Liebe würde helfen. Claudia Brendler

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Название Liebe würde helfen
Автор произведения Claudia Brendler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311702122



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hineinstopft.

      »Bis zur nächsten Klavierstunde«, sagt sie, »und … danke.« Sie meint die Pizza, aber es klingt fast, als meinte sie etwas anderes. »Okay«, sagt Tobi nur, und Katrin findet ihn unhöflich, er sollte aufstehen, ihr die Hand geben. Jetzt kann sie unmöglich von dem Pizzageld anfangen, muss es mit Katrin am Telefon besprechen. Allein der Gedanke daran erschöpft sie, am liebsten würde sie auf der Stelle einschlafen.

      Im Flur stellt Katrin ihr den Mann vor, Holger, seinen Beruf nennt sie nicht, dafür ihren: Tobis Klavierlehrerin.

      »Oh, Klavierlehrerin«, wiederholt er.

      »Diplom-Musikpädagogin«, sagt sie und vergisst, die Hand vor den Mund zu halten. Sie stehen dicht beieinander in der Enge zwischen den Getränkekästen, er ist nicht viel größer als sie und ihrem Geruch ausgeliefert, Pizza, Rotwein, dem Unerträglichen, das Jan zuletzt an ihr gerochen hat.

      Er kippt nicht um, zuckt noch nicht einmal zusammen. Er ist auf echsenhafte Weise glattrasiert, auch am Kopf, beim Lächeln spannt sich die Haut über den Wangenknochen.

      Seine Echsenhaftigkeit passt zu Katrins Zähnen, daran denkt sie, später, schon im Bus, sie weiß nicht, wie sie darauf kommt, ihre Gedanken schwirren, irren, flirren in ihrem Kopf herum, in einem leeren, verfallenen Gehirn, ausgeräumt wie die Wohnung. Wie hat sie direkt nach der Trennung nur die Energie aufgebracht, das Sozialkaufhaus anzurufen und ihre Möbel abtransportieren zu lassen? Weg mit dem alten Leben, weg, alles weg, nichts behalten. Sich selbst gleich mit weggeben, in Vergessenheit geraten, der Welt verlustig gehen, für wen wäre ihr Verschwinden ein Verlust? Ihr fallen die nahen Verwandten ein, ihre Mutter, Tante, ihr depressiver Cousin, zwei, drei Kolleginnen, die eher Freundinnen sind, ein guter Freund, fünfhundert Kilometer entfernt, Katrin vielleicht, Tobi? Würde sie ihren Schülern fehlen? Wenn ja, dann nur kurz. Sie könne anrufen, wenn es sehr schlimm werde, hat ihr die Psychologin angeboten, sie war zu Tränen gerührt. Sie steigt aus. Die Straße mit den Häusern ist wie immer. Auf Jans Parkplatz steht der VW-Bus der Nachbarn. Neue Aufkleber auf der Heckscheibe, sie müssen wieder im Urlaub gewesen sein. Aufschließen. Erst die Haustür, dann die Wohnungstür. Das Aufschließen ist immer das Schwerste. Im Kühlschrank ist noch eine Flasche Weißwein. Wie hat ihre Wohnung früher geklungen, wie hat sie gerochen? Wie riecht eine Beziehung, eine Liebe? Ihr fällt nur Jans Deo ein. Und genau danach riecht es im Flur. Und darunter nach etwas anderem, sie findet erst keinen Begriff dafür. Das Licht brennt, auf dem Boden liegt ein Zettel. Sie soll morgen um elf da sein, die Maklerin kommt. Sie ruft nach Jan, hofft für einen Moment, er wäre noch da, hofft gleichzeitig das Gegenteil. Niemand antwortet. Da ist nur der Geruch. Deo und dieses andere, etwas Stechendes. Nach Zoo. Sie geht dem Geruch nach, im Bad ist er stärker. Die blaue Dose mit dem Deo steht auf dem kleinen Absatz am Wannenrand. Auf dem Boden ein Handtuch. Eins von den blauen, das sie früher gern benutzt hat. Hat er sich schnell gewaschen, nachdem er irgendetwas ins Auto geschleppt hat, sich gewaschen und besprüht, damit er für die Neue gut riecht?

