Der tadellose Herr Taft. Husch Josten

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Название Der tadellose Herr Taft
Автор произведения Husch Josten
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862800759



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Frau zu diesem Schritt gezwungen sah? Erst nach und nach wurde ihm bewusst, dass es weitaus schlimmer hätte kommen können. Er verdankte es seiner Geschäftsreise, den Aussagen sämtlicher Nachbarn und Freunde sowie der Loyalität seiner Schwiegereltern, dass er nicht ins Zwielicht geriet und auf einer Polizeiwache Rede und Antwort stehen musste. Einem einzigen Anruf von Veronika bei ihrer Mutter verdankte er schließlich, dass er das Vertrauen seiner Schwiegereltern auch behielt: Es geht mir gut, versicherte Veronika. Ihr müsst das verstehen … Alles hat sich geändert. Daniel kann nichts dafür, wirklich nicht, Daniel kann nichts dafür. –

      Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Daniel, fügte seine Schwiegermutter Agnes hinzu. Das hat sie gesagt. Mehr nicht. Ich konnte auch nichts fragen, sie hat das Gespräch sofort beendet, nachdem sie mir mitgeteilt hat, was sie mitteilen wollte. Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.

      Taft legte auf und schrie. Er schrie ins Sofakissen, dass es heiß und nass wurde von seinem Atem. Er schrie und schlug darauf ein, dass es sich lächerlich krümmte. Wie lange, wusste er später nicht mehr. Nur, dass er es letztlich aus dem Fenster warf und glaubte, danach nie wieder etwas tun zu können.

      Erst Wochen nach diesem Anruf brachte Taft die Kraft auf, seine Situation zu verändern. Er beantragte ein freies Jahr bei Sandhurst Real Estate und ließ sich darauf ein, nicht wieder in derselben Position einsteigen zu können. Seine mangelhafte Konzentration ließ anderes auch nicht mehr zu: Der Schmerz machte ihn paranoid. Er fühlte sich beobachtet, bildete sich ein, Veronikas Anwesenheit zu spüren, dann stürzte er zum Fenster, aus der Tür, suchte nach ihr wie ein Getriebener, ein halluzinierender Geisteskranker, um festzustellen, dass er einer ahnungslosen Passantin hinterhergejagt war. In manchen Nächten löschte er alle Lichter in seinem Appartement, setzte sich ans Fenster und suchte mit einem Fernglas die gegenüberliegenden Wohnungen ab, als ob Veronika in einer davon wohnte. In seinem Zustand konnte er nicht mehr gewissenhaft arbeiten. Die Wohnung in Paris vermietete er möbliert an ein frisch vermähltes Paar und wünschte ihnen Glück; offenbar brauchte man weit mehr davon, als er ohnehin schon angenommen hatte. Und dann zog Taft an einem nasskalten, grauen Novembertag in Veronikas deutsche Heimatstadt. Eine einstige Römersiedlung am Rhein mit gewaltiger Kathedrale und von Schlaglöchern invaliden Straßen. Vom Krieg zerstört und ohne Ambitionen wieder errichtet, hier und da Zeugnisse alten Glanzes, oft lieblos zugebaut. Eine Stadt, der man auch in den prosperierenden Jahren des Landes architektonische Nackenschläge nicht erspart hatte und in der über die Jahrzehnte etliche bauliche Experimente gewagt wurden, sodass das Ensemble dem graubraunen Klumpen einer missglückten Töpferarbeit glich. Wenn Veronika zurückkehrte, dann würde sie zunächst an diesen eigensinnigen Ort zurückkehren, dessen war sich Daniel Taft sicher. Sie würde ihre Heimatstadt wählen, die sie, jeweils aus denselben Gründen, verabscheute und liebte. Und so mietete Taft die Wohnung und das Ladenlokal in der Alten Straße. Wartete. Machte von sich reden.

       Theorie.

      Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass sich derart viele Menschen für das schlichte Geschäftskonzept interessieren würden, das ihm zufällig eingefallen war und das er ohne besondere Passion umgesetzt hatte. Beim Packen hatte er die Zettel wahrgenommen, die er seit Veronikas Auszug beschmiert hatte. Grüngraue Zettel von ihrem umweltfreundlichen Abreißblock neben dem Telefon. Überall in der Wohnung lagen sie herum: Gedächtnisstützen. Theorien. Zornige Kritzeleien. Und wenn man solche Zettel nun verkaufen würde? Den Gedanken teilen würde? Taft fühlte sich keineswegs berufen, Händler zu sein. Eine Mission hatte er schon gar nicht. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen läutete an manchen Tagen unablässig die Türglocke – vom Vormieter, dem Schuster, mit einem verbogenen Messingstab angeschraubt. Gleichgültig ließen Taft die Theorie-Besucher, die seinen Laden lobten und anerkennend über die Ideenkarten nickten. Ah, ‚Augenscheinwelt‘! Oh, ‚Skrupel‘! Oder: ‚Schwurkraft‘, wie interessant! Bedauern empfand er mit jenen, die gar nichts suchten, die sich glücklich erklärten und zu verstehen gaben, zu ihrer Erfüllung nichts zu benötigen – schon gar kein Thema. Zufrieden stimmten ihn die, die sich leise durch die Karten arbeiteten, irgendwann eine von Wand oder Decke pflückten und kopfüber auf den Tresen legten. Er sah nie nach, welche sie gewählt hatten, drehte die Karten nie um. Da alle Ideenkarten denselben Preis hatten, bestand auch keine Veranlassung zur Indiskretion. Taft musste nicht einmal befürchten, sich zu wiederholen. Er wusste, welche Begriffe er verbraucht hatte. Die Liste bewahrte er in der Schublade des Schustertresens auf. Neue Wörter fand er ohne Mühe in den Gedankenfetzen, die durch seinen Kopf flirrten, hier auftauchten, dort länger verweilten, ab und zu zurückschossen. Ihn trafen.

