Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch. H.J. Perrey

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Название Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch
Автор произведения H.J. Perrey
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947373444



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Abend. Im Kreml brennt noch Licht?«

      »Nehmen Sie Platz«, sage ich und zeige auf den Sessel, der mittlerweile sein Stammplatz geworden ist: mit dem Rücken zur Wand, so dass er meine Wirkungsstätte mühelos überblicken kann.

      »Ich sah Sie kommen. Sie gingen unsere Shopping Mall entlang, ohne die Auslagen zu beachten, was der Einzelhandel Ihnen nachtragen wird. Sie hatten aber einen Neustädter Landboten unterm Arm, was zu einem geschäftigen Bürgermeister bestens passt.«

      »Ich habe Ihnen die Postille mitgebracht, weil ich dachte, es wäre besser, wenn Sie’s heute Abend schon erfahren. Die SPD setzt Ihnen die Pistole auf die Brust. Sie sollen im Frühjahr fertig werden. Im Herbst soll Ihr Werk druckfrisch auf dem Tisch liegen. Das hat die Fraktion, ohne uns vorher in Kenntnis zu setzen, mir nichts, dir nichts auf die Tagesordnung gesetzt. Wie gesagt: ohne uns vorher zu fragen. Lesen Sie Seite drei. Wahrscheinlich sind die noch immer eingeschnappt, weil wir ihnen die Mittel für die Kindergartensanierung gekürzt haben. Dahinter steckt wieder mal Ihre Rote Cosima, die uns mit ihrer aufmüpfigen Berichterstattung die Weihnachtslaune verderben will. Ich rufe die morgen früh gleich an!«

      »Wieso meine Rote Cosima? Ich pflege hier ein kollegiales Verhältnis, verstehe mich gut mit ihr. Wir haben in puncto Geschichtsschreibung eine gemeinsame Wellenlänge. Sie ist im weitesten Sinne eine gute Freundin. Offiziell spreche ich von meiner Bekannten. Im Übrigen arbeitet sie freiberuflich und liegt eher auf der Linie des Holsteiner Tageblatts als auf der des Landboten

      Petersen lacht ein wenig zu laut. »Da gibt es aber auch andere Versionen, von wegen kollegiale Freundin …«

      »… die Sie hoffentlich nicht sonderlich beeindrucken. Noch einmal: Ich habe ein Verhältnis zu ihr, nicht mit ihr. Wir sind befreundet, auch wenn Sie lachen! Doch zu meinem Werk. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das Erscheinen meiner Stadt-Chronik an einen bestimmten Termin gekoppelt haben. Als ich vor drei Jahren den Auftrag erhielt, hieß es auch auf Seiten der SPDler, lieber gründlich arbeiten als einen Schnellschuss abliefern. So eine Chronik, oder sagen wir besser: Stadtgeschichte, gönne man sich ohnehin nur einmal im Jahrhundert.«

      Ich hatte die Zeitung aufgeschlagen, wo unter der Überschrift: Neustadt braucht endlich eine Chronik ziemlich nassforsch über meine bisherige Arbeit berichtet wurde. Da gäbe es die verschiedenen Hochzeiten, auf denen ich gleichzeitig tanzen würde. Die Chronik allerdings – teilte der SPD-Chef im Interview mit – sei man allein schon dem wachsenden Tourismus schuldig. Einige zehntausend Euro seien bisher in das Projekt geflossen, jetzt wolle man Ergebnisse sehen.

      Petersen reibt sich die Nase: »Nun lassen Sie sich bloß nicht die Feierabendstimmung verhageln. Das Ganze ist doch ein durchsichtiges Manöver. In zwei Jahren haben wir Kommunalwahlen, da wollen sich die Sozen mit Ihrer Chronik in Szene setzen. Damals allerdings, als wir die Sache anschoben, waren sie strikt dagegen, auch nur einen Euro für solch ein Projekt zu bewilligen. Dabei lag die letzte Chronik über hundert Jahre zurück, hatte die Maße und das Gewicht einer Gehwegplatte und bejubelte unseren umtriebigen Kaiser, Wilhelm den Plötzlichen, auf jeder Seite mindestens einmal.«

      »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«

      »Schnaps während der Dienstzeit. Sie bringen mich in Verlegenheit!«

      »Von Schnaps habe ich nicht gesprochen. Ich habe auch Selters.«

      »Sie schätzen mich richtig ein. Die Grünen haben uns seinerzeit zur rauchfreien Verwaltung gemacht. Vom alkoholfreien Rathaus war nie die Rede. Unsere dänische Partnerstadt versorgt uns regelmäßig mit Aalborg Aquavit. Den sollten wir im Geiste der Völkerverständigung nicht schlecht werden lassen.«

      Ich stelle zwei Gläser auf den Tisch, schenke ein. Petersen schnüffelt und nickt mir zu. »Auf unsere dänischen Freunde!«

