Название | Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung |
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Автор произведения | Christian J. Jäggi |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783828873438 |
Franz Segbers (1999:71) hat die Forderung aufgestellt, dass christliche Ethik einen doppelten Anspruch habe: Sie wolle einerseits Christen in ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen und anderseits einen Beitrag für den übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs leisten. Das gilt im Grunde für jede religions- oder weltanschauungsbasierte Ethik2.
Die gut dokumentierten Diskurse (vgl. Fornet-Betancourt 1992, 1993a, 1993b und 1994) zwischen Vertretern der Befreiungstheologie und der Diskursethik3 haben eines klar gezeigt: Die beiden Ansätze gehen von einem unterschiedlichen Rationalitätsverständnis aus (vgl. Segbers 1999:74). Rationalität kann formal-prozedural – wie in der Diskursethik – oder inhaltlich-strukturell – wie in der Befreiungstheologie – verstanden werden. Dazu kommt, dass jedes Rationalitätsverständnis auch eine wichtige sozio-kulturelle Komponente hat. Das zeigt sich etwa daran, dass die Heiligen Schriften kontroverse und widersprüchliche Haltungen zur Gewaltfrage enthalten (vgl. Fenner 2016:76, aber auch Jäggi 2019a:248ff.; 2020a:169ff. und 2021a:62ff.).
Ein besonderes Problem in einer global gedachten Ethik stellt die Frage dar, was eine „globale Ethik“ überhaupt ist und wo sie sich bewegt. Heather Widdows (2011:7) schreibt dazu kurz und bündig: „For global ethics the frame within which decision-making occurs must be global: the ethical locus is ‚the globe‘. In any ethical analysis it is the globe that constitutes the sphere of concern and thus the needs and perspectives of all global actors are relevant“. Doch was bedeutet das? Ist „globale“ Ethik einfach nur eine „weltweite Ethik“ – ist globale Ethik nicht vielmehr auch eine umfassende, universelle Ethik? Denn „global“ ist nicht nur territorial zu verstehen, sondern auch als Grad hoher Komplexität. Globale Ethik schliesst auch einen permanenten Perspektivenwechsel mit ein, die Fähigkeit zur Erweiterung und Verengung des Blickwinkels, der Autonomie und Entscheidung, sich auf einzelne Aspekte zu fokussieren. Das wird vor allem im Falle von globalen Friedensthemen und Gerechtigkeitskonzepten relevant.
Gleichzeitig ist Frieden – wie der Ethiker Adrian Holderegger (2017:307) betonte –, „nicht bloss ein politisches, sondern zuerst und zuletzt ein moralisches Projekt“. Also muss die Friedensthematik sowohl von der politischen Seite als auch von der Ethik her angegangen und diskutiert werden.
In einem weiteren Sinn stellt sich damit auch die Frage des Guten. Saur (2016:22) hat darauf hingewiesen, dass das Gute nicht unmittelbar zu erkennen ist und dass „das Profil des Guten an den Rändern Unschärfen aufweist“. So werde etwa in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur das Böse oft als Gegenpol zum Guten verstanden. Allerdings erschliesse sich auch das Böse meist nicht unmittelbar, sondern könne „nur mittelbar, situativ und dynamisch erfasst werden“ (Saur 2016:22).
Die Weltethos-Theorie als Antwort?
Hans Küng (1990:14) hat in seinem Buch „Projekt Weltethos“ festgestellt, dass „eine Welt, in der wir leben, nur dann eine Chance um Überleben hat, wenn in ihr nicht länger Räume unterschiedlicher, widersprüchlicher oder gar sich bekämpfender Ethiken existieren“. Diese eine Welt brauche ein verbindendes Grundethos, jedoch nicht in Form einer Einheitsreligion und Einheitsideologie, sondern in der Gestalt von verbindenden und verbindlichen Normen, Werten, Idealen und Zielen. Weiter weist Küng (1990:13) darauf hin, dass ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden möglich sei – umgekehrt aber auch kein Religionsfrieden ohne Weltfrieden. All das ist zweifellos richtig.
In der wissenschaftlichen Ethik wird „Ethos“ im Allgemeinen im deskriptiven Sinn als Beschreibung der Gesamtheit der bestehenden ethischen Werte und Normen in einer Gesellschaft oder einer Religion verstanden. So spricht etwa Mir (2015:65) von einem öffentlichen Ethos („the public spirit ethos“). Alfons Auer (1995:78 und 96) thematisiert ein alttestamentliches und ein jesuanisches Ethos. Demgegenüber benutzt Küng (1990:46) den Begriff des „Weltethos“ in einem normativen Sinn: „Die katastrophalen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Entwicklungen sowohl der ersten wie der zweiten Jahrhunderthälfte machen zumindest ex negativo ein Weltethos um des Überlebens der Menschheit auf dieser Erde nötig“ (Hervorhebungen durch Küng).
