Название | Der tadellose Herr Taft |
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Автор произведения | Husch Josten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862800759 |
2. Selbstmitleid
Mann auf Sofa. Ermattet. Unrasiert. Der Anfang des Alleinseins prosaisch, musikalisch untermalt von Tom Waits’ Invitation to the Blues. Schmutziges Geschirr in der Spüle. Pizzakartons, möglichst schimmelnd, auf dem Fußboden. Leere Flaschen auf dem Tisch. Die Requisite eines resigniert blinkenden Anrufbeantworters, wenn Taft noch einen besessen hätte, aber kein Mensch besaß noch lexikongroße Anrufbeantworter mit Kassetten, die ihr Band verschlangen und, später wenigstens, zwei Tonspuren übereinanderlegten. Lexika hatte im Übrigen auch niemand mehr. Zwei Tage lang wollte er sich vormachen, es handele sich um Veronikas extreme Reaktion auf einen ersten Ehestreit. Doch er wusste es – eigentlich – von Anfang an besser. Sie hatten ja nicht mal gestritten. Ans Telefon ging sie nicht. Sie war nicht mehr erreichbar. Am dritten Tag brach Taft zusammen. Er konnte nicht sprechen, aß überhaupt nur etwas, weil ihm schlecht vor Hunger war. Er konnte sich kaum rühren, nichts denken, wollte nur Whisky trinken, bis seine Sinne verglühten. In diesen zwei Wochen, seinen Urlaubswochen immerhin, nichts als unerträglicher Schmerz. Zwei Tage und Nächte lag er auf ihrer Seite des Bettes und hielt ihr Kopfkissen, weinte es nass, schluchzte, bis sein Kopf, sein ganzer Körper tyrannisch schmerzte. Er setzte sich vor ihren Kleiderschrank und suchte nach einer Spur, einer Nachricht, nach irgendwas. Er starrte auf die Handtücher im Badezimmer, stundenlang, als würden sie ihm letztlich sagen, welches Veronika zuletzt benutzt hatte. Seine Welt maßlos. Kein Gefühl mehr für Raum und Zeit, kein Halt mehr, nur das wabernde Nichts ihrer Abwesenheit. Taft sah sich in diesen ersten Wochen selbst zu, und was er sah, war ein Mann aus dem Vorabendprogramm, für den jeder wohlmeinende Freund einer zu viel war auf dem weiten Feld des Selbstmitleids. Das half immerhin ein wenig: sich selbstmitleidig zu nennen, die Verzweiflung herabzusetzen statt die objektive Grausamkeit seiner Situation anzuerkennen. Dieses Gefühl, ausgebootet worden zu sein. Die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit wie selbstgebrannter Schnaps, der die Magenwände verätzt. Seine Sorge um Veronika gründlich. Die Schlaflosigkeit erschöpfend. Verzweiflung, Trotz und Zorn, kurzum: Kummer von einer Größenordnung, die das Denken eindimensioniert und schließlich lähmt. Selbstmitleid. Der Begriff suggerierte zumindest sein Dazutun, während er doch ohnmächtig war. ‚Hingebungstoll‘. Später, in Deutschland, notierte Taft das Wort. Und schmiss die Karte sogleich in den Mülleimer. Was er nicht erwartet hatte, war Veronikas Allgegenwart, seine Unfähigkeit, auch nur den kleinsten Raum für andere Themen in sich zu finden. Bisweilen versetzte er sich wider besseres Wissen, geradezu mutwillig in Panik: Niemand hatte Kenntnis über ihren Verbleib. Sie konnte in Not sein. Gefangen. Tot. Keiner hatte eine Idee, wo sie sich aufhielt. Auch ihre Eltern nicht, die Schirmers, die – als er sie nach zwei Wochen informierte, ja informieren musste – nur die Nerven behielten, weil Veronika gepackt und sogar unwichtige Dinge mitgenommen hatte. Der Polizist bestätigte schließlich ihre und Tafts Schlussfolgerung mit sachtem Blick: dass auch Fotos, Medikamente und Bücher fehlten, deute auf eine sorgfältig vorbereitete Flucht hin. Nichts spräche für eine Entführung oder sonstige Straftat. Auch ein Kidnapping mit Hilfe von Drogen sähe in aller Regel anders aus. Ob es Eheprobleme gegeben habe? Vielleicht könne ein Privatdetektiv die Sache aufklären?
Flucht.
Veronikas Eltern hatten Taft lange angesehen. Ihr Vater Walter, Chirurg. Ein stiller, gehetzter Charakter, oft kühl, wobei eine latente Erbarmungslosigkeit seinem Beruf sicher zuträglich war. Und ihre Mutter Agnes, Gartenarchitektin. Selbstvergessen. Eine unzugängliche Dame mit fest umrissenen Vorstellungen von allen Dingen ihres Lebens und übrigens dem gleichen roten Haar wie Veronika. Beide hatten nicht gefragt. Sie hatten Taft lange angesehen und, so wenigstens war es ihm vorgekommen, sämtliche Begegnungen mit ihm Revue passieren lassen, als liege darin die Antwort auf die Frage, wovor ihre Tochter geflohen war. Sie waren besorgt, nicht ängstlich, vor allem aber wirkten sie nicht schockiert, was Taft kränkte. Wie er zu einem Privatdetektiv stehe, fragte sein Schwiegervater knapp.
Darüber muss ich nachdenken.
Ich verstehe. Aber wenn es ihre Entscheidung war – wozu ein Detektiv?