      Er lacht ausgelassen. Dann holt er tief Luft. »Kennen Sie eigentlich die Geschichte von jener norddeutschen Gemeinde, die – weil es schließlich alle machten – sich eine Chronik spendieren wollte, einige Sponsoren ins Boot holte und schließlich einen angehenden Historiker fand, der seit Jahr und Tag über seiner Doktorarbeit brütete und froh war, endlich einmal für seine staubtrockenen Recherchen honoriert zu werden?«

      Natürlich kenne ich die Geschichte. Deshalb antworte ich entgegenkommend: »Ich bin mir nicht ganz sicher.«

      »Na, dann hören Sie!« Er füllt unsere Gläser nach und reibt sich die Hände. »Also, der Bürgermeister überweist ihm monatlich ein stattliches Sümmchen und freut sich über den tüchtigen jungen Mann, der überdies noch etliche Fahrten ins Landesarchiv und sonst wohin abrechnet. Die Aktenlage allerdings ist miserabel. Die Presseartikel der letzten hundert Jahre sind meist ebenso wenig aussagekräftig wie heute auch. Aus Amts- und Kreisblättern ist meist nur Belangloses herauszufischen. Amtliche Verlautbarungen spiegeln die Banalitäten eines längst vergangenen Alltags wider. Von einem wohlgeordneten Gemeindearchiv kann ohnehin nicht die Rede sein. Als der Geschichtsforscher im Landesarchiv nachfragt, ob es keine einschlägigen Quellen zur Kommunalgeschichte gebe, muss er sich die Gegenfrage gefallen lassen, ob die zuständigen Herrschaften denn jemals etwas abgegeben hätten. Schnell wird offenbar, dass die Verantwortlichen sich zwei Jahrhunderte lang nicht sonderlich für ihre eigene Geschichte interessiert hatten.

      Doch die Uhr tickt, und als man bei dem geplagten Mann anfragt, wann mit der Chronik zu rechnen sei, erlebt er eine waschechte Panikattacke. Er hat wenig Schreiberfahrung, sieht man einmal von seiner Diplomarbeit ab, und hat folglich keine Zeile zu Papier gebracht. Unmengen von Kopien hat er anfertigen lassen oder selbst hergestellt, prallgefüllte Aktenordner angelegt. Aber wie wird daraus ein Buch?

      In einer schlaflosen Nacht, die er neben seiner ahnungslosen Verlobten verbringt, sieht er die düstere Alternative auf sich zukommen: Entweder er fährt ins Rathaus und offenbart sich den lokalen Autoritäten, oder er übergibt sich dem nahegelegenen Baggersee und macht seiner bis dato ehrlichen, aber beruflich verkorksten Existenz ein Ende.

      Morgens beim Frühstück bricht er in Tränen aus und gesteht seiner Verlobten die furchtbare Situation. Die junge Frau, eine Kindergärtnerin, weiß ihn zu trösten. Was er sich nur plage. Die Leute wollten am Ende ein Buch zum Verschenken oder als Zierde für das Regal haben, während andere gern in Büchern schmökerten, eben weil es unterhaltsam sei und immer aufs Neue zu der Einsicht verhelfe, dass früher doch nicht alles besser war. Nicht einmal die Sommer waren länger. Wenn er ihnen solche Einsichten liefere, werde sich keiner beschweren.

      Gesagt, getan: Wenn man Bilder fälschen kann, dann erst recht Dokumente und Quellen aus der guten alten Zeit. Die beiden bringen ihre Laptops in Position und legen los. Manchmal biegen sie sich vor Lachen, wenn wieder ein historisches, bis dato unbekanntes Dokument auf der Festplatte Einzug gehalten hat.

      Vor allem die junge Frau erweist sich als Talent. Da gab es vor zweihundert Jahren eine Feuersbrunst, viel gewaltiger als die bekannte, auf die in der Kirche eine Tafel verweist. Entsetzliche Szenen haben sich abgespielt, alles erinnert an Friedrich Schillers Lied von der Glocke. Die entsprechenden Verse werden zitiert, ältere Leserinnen und Leser werden sich erinnern, zumal die Urgroßeltern das literarische Ungetüm in der Schule auswendig lernen mussten. Und wieder sind zwei Druckseiten gefüllt.

      Auswanderer schrieben über ihre bewegenden Eindrücke aus der Neuen Welt – und, vice versa, bisher völlig unbekannt: Es gibt auch Briefe aus der deutschen Heimat, die von den Lebensumständen der Landarbeiter packende Schilderungen liefern. Leider stammen viele Quellen aus Privatbesitz oder sind fatalerweise im Zuge einer Versteigerung oder Haushaltsauflösung in der Versenkung verschwunden. Sie sind – das wird zutiefst bedauert – nicht mehr verfügbar und wurden durch unsere Chronik gewissermaßen in letzter Minute konserviert.

      Und so geht es weiter. Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg erzählen von dramatischen Vorstößen mitten hinein in die feindlichen Linien von Verdun. Die Revolution 1918/19 verläuft in unserem Städtchen besonders geschichtsbuchreif. Ganze Kapitel aus älteren Chroniken und dem süddeutschen Raum werden entsprechend umgeschrieben und finden Eingang in die rasant anwachsende Arbeit.

      Weiter! Was sich irgendwo in Deutschland abgespielt hat, ereignete sich