Ein herrlicher Ort für das Unglück. Damir Karakaš

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Название Ein herrlicher Ort für das Unglück
Автор произведения Damir Karakaš
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941531



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      Röhren aus durchsichtigem Plexiglas, durch die Rolltreppen voller Touristen fahren, rote, senkrechte Röhren, durch die Aufzüge voller Touristen fahren, blaue Röhren, bunte Röhren; der Glaskubus, der den zentralen Teil des Centre Georges Pompidou bildet, reflektiert die Sonne: als würde ich durch ein Kaleidoskop schauen.

      Die Touristen quellen von überall her darauf zu, vor allem aus Richtung Les Halles. Es ist ein ununterbrochenes Strömen auf den schrägen Platz Pompidou.

      Er ist der einzige Ort in Paris, an dem man frei zeichnen, spielen, jonglieren, vor den Touristen Rasierklingen schlucken und noch allerlei andere Kunststücke vorführen kann … Ich stehe vor zwei zusammenfaltbaren Anglerstühlen und versuche einen Touristen zu erwischen, um eine Karikatur von ihm zu zeichnen.

      Ununterbrochen lasse ich den Blick über die Menge schweifen, doch irgendwann breite ich ohnmächtig die Arme aus.

      Das Problem besteht darin, dass vor mir schon eine Unmenge von Zeichnern versucht hat, die Touristen zu bearbeiten. Das Problem ist mein beschissener Standort. Ich locke sie von der Mitte des Platzes aus an, doch um mich herum ist alles besetzt, es wimmelt von gierigen Zeichnern.

      »Hey, mein Herr!« Ich laufe hinter einem rüstigen, alten Mann her. »Wollen Sie eine Karikatur?«

      Er bleibt stehen, wechselt die Brille und betrachtet wie ein versierter Kunstsammler Monsieur Allen.

      »Nicht schlecht«, sagt er. »Gar nicht schlecht.«

      Seinem Akzent nach vermute ich, dass er Franzose ist.

      »Möchten Sie, dass ich auch Sie zeichne?«, frage ich.

      »Ich habe keine Zeit«, sagt er freundlich und lächelt.

      »Das mache ich in fünf Minuten im Stehen!« Ich laufe neben ihm her und beginne zu zeichnen.

      Er sieht mich an, seufzt tief auf und wartet, bis ich mit dem Zeichnen fertig bin. Erneut setzt er die Brille auf, durch die er Woody betrachtet hat, und lächelt. »Arbeiten Sie auch in Farbe?«

      Ich taste in meiner Tasche nach einem Päckchen mit Farbstiften. Eigentlich arbeite ich nicht in Farbe, es dauert zu lange, vor allem, wenn man das Gesicht, die Augen und die Hände farbig gestalten muss, was ziemlich kompliziert ist. Doch wenn jemand darauf besteht, kann ich problemlos seinen Mantel, seine Schuhe, seinen Hut und seine Krawatte einfärben, das wird dann etwas teurer. »Ja«, sage ich. »Aber dann wird es teurer.«

      »Und was kostet Schwarzweiß?«, fragt er.

      »Fünfzehn Euro«, sage ich.

      »Ich will es nicht«, sagt er und reicht mir die Karikatur.

      »Gut.« Ich laufe hinter ihm her. »Wie viel geben Sie?«

      »Lassen Sie es gut sein, ich habe doch gesagt, ich will nicht.«

      »Geht es für zehn? Für sieben?«

      Er bleibt stehen, zieht zehn Euro aus der Tasche, reicht mir das Geld und nimmt die Karikatur.

      Dann sagt er: »Nur weil ich selbst auch Karikaturen zeichne.«

      Ich habe ihn nie gesehen, weder hier noch bei Notre Dame. Ich habe von einigen Franzosen gehört, die auf dem Place du Tertre auf dem Montmartre Portraits und Karikaturen zeichnen, aber dort braucht man eine Erlaubnis, die teuer bezahlt wird. Also frage ich ihn: »Und wo zeichnen Sie?«

      Er sagt ein wenig verärgert »Au revoir« und geht.

      In den folgenden zwei Stunden zeichne ich nur noch eine weitere Karikatur und verdiene zehn Euro.

      Manchmal gebe ich sie auch für fünf Euro ab, manchmal gebe ich sie aus Prinzip nicht ab. Wenn jemand unverschämt oder geizig ist, zerreiße ich sie lieber, als sie für ein paar Euro herzugeben.

