Название | Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch |
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Автор произведения | H.J. Perrey |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783947373444 |
Dann kommt der Tag der Präsentation, mit Reden, Grußworten und einer Lesung des Verfassers. Der wird vom Bürgermeister ausführlich vorgestellt, wobei der Verwaltungschef es sich nicht nehmen lässt, die Entstehung des historischen Werks Revue passieren zu lassen. Er tut dies auf seine humorvolle Art, verweist aber auch darauf, wie viele Stunden harter Arbeit in diesem ansprechenden Werk steckten. Er zitiert Neil Postman, denn in keiner seiner Reden darf das erbauliche Zitat fehlen: Die Historiker wissen auch, dass sie ihre Geschichten zu einem bestimmten Zweck schreiben – nicht selten, um die Gegenwart entweder zu verherrlichen oder zu verdammen.
Ja, es ist rhetorisch die Stunde des Bürgermeisters, der sich von dieser Sentenz gar nicht losreißen kann, seine Gemeinde-Chronik als vorbildlich preist und die Nachbargemeinden ermuntert, Vergleichbares auf den Weg zu bringen. Dabei verrät er kein Geheimnis, wenn er hier und jetzt mitteilt: Es gebe schon Anfragen benachbarter Kommunen, ob der junge Forscher nicht für ähnliche Projekte zur Verfügung stünde. Der wird von der Presse umlagert, beantwortet Fragen, signiert Bücher und fährt gleich danach in den Urlaub.«
Ich habe geduldig zugehört und mich über Petersens Darstellung amüsiert. Mindestens dreimal habe ich sie schon aus seinem Munde vernommen, und jedes Mal bot er sie anders dar, weil er sie geschickt auf sein Publikum zuschnitt. Mir ist diese Methode schlecht bekommen. Hatten wir Besuch zuhause und die üblichen Geschichten aus Beruf und Freizeit und von der letzten Urlaubsreise waren an der Reihe, weil alles andere abgegrast war, pflegte meine Frau dazwischenzurufen: »Aber das hast du beim letzten Mal ganz anders erzählt. Außerdem war es so und so und nicht anders.«
»Der eigentliche Clou kommt ja erst noch«, werfe ich ein.
»Ja, ja! Sie kennen die Geschichte, vermute ich wenigstens. Unser Chronist ist mit unbekanntem Ziel verreist, hat zuvor allerdings alle belastenden Quellen durch den Schredder geschickt. Dann passiert einige Zeit nichts, bis ein pensionierter Realschullehrer beim Bürgermeister vorstellig wird. Der klassische Heimatforscher, der jeden Weg und Steg in seiner Gegend kennt, steht in der Tür: verschroben, kompetent, mit Trachtenjacke und Jägerhut und mit allen Wassern gewaschen.
Während der Bürgermeister die behutsam vorgetragenen Bedenken flott vom Tisch wischt, gibt der Heimatforscher hartnäckig zu bedenken, dass sein Spezialgebiet Stadtbrände im vorindustriellen Zeitalter seien, speziell im norddeutschen Raum, und dass es jenen ausführlich beschriebenen Brand vom 6. Juni 1799 definitiv nie gegeben habe.
Kurz und gut: Die Sache wird publik, der Heimatforscher zum gefragten Gesprächspartner von Kommunalpolitikern und Presseleuten. Schließlich kommt der Bürgermeister nicht daran vorbei, die Chronik einem Experten des Landesarchivs vorzulegen, der die Fälschung bestätigt. Der Eklat ist perfekt.«
»Noch nicht ganz«, wende ich ein. »In der örtlichen Buchhandlung findet die Chronik in den kommenden Monaten einen unerwartet großen Absatz, was die Presse zunächst damit begründet, dass eine solche Fälschung letztlich auch ihren Sammlerwert besitze. Doch das ist nicht die Erklärung. Die Chronik findet mehr und mehr Leser, die stolz berichten, sie hätten das Buch mit Gewinn gelesen. Endlich erfahre man, was sich die letzten Jahrhunderte im Ort ereignet habe. Und trotz aller Fehler (wo kämen die denn nicht vor) biete das gelungene Werk viele Informationen und sei spannender als der frühere Unterricht des besserwisserischen Realschulpaukers.«
Petersen kippt seinen Aalborg hinunter und sieht mich spöttisch an. »Ich hoffe, dass Sie nicht in einen solchen Konflikt von Dichtung und Wahrheit geraten. Ich wohne seit ewigen Zeiten in Neustadt. Mir würden Sie nichts vormachen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werfe ich vor der Drucklegung einen Blick ins Manuskript. Verstehen Sie das nicht als Misstrauen. Doch Kommunalgeschichtsschreibung ist manchmal schwieriger zu betreiben als die Geschichtsdarstellung auf nationaler Ebene.«
