Mudlake - Willkommen in der Hölle. M.H. Steinmetz

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Название Mudlake - Willkommen in der Hölle
Автор произведения M.H. Steinmetz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961881437



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in dieser Einöde, in der man abgesehen von sich besaufen nichts unternehmen konnte. Sie sehnte sich dagegen nach Musik, nach jungen Leuten und einem Leben ohne Zwang. Sie zog ein zerfleddertes Magazin mit dem Titel PUNK aus dem Karton. »Eine von außerhalb werden.«

      Vivian zog das Paket vom Bett und das Klappmesser aus der Gesäßtasche ihrer dunkelblauen Jeans, das sie bei sich trug, wenn sie im Laden arbeitete. Nervös zog sie sich den schwarzen Pferdeschwanz straff. »Mal sehen, was du mir Schönes geschickt hast, Mary-Ann.«

      Sie setzte die Schnitte wie beim Auspacken der Ware, akribisch darauf bedacht, nicht zu tief zu schneiden. Andächtig klappte sie die Kartonage auseinander. »Hölle noch mal, ist das krass!« Der Inhalt verschlug ihr den Atem. Vivian zog die beiden T-Shirts, den Brief und die Musikkassette heraus und sprang aufs Bett. »Wow … einfach nur … wow!«

      Vivian legte sich auf den Rücken und faltete das schwarze Ramones-Shirt auseinander. »YES! … der Baseballschläger-Adler!« Das andere Shirt war von Joy Division, einer Band, die sie nicht kannte. »Unknown Pleasures«, flüsterte sie ehrfürchtig und fand, dass es zu ihrer geplanten Flucht passte. Doch dazu fehlten ihr eine Menge Dollarnoten und die konnte sie nur unten im Laden verdienen. Das rief ihr die Zehnminuten-Frist ins Gedächtnis, die sie von ihrem Vater eingeräumt bekommen hatte.

      »Fuck, der Laden!« Sie hatte die Frist überschritten. Vivian stopfte alles ins Paket, gab dem Schuhkarton einen Tritt, das er unter dem Bett verschwand, und lief in den Laden zurück. Sie passierte die Tür hinter der Theke und rannte direkt in ihren Vater hinein. Vivian keuchte. »Hab’s nicht vergessen, Dad.«

      Sie rechnete mit einer weiteren Ohrfeige, doch Bob McCall lächelte zu ihr herab. »Ich weiß doch, bist ’n gutes Mädchen. Hilf mir mal mit den Kühlboxen, ja?«

      Vivian atmete erleichtert auf. Der Inhalt der Kühlboxen war die Haupteinnahmequelle des Gemischtwarenladens ihrer Eltern. Der Eingang zum Kühlraum befand sich hinter der Fleischauslage, eine massive Stahltür mit zwei abgegriffenen Riegeln, die stets geschlossen sein musste, um die Kälte im Innern konstant zu halten.

      Sie öffnete die Tür und schlüpfte in die angenehme Kälte des überraschend großen Raums. Mit dem Rücken schob sie die Tür zu und schloss für einen Moment die Augen, damit ihr erhitzter Körper abkühlen konnte. Es war jedes Mal ein kleiner Schock, die Kälte zu spüren. Gleichzeitig war es ein angenehm prickelndes Gefühl, wenn sich der Schweiß abkühlte und die kalte Luft in ihre Lunge strömte. Wenn sie danach in die Wärme zurückkehrte, fühlte sie sich wie ein Eis am Stil.

      Vivian stieß sich ab und schlängelte sich zwischen dem von der Decke an Fleischerhaken hängenden Fleisch hindurch, um zur rückwärtigen Wand zu gelangen, wo Dad die Kühlboxen vorbereitete. Sie stieß mit der Schulter gegen eine der Hälften, die dadurch ins Schwingen geriet, eine andere anstieß und die wieder eine, bis schließlich alle schwankten und einen grotesken Tanz aus gehäuteten, fleischigen Torsi aufführten, dass Vivian kichern musste.

      Bob McCall hatte das Metzgerhandwerk von seinem Vater erlernt. Er wusste, wo die Schnitte zu setzen waren, wie man die Häute abzog und die Knochen teilte. Auf seinem alten, von Narben überzogenen Arbeitstisch trennte er von dem Schlachtgut zuerst die Extremitäten ab, um sie auszubluten. Das Holz hatte deswegen im Laufe der Jahre eine dunkle, fast schwarze Farbe angenommen. Er zog ihnen die Haut ab und legte sie in einem speziellen Salz ein, das es nur in den Bergen South Dakotas gab. Das Pökelfleisch war einfach der Hammer.

      Im nächsten Arbeitsschritt schnitt er die Köpfe ab, achtete aber darauf, dass der Hals am Torso verblieb. Die ließ er, wie sie waren, und steckte sie in gläserne Kästen, die Vivian an Aquarien erinnerten, weil er sie mit einer Art Sirup ausgoss. Wenn er Fleisch in den Kühlboxen verschickte, ging jedes Mal der dazugehörige Kopf mit auf die Reise, denn darauf legte die Kundschaft in der großen Stadt besonderen Wert.

