Der tadellose Herr Taft. Husch Josten

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Название Der tadellose Herr Taft
Автор произведения Husch Josten
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783862800759



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und in schwarzem Holz gefasst, der Dielenboden braunschwarz und knarzend. Von der Decke und an den rauchblauen Wänden hingen nun grüne Karten an zarten, tannenfarbenen Bindfäden. Ideenkarten nannte Taft die mit schwarzem Filzstift beschrifteten Kartons. Sie waren das Einzige, was er feilbot. Drei fünfzig das Stück. Karten, auf denen in seiner rechtsgeneigten, gut lesbaren Handschrift immer nur ein Wort zu lesen war. ‚Zerinnerung‘ etwa. ‚Raumfährtensucher‘, beispielsweise. Oder schlicht ‚Mut‘. Die meisten Anwohner und vor allem er selbst hatten angenommen, der Laden mit Namen Theorie würde nicht lange bestehen, sei Spinnerei. Ein Luftschloss, das sich keinesfalls tragen könne, geschweige denn Gewinn abwerfen würde. Themen – nichts anderes bot er mit seinen Karten. Überschriften und Ideen. Bereits zur Eröffnung Ende Januar hatte Taft den Plan, Theorie mit seinen Ersparnissen und den Einkünften aus der Vermietung seiner Pariser Wohnung ein paar Wochen am Leben zu erhalten und dann, je nachdem, in eine lukrativere Kaffeebar oder einen Kiosk umzuwandeln. Doch Zeitungen im ganzen Land berichteten über seinen Laden, Fernsehleute filmten, wovon sie tagtäglich umgeben waren: Themen, die in der gewaltigen Masse anderer Themen untergingen. Die Wirkung ihrer Berichte hallte nach. Als sich der Wirbel um die Eröffnung in der Alten Straße gelegt hatte, kamen die Kunden immer noch. An guten Tagen in diesem warmen und trockenen Frühjahr verkaufte Daniel Taft über fünfhundert Karten. An ruhigen zwischen achtzig und hundert. Man setzte sein Geschäft auf die Route der Touristenbusse, die von der Kathedrale aus die Straßen der Alt- und Neustadt durchfuhren. Mindestens zwei Busladungen pro Tag. Die Passagiere stierten aus getönten Fenstern, machten die Ruinen römischer Vergangenheit und verborgene architektonische Schönheiten zwischen den Nachkriegsbauten aus, bis sie bei Taft landeten und ihre städtebauliche Ernüchterung mit Kauflust niederrangen. Eine Journalistin, die auf diesem Wege zu ihm gestoßen war, schrieb euphorisch in einem schicken Reisejournal, Theorie sei nicht weniger als die Endstation Sehnsucht einer Rundfahrt durch die etwas ergraute Baukunst der 1950er- und 1960er-Jahre. So zählten bald auch die anderen, die sogenannten Individualreisenden, zu seinen Abnehmern und kauften Themen. Meist eins, höchstens fünf, wobei Nummer zwei bis fünf als Geschenk verpackt werden sollten.

      Die Anwohner kamen sowieso regelmäßig. Und kaum einer von ihnen stand Theorie gleichgültig gegenüber. Sie waren neugierig wie der Mittvierziger aus dem dritten Stock gegenüber, der etliche Male pro Tag von seinem Schreibtisch am Fenster in Tafts Laden schaute, um dann, auf dem Weg zum Bäcker oder zur Post, bei Theorie einzukehren und sich mit spitzer Stimme nach dem Gang der Geschäfte zu erkundigen oder eine Karte, zuletzt war es ‚Nachgeschichte‘, zu kommentieren. Andere waren argwöhnisch. Susa zum Beispiel, die Trödelladenbesitzerin drei Häuser weiter, die unschlüssig blieb, ob Taft genial oder irre war, ob er ihr Laufkundschaft abspenstig machte oder zuführte. Und viele kamen einfach aus Langeweile. Anton Friedenreich mit der sehr hohen Stirn beispielsweise, Rentner aus dem Nachbarhaus, der in seinen ausgeleierten Jeans täglich schon bei Tafts Vormieter gesessen und mit ihm Zigarre geraucht hatte. Er hatte runde, braune Augen und schlohweißes Haar, das bis zum Kinn reichte, ein weißes Bärtchen direkt unter der Unterlippe und einen weißgrauen Schnauzbart. Auf seiner daumendicken Nasenspitze die schwarze Metallbrille, durch die er allerdings selten blickte, er sah über sie hinweg. Nun nahm er sich Tag für Tag den hellblauen Klappstuhl, den der Schuster im Vorraum zur Toilette aufbewahrt hatte, setzte sich vor Tafts Schaufenster, bekam einen Kaffee, zündete sich eine Montecristo Double Edmundo an und begann die Unterhaltung stets gleich: Wissen Sie, Herr Taft, es ist schon komisch … Und dann folgte, was ihm morgens beim Zähneputzen oder abends im Fernsehen komisch erschienen war: die glitzernden Punkte in seinem Rasierschaum, die Sekundenanzeige bei den Werbeeinblendungen, die Temperaturunterschiede zwischen Alt- und Neustadt, irgendetwas, das ihm beim Blick über seine Brille aufgefallen war. Die hagere Julchen Kierbaum aus dem Fahrradladen an der Ecke kam auch oft. Sie absolvierte in der Mittagspause ihr Fitnessprogramm, lief in rosafarbener oder blauer Sportbekleidung die Alte Straße auf und ab, um für eine kleine Pause keuchend bei Taft Halt zu machen. Sie war herzlich und redselig wie viele seiner neuen Nachbarn, was er liebenswert fand. Dass sie einen komplizierten Freund und schwerkranke Eltern hatte, wusste Taft bereits nach seiner zweiten Begegnung mit ihr. Überhaupt nahmen einige Anwohner die Gelegenheit wahr, bei der vorgeblichen Recherche nach ihrem Thema überflüssige Angelegenheiten bei Daniel Taft abzuladen. Das reichte von Müllproblemen über undefinierbare Ohrenschmerzen bis zum Ärger über den Telefonkundendienst. Von allerlei seelischem Ballast, den sie mit Tiefe verwechselten, über amüsante und schöne Begebnisse bis zu ernstlichen Verwirrungszuständen, an denen ohnehin nichts zu ändern war. Manche blieben auf einen Kaffee oder zwei und warfen großzügig in die graublecherne Kaffeekasse, ein Souvenir des Vormieters. Sie kamen und schauten und erwarteten, so wenigstens kam es Taft vor, Vorschläge, wenn nicht ein Stück Alltagserlösung, Tageserleuchtung. Dabei wäre ihm nie eingefallen, derart Anmaßendes anzubieten, auf ihre Fragen und Geschichten überhaupt nur einzugehen. Seine Besucher respektierten diese Haltung mit großer Gelassenheit. Taft hörte zu, und das reichte den Menschen. Sein Zuhören war den Nachbarn angenehm. Für ihn hingegen war es eine Beschäftigung. Eine winzige Ablenkung von der Katastrophe, zu der sein Leben ohne Veronika geworden war.