      Das Gros der Theorie-Kunden sah sich gezwungen zu reden. Ein kurzer Blick – erwartungsvoll – auf Taft. In sein von Natur aus freundliches, aufgeschlossenes Gesicht. Sie beobachteten, wie er ihnen einen Kaffee zubereitete und die Tasse, mit Keks, Löffel und Zucker auf der Untertasse, für sie auf den Tresen schob. Dann plapperten die Menschen eilfertig, als müssten sie ihr Kommen rechtfertigen, darlegen, wonach sie suchten oder wer sie geschickt hatte. Sie sprachen mit Taft wie mit einem Freund, den sie nicht kannten, weil sie meinten, Theorie zu verstehen. Als verrate die Idee des Ladens alles über ihn. Als kennten sie ihn, weil er dieses Geschäft eröffnet hatte, einen Laden, der „die Individualität zum Maßstab erhob“ (er verabscheute die Formulierung, die ein Hochglanz-Magazin für Theorie gewählt hatte). Als läge ihm daran! Doch wenn jemand einen solchen Laden erfand, glaubten die Leute, dann verriet es ihn und seine Vorstellungen vom Leben, den Ursprung seiner Ideen. Es schien ihnen, als offenbare das Geschäft Tafts eigene Suche. Von der aber hatten seine Kunden und Besucher keine Ahnung. Daniel Taft suchte nicht nach seinem Thema. Schon lange nicht mehr. Er drehte sich nicht um seine Achse, rang auch nicht mehr um die verlorene Orientierung. Er hatte sich der Fahrigkeit seiner Gedanken ergeben und wollte darin nur eines finden: ihr Thema. Veronikas.

      Noch in Paris, in den schlimmsten Tagen, hatte er sich vorgenommen, ihre Gesichtszüge und den Klang ihrer Stimme nicht zu vergessen. Er wollte auf keinen Fall, dass ihm seine Frau bei einem Wiedersehen fremder erscheinen würde als bei ihrer letzten Begegnung in der gemeinsamen Wohnung in Paris. Kurz vor seiner dreitägigen Reise nach Deutschland war das gewesen. Unter anderem hatte er in Potsdam nach der Sieben-Millionen-Villa eines amerikanischen Filmproduzenten am Griebnitzsee sehen müssen. Der Mann, dessen Eltern den Nationalsozialisten nur knapp entkommen waren, hatte das Anwesen Anfang der 2000er-Jahre aus Sentimentalität gekauft und aufwendig saniert, sehr zum Ärger der vorher dort einquartierten DDR-, dann bundesrepublikanischen Kindertagesstätte, deren kleine Kunden das prachtvolle Gebäude gründlich verwohnt hatten. Nur vier Mal war der neue Eigentümer seither dort gewesen, vermieten wollte er den Palast nicht. Sogar das hatte Taft erwogen: dass Veronikas Weggang mit dieser Reise zu tun hatte. Dass sie genug hatte von seinen Diensten für gedankenlose Reiche, von seiner Arbeit, die sie für wenig sinnstiftend hielt, wenn sie auch wusste, dass sie für Taft lediglich das Sprungbrett in die Führungsetage des Mutterkonzerns Sandhurst Trust darstellte. War sie anders gewesen an jenem Morgen? Hätte er an ihrem Verhalten erkennen können, dass sie den Hausstand in Kartons packen würde, sobald er im Taxi saß? Er sah sie vor sich in ihrem weißen Frottee-Bademantel, die mahagoniroten Haare nass über den Schultern, die Augen noch ohne Lidstrich, den sie jeden Morgen vor einem Vergrößerungsspiegel exakt zog, noch ohne schwarze Tusche, die sie mit hastigen Schwüngen auf die Wimpern auftrug. Alles nackt, unverfälscht, wohlriechend. Sex zum Abschied in der Diele, an die Wohnungstür gelehnt. Ihre Gänsehaut unter seinen Händen. Sein Mund auf ihrem Rücken, ihrem Nacken, ihre Arme fest gegen die Tür gestemmt. Alles unverbraucht, sorglos, aufregend.

      Du wirst doch nicht etwa alt?, hatte sie ihn gefragt, als er sich wieder anzog.

      Ich werde das Flugzeug verpassen.

      Es gibt viele Flüge nach Berlin, Daniel, komm schon. Sie küsste ihn, knöpfte sein Hemd wieder auf, fuhr mit ihrem Zeigefinger von seinem Hals hinunter zu seinem Gürtel, öffnete die Schnalle und schob ihre Hand in seine Hose. Nur einmal? Sei nicht albern!

      In den ersten Tagen nach der Rückkehr aus der deutschen Hauptstadt hatte sich Taft seine Frau so gut eingeprägt, wie man sich einen Menschen außer Sichtweite einprägen kann. Diesen Abschied an der Wohnungstür im dritten Stock der Rue de la Tour 123. Ihre Perlmutthaut mit den