Doch das Problem liegt darin, herauszuarbeiten, wie ein solches normatives „Weltethos“ aussehen sollte und wie ein solches „Weltethos“ erreicht werden kann. Diese beiden Fragen stehen auch im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen.
Wenn auch das Wort „Weltethos“ sehr hoch gegriffen erscheint – ich spreche lieber von überkontextuellen und religions- sowie weltanschauungsüberschreitenden ethischen Bausteinen – hat Küng den Finger auf den wohl wundesten Punkt der heutigen Menschheit gelegt: Die Menschheit sollte als Ganzes gesehen und gedacht werden, als Einheit, und nicht mehr als Konglomerat verschiedenster oder gar sich bekämpfender Nationen, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder Ethnien und Gruppen – und dazu braucht es klare Visionen und praktikable Modelle. Das bedeutet aber auch klare, verbindliche und durchsetzbare ethisch-normative Standards und verbunden damit Institutionen, welche die Einhaltung dieser Standards überwachen und garantieren. Obwohl zwar die Welt davon heute noch weit entfernt ist – früher oder später wird dies unumgänglich sein.
Hans Küng (2010:158) hat eine klare Hierarchie von Ethik (Ethos), Politik und Ökonomie vorgeschlagen: Erstens müsse das Ethos grundsätzlich über Ökonomie und Politik stehen, zweitens sei der Politik ein Primat gegenüber der Ökonomie zuzugestehen und drittens müsse der Markt wirtschaftsfreundlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen unterstehen, die er aber nicht selber schaffen könne.
In ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Weltethos-Theorie von Hans Küng kommt Dagmar Fenner (2016:199) zum zweifellos richtigen Schluss, dass Küngs Ansatz eine aufklärererische und damit säkulare Grundhaltung voraussetzt: „Religiöse Menschen müssen bereit sein, ein ‚Weltethos‘ vom ‚Heilethos‘ abzukoppeln und eine Säkularisierung im Sinne der Ausdifferenzierung in verschiedene Wertsphären wie die des Guten und Heiligen zu akzeptieren“. Das bedeutet, dass das Weltethosprojekt im Grunde eine säkulare Antwort auf Religionskonflikte ist, so wie der Säkularismus im Grunde die europäische Antwort auf das Problem der Religionskriege darstellte. Damit ist aber das Weltethosprojekt nur bedingt tauglich für die Entwicklung einer umfassenden und globalen Friedensethik. Denn säkulare Ethiken und religiöse Ethiken müssen sich auf Augenhöhe begegnen können – im Sinne eines Diskurses, in den sich alle gleichermassen einbringen können. Dazu kommt, dass – wie ich verschiedentlich gezeigt habe (z.B. in Bezug auf den säkularen Staat vgl. Jäggi 2016b:134) – der Säkularismus als eine mit religiösen Weltanschauungen konkurrierende „Quasireligion“ verstanden werden kann.
Doch was bedeutet eigentlich Säkularismus? Rajeev Bhargava (2007:21) definierte Säkularismus als „Trennung organisierter Religion von der politischen Macht, inspiriert durch einen spezifischen Set von Werten“. Mit anderen Worten: Säkularismus ist ohne Trennung von Religion und Staat nicht denkbar, aber ebenso wenig ist Säkularismus ohne die durch ihn vermittelten Werte zu verstehen. Bhargava (2007:22) weist auch darauf hin, dass Säkularismus mitnichten mit „westlich“ gleichzusetzen ist: Für ein umfassendes und adäquates Verständnis von Säkularismus müsse man überprüfen, wie sich die säkulare Idee über die Zeit und die nationalen Grenzen hinweg entwickelt habe4. Hier besteht auch eine Parallele zu den grossen Religionen: So wie das Judentum, der Buddhismus, das Christentum und der Islam Sprach- und Kulturregionen sowie spätere nationalstaatliche Grenzen durchquert und überschritten haben, genauso hat sich die säkulare Weltanschauung in ganz verschiedenen Regionen der Welt verankert. Damit besteht eine Parallele – aber auch eine Konkurrenz – zu den grossen Religionen, die lokal entstanden sind und