3 zu viel für diesen Job. Herwig Silber

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Название 3 zu viel für diesen Job
Автор произведения Herwig Silber
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941593



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die Intelligenz, Schrulligkeit und Intuition kongenial miteinander verknüpfen, die reinsten Innovationsschleudern, nicht mit Gold aufzuwiegen.« Herzberg streckte ein großformatiges Buch hoch. Auf dem ramponierten Einband waren Männer mit Pelzmützen und Frauen in prächtigen Gewändern vor einer russisch-orthodoxen Kirche zu sehen. »Dem russischen Großfürsten Wladimir wird nachgesagt, dass seine Strategien für erfolgreiche Feldzüge im Wesentlichen auf der Inspiration eines begnadeten Märchenerzählers gründen. Märchen, Geschichten, Erzählungen, all das basiert auf Kreativität. Kreativität als Humus für neue Produkte und Verfahren, ohne die auf Dauer kein Umsatz, kein Gewinn, keine unternehmerische Expansion möglich ist. Und weil Kreativität in Führungspositionen unerlässlich ist, möchte ich jetzt feststellen, wie es um Ihre Fantasie bestellt ist. Zeigen Sie, was Sie Ihrem zukünftigen Arbeitgeber auf diesem Feld bieten.« Herzberg ließ das Buch sinken. Erst jetzt bemerkte er, dass er ziemlich laut geworden war. »Warum sehen Sie mich eigentlich alle so erstaunt an?«, fragte er.

      »Weil wir gespannt sind, wie Sie das rauskriegen wollen«, erklärte Stein, die anderen nickten.

      »Okay, na dann. Marc erklärt Ihnen, was wir uns dazu ausgedacht haben.« Der Assistent nahm ein Holzkästchen vom Tisch und stellte sich in Positur wie ein Beamtenanwärter in Erstausübung eines wichtigen Verwaltungsakts.

      »Hier drin sind acht Zettel. Auf den weißen steht der Anfang eines alten russischen Märchens. Ihre Aufgabe besteht darin, die Geschichte im Stil der Textvorlage zu Ende zu erzählen. Außerdem gibt es noch gelbe Zettel. Darauf finden Sie ein gängiges Produkt der Jetztzeit. Das müssen Sie möglichst geschickt in die Geschichte einflechten. Alles klar?« Lauenroth schüttelte das Kästchen und hielt es Rita Sessinger hin. »So, die Dame, Sie haben die erste Wahl.« Sie griff zögernd in die Schachtel, entnahm einen gelben und einen weißen Zettel. »Jetzt die Herren, bitte sehr.« Während Lauenroth die Schachtel herumreichte, schaltete sich Herzberg wieder ein.

      »Sie kennen ja bereits die Stellwände da hinten. Da können Sie jetzt ungestört schreiben. Gibt es noch Fragen zum Prozedere?«

      »Wie lang soll der Text werden?«, wollte Marr wissen.

      »Das bleibt Ihnen überlassen, wichtig ist nur, dass Sie die Geschichte rechtzeitig beendet haben, wenn das Zeichen ertönt. Unsere Auswertung geht übrigens ganz schnell, wir können die Textentstehung am Bildschirm verfolgen.« Herzberg sah auf die Uhr. »Viertel nach vier sehen wir uns hier wieder.«

      »Moment bitte noch.« Rita Sessinger zögerte, sollte sie wirklich mit ihrer Idee herausrücken? Sie hatte sich gleich zu Anfang schon hinreichend blamiert.

      »Ja, Rita?«

      »Auch auf die Gefahr hin, dass es albern klingt, ich fände es schön, wenn wir was von den Geschichten der anderen hören könnten.«

      »Das ist überhaupt nicht albern, sondern eine tolle Anregung.« Herzberg strahlte und ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Also, beschlossen und verkündet, die schönste Geschichte wird vorgetragen, vorausgesetzt der Autor beziehungsweise die Autorin ist damit einverstanden.« Herzberg schob sich das Märchenbuch unter den Arm und verließ den Raum. Stein blickte abwechselnd auf den weißen und den gelben Zettel in seinen Händen, wirkte dabei ein wenig unbeholfen.

      »Das kann ja heiter werden.«

      »Irgendwie aber auch eine witzige Idee, finden Sie nicht?«, flötete sie gut gelaunt.

      »Was haben Sie denn gezogen?«

      »Dürfen wir das denn verraten?« Sie musterte ihn spitzbübisch.

      »Selbstverständlich, niemand hat von einem Geheimnis gesprochen.«

      »Also, bei mir steht«, sie zögerte, »Navigationssystem.«

      »Wow, viel Spaß damit am Hof des Zaren.«

      »Wie kommen Sie auf den Zarenhof?«

      »In jedem anständigen russischen Märchen taucht irgendwann der Zar auf, das ist nun mal so.«

      »Und was steht auf Ihrem Zettel?«, fragte sie neugierig wie ein Kind.

      »Trockenrasierer, ganz schön blöd, ohne Strom. Na egal, werde mir schon irgendetwas zurechtspinnen.« Er ließ den Zeigefinger an seiner Schläfe rotieren.

