Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung. Christian J. Jäggi

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Название Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung
Автор произведения Christian J. Jäggi
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783828873438



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strategisches Ziel.

      Das spezifische Thema der vorliegenden Arbeit ist die Gegenüberstellung jüdischer, christlicher und islamischer Friedenskonzepte und die spezifischen religiösen Sichtweisen politischer Ethik und deren Vergleich mit säkularen Denkmodellen. Entsprechend werden einander auf der einen Seite säkulare Konzepte religiösen Vorstellungen gegenübergestellt, und auf der anderen Seite jüdische, christliche und islamische Vorstellungen.

      Dabei stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Heiligen Schrift sowohl für Gläubige als auch für nicht Gläubige: Für erstere insofern, als die Deutung der Schrift und ihre Auslegung auf die aktuelle Lebenssituation immer dem Verdacht einer Abweichung vom „wahren Glauben“ und damit letztlich der Apostasie unterliegt, für letztere, weil nicht Gläubige vielen Textstellen äusserst kritisch oder gar ablehnend gegenüber stehen und nicht bereit sind, einer – wie auch immer gearteten – Heiligen Schrift Autorität oder Legitimität zuzugestehen.

      Wahrscheinlich vor diesem Hintergrund hat Schalom Ben-Chorin bereits 1939 mit Blick auf die Tora Folgendes festgehalten: „Für uns – und darin besteht das ‚neue Denken‘ in dieser Kernfrage des Glaubens, – ist die Thorah tatsächlich Gottes Wort, im ganzen unendlichen Ernst dieses Anspruches, ohne dass wir uns den oft überaus triftigen Argumenten der bibelkritischen Wissenschaft mit Scheuklappen verschliessen müssten. Freilich ist die Thorah nicht das ungebrochene Wort Gottes, sondern das göttliche Urwort, schon gebrochen in dem Augenblick, da es in menschliche (hebräische) Vokabel gefasst wurde, um mitteilbar zu sein …“ (Ben-Chorin 1939:25; Hervorhebung durch den Autor). Das Gleiche gilt sinngemäss auch für die christliche Bibel und für die islamischen sakralen Schriften.

      Nur am Rand berücksichtigt wird in diesem Band die gegenseitige Rezeption religiöser und säkularer Friedens- und Heilskonzepte und die Wirkungsgeschichte dieser Auseinandersetzungen. Dagegen liegt das Gewicht auf gemeinsamen und übergreifenden Konzepten und auf Bausteinen der einzelnen Weltanschauungen und religiösen Vorstellungen, die sich möglicherweise zu einem gemeinsamen Weltfriedensverständnis und zu einer übergreifenden Friedensordnung zusammenfügen lassen.

      Dabei sollen auch die Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens nicht verschwiegen werden: Viele Bezüge in religiösen und auch in säkularen Texten sind auf frühere Lebenskontexte ausgerichtet, der Fokus liegt oft auf einzelnen Postulaten oder Verhaltensnormen, vielfach werden frühere Ereignisse literarisch so dargestellt oder gar narrativ konstruiert, dass sie zur Intention des Erzählers passen, der keinesfalls heutige Problematiken und Fragestellungen im Blick hatte. Darum sind immer nur indirekte Vergleiche oder Bezüge möglich, also punktuelle Aussagen und Denkfiguren, aber keinesfalls eine unkritische und umfassende Übernahme früherer Normenvorstellungen in globo, etwa im Sinne einer engen Glaubensethik oder einer politischen Utopie irgendwelcher Art. Trotzdem scheint es berechtigt, frühere Texte oder Textfragmente auf heutige Fragen zu beziehen – etwa um Abstand zu heutigen, oft unkritischen Sichtweisen zu gewinnen und vielleicht im besten Fall zu einem Perspektivenwechsel zu gelangen, der gar neuen Raum für innovative Lösungen schafft.

      Gertrud Brücher (2002:159) hat vorgeschlagen, die unterschiedliche säkulare und religiöse Sicht als „Generaloptik durch Ein- oder Ausschluss des Immanenz/Transzendenz-Schemas“ zu definieren. Doch trifft das zu? So kann auf der einen Seite auch eine säkulare Sicht eine immanente Transzendenz beinhalten, nur dass diese nicht auf ein Jenseits ausgerichtet sein muss, sondern auch auf ein diesseitiges Kollektiv hin orientiert sein kann, wie etwa im Marxismus auf die „Arbeiterklasse“ oder in einer republikanischen Vision auf „das Volk“. Umgekehrt gibt es nicht wenige religiöse Sichtweisen, welche das Diesseits ins Zentrum stellen – etwa die klassische jüdische Sicht oder auch befreiungstheologische Strömungen im Christentum.

