, die Zerstörungen, wobei die Bomben aus heiterem Himmel das Schlimmste waren. Man muss ja bloß in die S-Bahn steigen und nach Hamburg hineinfahren. Sind doch keine zwanzig Minuten, und man ist mittendrin in der Zerstörung, in den Ruinen, unter den Trümmerhaufen. Es sollen Tausende sein, die da noch drunter liegen, angefressen von den Ratten, skelettiert, mumifiziert, eingeäschert.
Die Putzfrau, die jeden Mittwoch kam – mehr konnte sich Rosalie von Adelstorff nicht leisten –, meldete einen Besucher, einen Herrn Traugott Busch. Und kaum stand der in der Tür, dachte Rosalie: Mein Gott, wie schön er ist, und noch so jung. Er ist mindestes eins fünfundachtzig. Dazu das volle blonde Haar und die strahlend blauen Augen. Ein germanischer Recke. Den wird Brenda sich hoffentlich nicht entgehen lassen.
Traugott Busch machte eine knappe, korrekte Verbeugung und dankte für den Platz, den man ihm angeboten hatte, einen Sessel, der ebenso alt war wie das Sofa und den jungen Mann tief sinken ließ.
Der stellte sich vor: Jahrgang ’20, Teilnehmer am Westfeldzug, Verwundung. Die Verwundung musste er nicht ausführlicher erläutern. Dass der linke Arm fehlte, war leicht auszumachen. Besonders an Tagen wie dem heutigen, wenn es warm war und die Männer kurzärmlige Hemden trugen. Nach der Genesung wurde der junge Leutnant abkommandiert zum Heeresamt für Unterrichtsfragen. Nach Wiedereröffnung der Hamburger Universität begann er ein Studium der Germanistik und Geschichte sowie Philosophie. Geschichte vornehmlich bei Professor Fritz Fischer, den er ausführlich mit Lob bedachte. Er, Busch, würde auch weiterhin gern in Hamburg wohnen, aber da seien günstige Zimmer für Studenten oder angehende Lehrer nicht zu bekommen. Deshalb …
Rosalie nickte eifrig, insbesondere bei der Nennung von Namen, als wollte sie den Eindruck vermitteln, sie kenne all das und diesen und jenen obendrein. Kurzum, ihr sei es nicht viel besser ergangen: »Ja, ja, junger Mann, mir hat das Leben nichts geschenkt. Mit den Großen und am Ende mit den ganz Großen habe ich auf der Bühne gestanden, aber es sollte nicht sein.«
Sie ließ offen, was nicht sein sollte. Denn sie liebte das Vage, Geheimnisvolle und sprach, wenn ihr danach war, gern in Andeutungen und von schicksalsmächtigen Kräften, denen wir alle unterworfen wären.
Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Brenda stand im Raum. Ihr Blick fiel auf Busch. Der sprang auf und lieferte seine korrekte Verbeugung ab. Dann standen sich beide gegenüber – Traugott fassungslos und glücklich. Denn das war die Frau, die er in vielen Träumen vor sich gesehen hatte. Eine innere Stimme verkündete: Das ist sie, du hast sie gefunden. Gott hat deine Träume nicht übersehen, auch wenn er es gerade in diesen Zeiten mit unendlich vielen Träumen zu tun hat. Aber Gott hat immer Zeit, das unterscheidet ihn von den Menschen.
Rosalie bat ihre Tochter, einige Minuten zu bleiben. Herr Busch sei auf der Suche nach einem Zimmer, und in Hamburg sei nichts zu bekommen. »Deshalb hat er auf unsere Anzeige hin angerufen …«
Busch räusperte sich. »Es hängt natürlich auch von der Höhe der Miete ab. Mir sind da enge Grenzen gesetzt.«
Brenda, ganz in Abwehrhaltung, denn auch sie war von dem Mann und der Begegnung auf eigenartige Weise berührt, sah ihn herausfordernd an: »Darüber machen Sie sich keinen Kopf. Uns liegt daran, ordentliche Leute ins Haus zu bekommen. Jungen Männern, die das Vaterland verteidigt haben, machen wir einen Sonderpreis. Den Garten dürfen Sie mitbenutzen …«
»Und keine Damenbesuche!«, rief Rosalie mit gequälter Stimme dazwischen. »Jetzt, wo wir einen Katholiken zum Bundeskanzler bekommen haben, wird wieder auf die Moral geachtet.«
Busch zuckte leicht zusammen, überlegte kurz, ob er gestehen sollte, dass er aus dem streng katholischen Münster stammte. Aber er zog es vor zu schweigen. Katholiken waren im lutherischen Holstein nicht beliebt. Es gab Schilder an Gartenpforten: An Flüchtlinge und Katholiken wird nicht vermietet. Auch Adenauer, dem es immerhin gelungen war, Protestanten und Katholiken in einer christlichen Partei zusammenzuführen, wurde zunächst argwöhnisch betrachtet.
Traugott sagte: »Wie ich im Radio hörte, ist er mit einer Stimme Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt worden. Das wird seine eigene gewesen sein.«
Brenda schien es eilig zu haben. Rosalie erhielt ein Küsschen. Kater Hinz ebenfalls.
»Bleib ein wenig«, bettelte Rosalie und beobachtete Busch dabei genau. »Andauernd bist du unterwegs. Und abends bist du auch immer auf und davon. Das ziemt sich nicht für eine junge Dame.«
Brenda lachte. »Einer muss ja das Geld verdienen. Unterhalte dich mit unserem neuen Mieter ein bisschen und zeige ihm sein Zimmer.« Dann wandte sie sich an Busch: »Wo arbeiten Sie eigentlich?«
»Ich studiere, Fräulein von Adelstorff.«
»Das von können Sie getrost weglassen. Lediglich Mutter legt Wert auf den Adel, von dem niemand weiß, wie wir überhaupt dazu gekommen sind. Sie studieren also. Aber das macht nicht satt, und die Miete kann man davon erst recht nicht bezahlen.«
Traugott, der sich immer stärker