      Daniel Taft war weder schön noch hässlich. Ein hinreichend attraktiver Brite, mittelgroß (eins dreiundachtzig) und mittelschwer (zweiundachtzig Kilo). Er hatte einen ovalen Kopf und tiefbraunes, glattes Haar, freundliche Züge, einen schlichten Mund. Beim Sprechen sah man manchmal seine untere Zahnreihe, wenn er energisch den Unterkiefer vorschob, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; ein Kinn wie die alten Habsburger. Einnehmende Persönlichkeit, ohne dass er sich um diese Ausstrahlung auf andere bemühte. Man vertraute ihm. Sein Benehmen stets tadellos, ebenmäßig wie sein Gesichtsausdruck und seine braunen Augen, denen es auf seltsame Weise an Irritation, an einer zumindest winzigen Unregelmäßigkeit fehlte. Tafts Höflichkeit war nicht die tradierte seiner Landsleute, seine Zurückhaltung jedoch ethnologisch unverkennbar. In jeder Lebenslage Haltung zu bewahren war ihm in die britische Wiege gelegt worden. Sein Temperament demzufolge grundverschieden von Veronikas, die nicht unüberlegt, jedoch ungebremst gesprochen, entschieden, gelacht, geschimpft hatte. Jeden hätte sie heiraten können, das hatte er immer gewusst, und es hatte wahrlich genug Anwärter gegeben. Standesgemäße. Einserabsolventen aus gutem Hause, sportlich, schlank, schlau. Jene jungen Männer mit verschlagener Selbstsicherheit, die ihre an den Ellbogen zerschlissenen Kaschmirpullover wie Clubsignets trugen und früh gelernt hatten, sich in Maßen exzentrisch, ansonsten weltoffen und freiheitsliebend zu präsentieren. According the textbook. Veronika hatte nichts für sie übrig gehabt.

      Sie, die kluge, angenehm uneitle Zahnärztin mit sanfter, sicherer Hand, wählte ihn, den britischen Hausmeister mit deutschen Wurzeln und französischem Wohnsitz. Hausmeister war er nicht im eigentlichen Verständnis des Wortes und sie mochte es nicht, wenn er sich so bezeichnete. Aber es war im weitesten Sinne das, was er getan hatte, bis Veronika verschwunden war: dafür Sorge tragen, dass in den Häusern, Villen und Schlössern der Klienten seines Arbeitgebers Sandhurst Real Estate alles in Ordnung war. Dass die leerstehenden Besitztümer in Kontinentaleuropa vernünftig instand gehalten wurden. Oder dass, was allerdings bei den wenigsten Immobilien dieser Kategorie der Fall war, die richtigen Mieter darin wohnten. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Verständnis von Wert und Besitz ein anderes als das der Auftraggeber war, die mit den zufällig geerbten oder lustlos, jedenfalls selten aus Leidenschaft erworbenen Immobilien nichts anzufangen wussten. Er hatte gelernt, die Verschwendung hinzunehmen, nicht mehr danach zu fragen, warum manche Leute aus Langeweile Häuser statt Bücher, Filme oder Computerspiele kauften. ‚Wertanlagerung‘. Eine seiner ersten Ideenkarten.

      So habe ich Taft kennengelernt: als Verwalter meiner Immobilien. Damals hatten wir nie persönlich miteinander zu tun, wir haben uns in seiner Hausmeisterzeit nie gesehen. Was zu besprechen war, wurde mit meinen Mitarbeitern geregelt. Aber wie über alle Dienstleister, die im Privatbereich für mich tätig sind, fand ich irgendwann ein Dossier auch über ihn auf meinem Schreibtisch in London – von meiner Sekretärin und dem Anwalt sorgfältig zusammengestellt. Tafts einwandfreier Werdegang. Hervorragende Empfehlungsschreiben. Dazu kamen nach und nach seine schriftlichen Berichte und E-Mails zu meinem Haus auf dem Monte Argentario und zum Chalet meiner Mutter im Engadin. Es waren diese Mails, die mich auf ihn aufmerksam machten: Formvollendet. Sorgfältig. Und, was bei Immobilien nicht einfach ist, humorvoll. Gnädige Frau, was die Bäume im