      Manchmal passiert es auch, dass die Touristen die Karikatur nicht haben wollen, weil sie nicht zufrieden sind.

      Das bringt mich immer wieder zur Verzweiflung; während man zeichnet, rechnet man schon damit, sich die Kohle in die Tasche zu stopfen, und dann ist es eine Niete. Letzte Woche habe ich an dieser Stelle hundertsiebzig Euro verdient.

      Alles hängt vom Tag ab und vom Glück, aber am wichtigsten ist und bleibt der Standort. Wenn ich an einem schlechten Standort an einem Tag hundert Euro verdiene, hätte ich an demselben Tag an einem besseren Ort das Doppelte verdient.

      Was das Zeichnen betrifft, so ist es nicht nötig, besonders gut zu sein. Ich habe als Kind schon viel gezeichnet, gemalt und kleine Skulpturen aus Holz geschnitzt. Mein Großvater sagte mir, ich solle den Bleistift nicht abnutzen, denn er diene zum Schreiben; mein Vater wies mich an, die Dachrinnen und Zäune zu streichen, damit ich irgendwie von Nutzen sei. Es störte ihn vor allem, dass mir der Bleistift lieber war als irgendwelche landwirtschaftlichen Gerätschaften. Mein Vater wiederholte ständig: »Aus dem wird nie was.«

      Eine Zeitlang hängte ich meine Bilder an die Bäume im Wald.

      Das waren meine ersten Ausstellungen.

      Danach begann ich Karikaturen zu zeichnen.

      Schon zu meiner Schulzeit veröffentlichte ich sie in Zeitungen. Bei der ersten, die in einer Sportzeitung erschien, zeichnete ich einige Läufer auf der Bahn: Der vierte rannte und dachte an Geld, der dritte rannte und dachte an Frauen, der zweite rannte und dachte an die Goldmedaille, doch der erste, der schon weit vorne lag und kurz vor dem Ziel war, dachte nur daran, wie er möglichst schnell auf die Toilette kommen würde.

      Der Typ kreist hartnäckig wie eine Schmeißfliege um den Haupteingang des Pompidou: Anzug, Krawatte, am Hals eine lange Narbe. Einige meinen, dass in seinem Land (niemand weiß, wo er herkommt) jemand versucht hat, ihn abzuschlachten; andere dagegen meinen, dass er vor langer Zeit in seinem Land dem Galgen entflohen ist und dass die dunkelrote Narbe daher stammt.

      Wie auch immer, der Typ mit der Narbe steht vor zwei Klappstühlen: Er hält seine Zeichenutensilien in der Hand und pafft eine Pfeife. Aber er kann gar nicht zeichnen, und sein Standort ist nicht gut – wenn die Touristen das Pompidou verlassen, wo sie gerade eine erstklassige Ausstellung gesehen haben, dann würden sie es begrüßen, wenn sie von Kokoschka oder Klimt persönlich gezeichnet würden.

      Der Typ vor dem Pompidou hat erstaunlicherweise dennoch Erfolg.

      Er spricht Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch.

      Sein Künstlername ist Coca-Cola.

      Wenn er sich einen Kunden schnappt, ruft er schnell einen der Zeichner herbei, die gerade frei sind. Später teilen sie dann das Geld.

      »Croate!«, ruft er mich.

      »Ich komme gleich«, antworte ich, während ich auf einen Schwarzen mit Safarihut einrede.

      Der Schwarze ist misstrauisch, er überlegt noch.

      Er fragt mich: »Wie viel?«

      »Setzen Sie sich.« Ich zeige auf den Stuhl.

      »Croate«, ruft Coca-Cola ungeduldig.

      »Ich kaufe noch schnell etwas in der Stadt und komme dann wieder«, sagt der Schwarze. Ich reiße ihm den Woody aus der Hand und eile zu Coca-Cola; einmal habe ich schon für ihn gezeichnet.

      »Ein großer Künstler!« Coca-Cola zeigt auf mich und bereitet den Stuhl für mich vor.

      Er presst die Fingerkuppen seiner beiden Hände gegeneinander und steht ein wenig abseits, mit einem todernsten Gesichtsausdruck, so als erwarte er ein großes Kunstwerk, das die Welt verändern wird.

      Auf dem Stuhl mir gegenüber sitzt eine Engländerin voller Sommersprossen. Sie hat eine riesengroße Nase.

      Wenn Frauen eine große Nase haben, muss man sie en face zeichnen, damit ihre Nase nicht zu sehr zum Ausdruck kommt.

      Bei Frauen muss man außerdem unbedingt auf