»Ich erwarte Ihre kritische Begutachtung mit klopfendem wie freudigem Herzen.«
»Vor allem behandeln Sie die letzten sechzig Jahre nicht so stiefmütterlich. Die Nazis dürfen nicht verschwiegen werden, das ist klar. Die haben sich mit ihren zwölf jämmerlichen Jahren einen festen Platz in der Geschichte der letzten tausend Jahre gesichert. Ebenso unverzichtbar ist das Kaiserreich. Ob Feuerwehr, Schützen-, Gesangs- oder Sportverein – sie haben alle ihre Wurzeln in der guten alten Zeit. Die Leute wollen Groß- und Urgroßvater in Uniform und Pickelhaube sehen. Was kucken Sie zur Tür? Haben Sie Angst, dass uns jemand hört?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich lausche Ihren Ausführungen, die ich an Ihrer Stelle bei der Präsentation meines Buches nicht wiederholen würde.«
»Wird schon nicht passieren, denn ich gehe davon aus, dass Sie mir die Rede schreiben werden. Oder ist das zu viel verlangt?«
»Abgemacht!«
»Prosit! Was ich aber sagen wollte: Ist der Wiederaufstieg nach 1949 nicht ebenso wichtig? Das, was man zu Recht als Wirtschaftswunder tituliert hat, waren doch ebenso verrückte wie erfolgreiche Jahre. Die kann nur einer schlechtreden, der sie nicht miterlebt hat. Die 60er sind mehr als APO, Rudi Dutschke, Vietnam-Krieg, Pille und Gruppensex.
Sie grinsen, aber Spaß beiseite. Manchmal denke ich, wir waren damals weiter. Wenn wir heute etwas von diesem 60er-Geist hätten: von der Aufbruchsstimmung, dem Glauben an die Zukunft und dem Vertrauen in Technik und Fortschritt! Wann sind die früher nicht zu befahrenden Feldwege asphaltiert worden? Wann wurde die Kanalisation für die gesamte Stadt fertig? Ebenso der Bau der Kläranlage. Vom Neubau des Gymnasiums will ich gar nicht reden. Wir haben drei Gewerbegebiete, fünf Neubaugebiete geschaffen. Das sind doch Errungenschaften, die irgendwie gewürdigt werden müssen.«
»Ich stimme Ihnen zu. Aber wo bleibt der Mensch bei so viel Daseinsvorsorge?«
»Das ist eine andere Frage. Da müssen Sie einzelne Familiengeschichten ausleuchten.«
»Die ewigen Großbauern- und Handwerkerdynastien.«
»Sind die etwa nicht erwähnenswert?«
»Ich meine die normalen Menschen, die hier lebten oder leben mussten. Die hier scheiterten oder von bestimmten Leuten zu Fall gebracht wurden. Für die Neustadt an der Bille nichts Erinnerungswürdiges hat. Wenn man auf eine bedrückende Jugend zurückblickt, ist das immer an eine Zeit wie an einen Raum gekoppelt. Das müsste der Geschichtsforscher freilegen. Einer unserer bedeutenden Kommunalhistoriker hat in diesem Zusammenhang von der Rückkehr des Menschen in die Geschichtsschreibung gesprochen. Das war 1993. – Mir fällt der Name Busch ein, der langjähriger Direktor des Gymnasiums war. Hat es seinerzeit nicht so etwas wie einen Fall Busch gegeben?«
»Mein lieber Schreiber, nun machen Sie bloß kein neues Fass auf. Das hat damals viel Wirbel gegeben, interessiert heute aber niemanden mehr. Lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Das Wirtschaftswunder ist wichtiger!«
»Und dann stößt man immer wieder auf den Namen Osswald …«
»… ist ein ehrenwerter Mann, hat als Unternehmer, Kommunalpolitiker und Investor viel für diese Stadt getan. Dabei sollte es bleiben. Treten Sie bloß keinem allzu doll auf die Füße. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von einflussreichen Politikern, die würden Sie lieber heute als morgen loswerden. Ein Chronist lässt sich gut einsparen. Das geht ratzfatz, und Sie sitzen wieder in der Schule, aus der ich Sie damals befreit habe.«
Petersen gegangen, die Aalborg-Flasche leer. Der Abendhimmel tiefschwarz, der Mond hinter Wolken verborgen – ich bin wahrscheinlich mal wieder der Letzte im Haus. Alles kein Grund, mich zu beneiden.
Paula packt aus
[NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]
Ich hielt am ersten Sonntag des Monats meinen üblichen Vortrag im großen Speisesaal des Seniorenstifts. Mittels einer Power-Point-Präsentation unternahm ich auch dieses Mal virtuelle Ausflüge in die Stadtgeschichte. Am Ende der gutbesuchten Historischen