      Lauenroth bedeutete den Teilnehmern, zu ihm zu kommen. Nachdem er jedem seinen Platz zwischen den Stellwänden zugewiesen hatte, folgte er Herzberg in den Monitorraum. Alsbald vernahm man das leise Klappern der Tastaturen aus dem Lautsprecher. Herzberg und Lauenroth lasen am Bildschirm die Mitteilung, die Kampen ihnen schrieb. Herzberg zuckte lakonisch mit den Schultern, Lauenroth kicherte leise. Dann konzentrierte man sich wieder auf die Wörter und Sätze der anderen drei, die verändert, verschoben, gelöscht, teils wiederhergestellt wurden und die zügig, dann wieder stockend, zum endgültigen Textkörper heranreiften. Um zehn nach vier ertönte das vorläufige Schlusssignal, fünf Minuten später das endgültige, danach verriegelte Lauenroth die Eingabe.

      »So«, meldete sich Herzberg, nachdem er mit seinem Assistenten in den Aktionsraum zurückgekehrt war. »Wir haben Erzählungen von ganz unterschiedlicher Qualität gelesen. Am elegantesten – jedenfalls unserer Meinung nach – hat Dr. Michael Marr die Aufgabe gelöst.« Herzberg sah ihn aufmunternd an. »Wie wär’s, Michael, haben Sie Lust, Ihre Geschichte vorzutragen?« Marr zierte sich erst ein wenig, doch da die anderen ihn bedrängten, ließ er sich sehr schnell zum Vortrag überreden. Derweil blätterte Herzberg in dem mitgebrachten Märchenbuch eine bestimmte Seite auf und begann daraus vorzulesen:

      In einem Dorf lebten einmal drei Brüder: Semjon, Wassili und der jüngste, der dumme Jemelja. Semjon und Wassili trieben Handel und Geschäfte, Jemelja lag den ganzen Tag faul auf dem Ofen. Einmal mussten die beiden älteren Brüder in die Stadt fahren und sagten zu Jemelja: ›Wir bleiben eine ganze Woche weg. Hör auf unsere Frauen, hilf ihnen, und wenn du artig bist, bringen wir dir aus der Stadt Lebkuchen und Wodka mit.‹ ›Von mir aus‹, sagte der dumme Jemelja, drehte sich auf die andere Seite und schlief weiter.

      So weit der Text des Märchens im Original.« Herzberg klappte das Buch zu. »Nun möchten wir vom Autor erfahren, wie er die Geschichte weitergesponnen hat, bitte schön.« Marrs Wangen überzog eine leichte Röte. Er schob die Brille zurecht, raschelte Aufmerksamkeit heischend mit seinem Manuskript und begann:

      »Es handelt sich um ›Inlineskates‹, die ich in den Stoff des Märchens einweben sollte. Also, ich sag mal … es geht los:

      »Jemelja verfiel in einen tiefen, schweren Traum. Der handelte von einem Zauberer, der in einer kleinen Hütte am Rande des Dorfes lebte. Die Dorfbewohner hatten ihren Kindern strengstens verboten, mit dem grimmig dreinblickenden Sonderling zu sprechen. Sie fürchteten, er könne sie verhexen, um sie dann in seine Gewalt zu bringen. Jemeljas Neugierde aber war stärker als all die Ängste, die seine Familie bei dem Namen ›Roganow‹ – so hieß der Zauberer – äußerte. Eines Tages erklomm Jemelja den Baum vor Roganows Hütte und wartete neugierig, was wohl geschehen würde. Bald hörte er drinnen ein lautes Rumoren und kurz danach flog mit ohrenbetäubendem Krachen die Tür aus den Angeln.«

      Marr blickte unsicher von seinem Manuskript auf. Stellte dann aber mit Genugtuung fest, dass man seinen Ausführungen offensichtlich mit Interesse folgte. Der Stimme mehr Druck verleihend und die Sätze wohl artikulierend, fuhr er fort in seiner Erzählung:

      »Jemelja kletterte rasch vom Baum, näherte sich neugierig der Hütte und blickte durch den schwarzen, beißenden Qualm in das Innere der Behausung. Es war nichts zu erkennen und so wagte er sich weiter vor. Kaum hatte er den ersten Schritt über die Türschwelle getan, da wurde er gepackt und in die Hütte gezerrt. Alles Wehren half ihm nicht. Erst als der Zauberer ihn in ein Zimmer zerrte, ließen die kräftigen, knochigen Hände von ihm ab. ›Was willst du hier, Bürschchen?‹, fragte ihn der große weißbärtige Roganow. ›Ich habe dich schon die ganze Zeit beobachtet.‹ ›Nii…chts‹, stammelte Jemelja. ›So, so, nichts. Aber für Lügen ist es jetzt zu spät‹, fauchte der Zauberer. ›Du kommst mir gerade recht, denn ich brauche Menschenblut; am besten, das eines Zwölfjährigen. Der Versuch mit dem Lebenssaft der streunenden Katzen ist fehlgeschlagen, wie