      Er brach den Körpertorso auf und nahm ihn aus, wie es ein Metzger machte. Hier wurde nichts in den Abfall geworfen. Selbst die Haut verarbeitete er zu Hundekauknochen. Für Großstädter mochte der Arbeitsbereich im Kühlhaus nicht hygienisch, die Beile, Hackklingen und Messer antiquiert wirken, doch McCall interessierte das nicht. Hier in Purgatory tickten die Uhren anders, auf Meinungen von außerhalb gab man einen feuchten Dreck.

      Unabhängig davon, wie sehr sie das Leben in Purgatory hasste, arbeitete Vivian gerne im Laden ihrer Eltern. Sie half im Kühlhaus, gab dem Mastvieh in der Scheune hinter dem Haus Futter und hätte wahrscheinlich einen der Jungs aus dem Ort geheiratet, wenn da nicht diese Brieffreundschaft wäre. Mary-Ann schenkte ihr mit ihren ausschweifenden Briefen einen Blick über den Horizont hinaus, vermittelte ihr neues Wissen und verdammt coole Musik. Sie hatte in Vivians Kopf mit ihren Zeilen einen Keim gesetzt, der sie dazu trieb, mehr vom Leben zu erwarten als die langweilige, ländliche Einöde.

      Heute waren es fünf Kühlboxen, die ihr Vater vorbereitet hatte. Sie lud die mit Eis und Fleisch gefüllten Boxen auf eine Sackkarre, rollte sie aus dem Kühlhaus und durch den Laden zu Chuck, der sie rauchend neben dem Postlieferwagen erwartete. »Verdammt, Mädchen, hast mich in der Hitze ganz schön warten lassen.« Er warf einen schrägen Blick auf die Boxen und öffnete die Hecktüren des Wagens. »Wer frisst nur diesen ganzen Mist?«

      Das Geschäft mit dem Fleisch lief inoffiziell. Chuck sah Vivian dabei zu, wie sie die schweren Boxen verstaute, half ihr aber nicht. Lieber gaffte er Vivian auf den Hintern und versuchte, einen Blick in ihr vom Schweiß feuchtes Shirt zu erhaschen, wenn sie sich nach vorne beugte. Ihre Haut dampfte, weil sie kalt war.

      »Mein Gott, Chuck, noch nie ’n weibliches Wesen gesehen?«, schnauzte sie ihn leicht säuerlich an und riss von der letzten Box einen Zettel ab, auf dem die Empfängeradresse vermerkt war.

      Chuck schnaufte schwer, machte aber keine Anstalten, seinen Blick abzuwenden. »Sorry, Mädchen, is’ nur, dass du zu ’ner verdammt schönen Frau heranwächst.«

      Es gab über die Lieferungen keinen Einlieferungsbescheid oder eine Aufsplittung in Warenpreis und Steuer. Die einzige Buchführung bestand aus einem abgegriffenen Heft, das Bob McCall in der Gesäßtasche trug, und dem Zettel mit dem Adressaten, der dem Postboten mit jeder Lieferung übergeben wurde.

      Vivian funkelte ihn genervt an. »Geh dich erst mal waschen und besorg dir ’nen vernünftigen Haarschnitt, du stinkst zum Himmel, Mann. Jeder würd sonst meinen, dass du ’n Problem mit Wasser hast.« Chuck war ein Schwein, aber eins, das auf seine eigene Art liebenswert war. Der dürre Kerl tat keiner Fliege was zuleide. Einmal hatte er eine Katze angefahren. Die brachte er mit in den Laden und weinte wie ein Schoßhund. Bob brach dem armen Tier kurzerhand das Genick, um es von seinem Leiden zu erlösen. Ja, auf diese Weise machte man das in Purgatory.

      »35 Pine Street, Yonkers. New York also … feiert Sam Carr mal wieder ’ne Party, hm?« Grunzend steckte er das Papier in die Hosentasche. »Na meinetwegen … sollen die in der Stadt ihren Spaß haben, während wir hier schuften und schwitzen wie die Schweine.« Chuck nickte Vivian zu und schwang sich hinters Steuer. »Grüße an Bob und deine Mum, seh’n uns nächste Woche …«

      Vivian sah dem Postwagen sehnsüchtig hinterher, bis er nach Süden auf den Interstate bog und dort eine Staubwolke hinter sich herziehend verschwand. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als im Fond des Lieferwagens zu sitzen und der ländlichen Einöde sofort zu entfliehen, andererseits hielt sie hier ein nahezu unzertrennliches Band, das weit über das der Familie hinausging. Der Spruch Keiner geht für immer von hier weg kam nicht von ungefähr.

       Nur für ’ne Weile wär toll, ein oder zwei Jahre …

      »Die Jugend ist ’n verdammter Fluch, Vivian«, krächzte es hinter ihr.

      Vivian erschrak, obgleich sie wegen der Stimme wusste, wer da stand. Sie drehte sich um und rang sich ein schräges Lächeln ab. Es war die alte Ruth Dickson, die sich einmal mehr an sie herangeschlichen hatte. Ihr wächsernes Gesicht glich einer faltigen Kraterlandschaft, ihr Hals, der aus dem abgetragenen schwarzen Kleid herausragte, dem einer Schildkröte. Sie stützte sich gebückt auf einen Stock, den sie im Wald gefunden haben musste.

       Was will diese gottverdammte