      Der Säkularismusbegriff gewinnt dann seine Schärfe, wenn es um die Begründungsstruktur geht: Religiöse Ethiken nehmen in der Regel Bezug auf eine ausserhalb des Menschen gedachte oder vorgestellte und kommunizierte Heilsstruktur, während säkulare Ethiken vom Axiom der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie des Menschen ausgehen. Die Unterscheidung verläuft also weniger zwischen Transzendenz und Immanenz, sondern eher zwischen Heteronomie und Autonomie des Menschen. Historisch bezeichnet der Begriff des Säkularismus auch die Entflechtung von religiösen und weltlichen Machtstrukturen, weshalb der Säkularismus immer auch eine religionskritische Dimension hatte oder gar zu einer Art „nicht-religiöser Quasi-Religion“ (vgl. Jäggi und Krieger 1991:138ff. sowie 143ff.) wurde, also zu einer mit den Religionen konkurrierenden Weltanschauung. Entsprechend schwang und schwingt bei allen „legitimen und illegitimen“ Kindern der Aufklärung – also vom Humanismus über den Liberalismus bis zum Marxismus – eine religions- oder besser theokratiekritische Denkweise mit.

      Interessant ist in diesem Zusammenhang der Ansatz des iranischen Theologen Mujhahid Shabestari (z.B. 2012:196ff.), der – so Vahdat 2015:166 – versuchte, göttliche und menschliche Subjektivität zu versöhnen (vgl. auch Jäggi 2021a:38).

      Dabei ist zu bedenken, dass religiöse Zugänge zu ethischen Überlegungen oft andere sind als Zugänge säkularer, also nicht religiöser Ethik. Dagmar Fenner (2016:62) hat das wie folgt formuliert: „Typisch für den hermeneutisch-verstehensorientierten Zugang religiöser Ethik sind Erzählungen, denen in vielen Religionen eine entscheidende Rolle für die Heranbildung und Festigung des religiösen Ethos zukommt. Religiöse Moral und Ethik sind statt begründungsorientiert wesentlich narrativ, also erzählend. Sie manifestieren sich in den von Generation zu Generation weitergegebenen rituellen Zeremonien, erzählten oder inszenierten Geschichten, Gleichnissen und Bildern. Im Unterschied zu einem nüchternen, möglichst knappen und präzisen Argumentationsstil philosophischer Ethik fehlt religiösen Texten zu ethischen Themen ein systematischer Aufbau …“ (Fenner 2016:62). Doch diese Tatsache hat auch einen entscheidenden Vorteil: Narrative Texte sprechen im Unterschied zu logisch-rationaler Argumentation besonders das Gefühl und die Empathie an, die oft tiefer gehen und nachhaltiger wirken als logisch-vernunftmässige Begründungen – die übrigens nicht selten nachträgliche Rationalisierungen spontan entschiedener Gefühlsentscheide darstellen.

      Umgekehrt kann eine Ausschaltung vernunftmässiger Reflexion auch zu Fehlentscheidungen führen, wie man etwa aus der Vorurteils- und Stereotypieforschung kennt. Deshalb ist wohl – wie oft – die Kombination von beidem optimal: narrative und gefühlsbezogene Geschichten und rationale Reflexion der entsprechenden Texte, und zwar immer im Sinne und vor dem Hintergrund autonomer Moral.

      Jedoch soll damit nicht einer blinden Gefühlsethik (vgl. Fenner 2016:64) das Wort geredet werden, welche „gute“ oder „richtige“ Entscheide nur auf ein allgemeines Gefühl – etwa ein vages „Wohlwollen“, „Mitleid“ oder „Güte“ – zurückführen wollen und dieses als „Quelle und Gradmesser von Moralität“ (Fenner 2016:64) sehen. Positive Gefühle sind zweifellos wichtige Träger von moralischen Handlungen, aber sie helfen oft in konkreten Situationen, etwa in ethischen Dilemmata,