Dem war nichts entgegenzusetzen. Überdies: Die Vorstellung, einen Detektiv zu beschäftigen, gehörte in eine irreale Welt, den Poirot-, Marlowe-, Rockford-Kosmos, das war Kino. Taft rief immerhin Veronikas Steuerberaterin an, wenngleich er im Voraus wusste, wie unsinnig es war. Natürlich würde seine Frau keine nennenswerten Steuerschulden angesammelt oder sich sonst eines Delikts schuldig gemacht haben, das einer Flucht würdig wäre. Aber der Begriff – Flucht – beunruhigte Taft zutiefst. Bedrohung. Verfolgung, Geheimnis, Schuld. Möglicherweise hatte Veronika Feinde, von denen er nichts ahnte. Und wenn sie imstande war, so plötzlich zu verschwinden – warum sollte sie nicht ebenso fähig gewesen sein, neben dem Leben mit ihm ein anderes zu führen, nicht nur die Frau zu sein, die er zu kennen geglaubt hatte, sondern eine Betrügerin, Spielerin, Süchtige mit Schulden bei den falschen Leuten? Eine Prostituierte, der es gefiel, wenn jemand ihr Geld zusteckte, bevor sie sich auszog und vor ihm auf die Knie ging – irgendwo in einem verkommenen oder auch gar nicht verkommenen Hotelzimmer. Möglicherweise fürchtete sie die Eifersucht eines Freiers, eines Perversen, der sich nicht mehr an die Spielregeln hielt. Vielleicht arbeitete sie auch für den Geheimdienst, irgendjemand musste das ja machen. Und die Zahnklinik nur bürgerliche Tarnung? Taft überlegte und recherchierte in alle Richtungen, in Zeitungen, im Internet: Hatte es einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben, einen Überfall irgendwo? Unzählige waren schon in Situationen geraten, die sie unschuldig zur Flucht getrieben hatten. Er fand nichts. Und glaubte es auch nicht. Welche Möglichkeiten er auch durchdachte: Veronika hatte kein abgeschmacktes Zweitleben geführt. Sie hatte einen Grund gehabt, ihn zu verlassen. Einen sehr guten Grund, den er erfahren würde. Eines Tages.
Niemand hörte von ihr. Der mit Veronikas Fall betraute Beamte meldete, dass eine Ausreise aus Frankreich nicht bekannt sei, aber das hieße natürlich nichts: Wir leben in Europa. Ihre Frau kann sich, wenn sie will, in Luft auflösen. Solange sie keine Straftat begangen hat, die sie auf die Fahndungslisten von Europol setzt, ist es die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Sie könnte unbemerkt überall hingereist und von dort aus weitergeflogen sein. Sie könnte auch ein Privatflugzeug genommen haben. Es gibt zu viele Möglichkeiten, Monsieur Taft. Einfach zu viele Möglichkeiten. Denken Sie nach: Wirkte sie verändert? Hat sie jemanden kennengelernt, von neuen Bekannten gesprochen? Ist Ihnen etwas aufgefallen? Taft grübelte über diese Möglichkeiten und auch über die Würde der Flucht. Immer wieder ließ er das Telefonat Revue passieren, seinen Inhalt, den Klang ihrer Stimme, den plötzlichen Stimmungswandel, sofern es ihn gegeben hatte … Wieder und wieder kam er zum selben Ergebnis: Sie musste vorher gepackt haben. Während der kurzen Zeit seiner Reise von Berlin nach Paris konnte das derart gründlich kaum erledigt worden sein. Doch welcher Umstand war, abgesehen von denen, die er verworfen hatte, in diesen Tagen im demokratischen, meinungsfreien, rechtsstaatlichen Teil Europas eine Flucht wert? War Bleiben oder Flüchten tapferer? Und in Veronikas Fall: Ging es um Tapferkeit oder Mut? Was genau hätte Tapferkeit oder Mut im Zusammenleben mit ihm erfordert? Denn davon musste er ja wohl ausgehen: dass ihre Flucht wesentlich, wenn nicht allein mit ihm zu tun hatte. Von ihm war sie fortgegangen. Vor ihm war sie geflüchtet.
Er fragte jeden: Kollegen. Bekannte und Freunde. Ärzte. Zu verlieren hatte er nichts mehr. Ihre Freundin Julie, die derart überrascht war, Taft vor ihrer Wohnungstür zu sehen, dass kein Zweifel an ihrer Unwissenheit bestand. Veronikas Chef, Gabriel Montard, der die internationale Zahnklinik an der Rue Chernoviz leitete: ratlos. Ihre Hausärztin Nathalie Mercier. Monsieur César vom arabischen Supermarkt an der Straßenecke zur Rue Mignard: erschrocken. Madame Chappe von der Reinigung, die ihm ein Cocktailkleid in die Hand drückte und sechs Euro verlangte: gelassen. Sie reichte ihm Veronikas puderfarbenes Seidenkleid mit dem gerafften Ausschnitt in einer durchsichtigen Plastikfolie. Der Geruch des Stoffes darin neutral. Bereinigt. Taft konnte sich nicht erinnern, wann sie es zuletzt getragen hatte. Niemand, selbstredend auch nicht Madame Chappe oder Monsieur César, wäre auf die Idee gekommen, dass Veronika nicht mit ihrem Ehemann Ferien machte oder arbeitete und ihr Leben lebte wie immer. Die fragenden Gesichter seiner Gesprächspartner eine demütigende Angelegenheit.