      Ich brauch ein starkes Deo, glaub mir, ich stinke. Das hat Jan einmal gesagt, auf seine ironische und gleichzeitig selbstbewusste Art, sie haben beide gelacht, wahrscheinlich hat sie ihn geküsst: Du doch nicht. Tränenblind hebt sie das Handtuch auf, und da strömt es ihr entgegen: animalisch, raubtierhaft, abstoßend. Die Waschmaschine ist noch da, sie steckt das Handtuch hinein. Und in diesem Moment kommt das, was ihre Geruchs- und Geschmacksnerven längst wissen, bei ihrem Verstand an: Auf der Ebene der Pheromone ist es ihr gelungen, sich zu entlieben.

      Wenn es nur nicht so lange dauern würde, bis der Rest von ihr es auch begreifen wird, sie weiß es, weiß es schrecklich genau. Jahre wird sie brauchen, jede einzelne Zelle in ihr wird sich blind und dumm stellen, sich der Erkenntnis widersetzen wie ein rebellischer Schüler. In der Küche – der Smoothie-Maker fehlt – gießt sie sich Wein ein und geht mit dem Glas ins Wohnzimmer. Auch dort riecht sie es, das Gemisch aus Deo und Animalischem. Feiner, ferner, aber vorhanden. Der goldgelbe Orientteppich vor der Heizung ist weg. Sie haben ihn kurz vor dem Ende gekauft, als könnte ein Teppich eine Liebe retten. Einen Tisch gibt es nicht mehr, sie stellt das Glas auf eine Umzugskiste und öffnet das Fenster weit.

      Oliver

      Das Erste, was er wahrnimmt, ist ein Geräusch. Ein Brummen, begleitet von einem leisen Klirren, das seltsam hallt. Er öffnet die Augen einen Spalt breit, sieht schmuddelgrünen Tweed. Conans Sofa. Bei Tageslicht hat es eine ganz andere Farbe als in der Nacht. Er hebt den Kopf. »Conan?« Keine Antwort, nur das Brummen, das ihm jetzt laut vorkommt. »Hallo?« Niemand. Die Kneipe ist hell, verlassen, unwirklich. Er tastet nach dem Handy in seiner Hosentasche, 9 Uhr 13, lässt den Kopf zurück aufs Polster fallen, du hast die ganze Nacht auf diesem ranzigen Sofa geschlafen. Ganz vorsichtig, Schritt für Schritt, setzt er seine Gedanken in den vergangenen Abend hinein, man weiß nie, wohin man tritt. Ein ganz normaler Abend, oder? Er ist direkt aus dem Büro hierhergekommen, ziemlich spät, hat länger gearbeitet, als er müsste, wo zum Teufel ist seine Aktentasche? Er schreckt auf, sieht sich um, greift sich dabei an den Hals, tatsächlich trägt er ein Bürohemd, die oberen Knöpfe sind geöffnet, keine Krawatte. Er spürt Durst und leichten Schwindel, legt sich abermals hin. Zwischen den Tischbeinen hindurch sieht er zum Fenster, parkende Autos, gelegentlich ein Passant, er sieht nur die Unterkörper, den Rest verdecken die Tischplatten. Einen Veggie-Burger mit Pommes-Frites hat er gegessen, Beefburger waren aus, das weiß er noch genau. Er hat erst Bier, dann Rotwein getrunken und sich eine Weile mit Conan unterhalten, das heißt, eigentlich hat er Conan reden lassen, von den alten Zeiten, als er die Kneipe aufgemacht hatte, und wie es damals gewesen sei, hier im Nordend, die Frauen ganz anders drauf, die Männer auch, auch alle durchgeknallt, aber anders, normaler, verstehste, was ich mein? Er versteht es nicht, die Zeiten, von denen Conan redet, erscheinen ihm fremd und in Schwarzweiß, so verstaubt wie das Sofa, auf dem er liegt und das Conan vom Sperrmüll geholt hat, wie alle Möbel hier. Gelegentlich kommt ein Stuhl dazu oder eine Lampe, der Laden ist vollgestopft. Unglaublich, was die Leute so alles fortschmeißen, sagt er immer wieder. Er schätzt Conan auf Mitte fünfzig, könnte sein Vater sein, aber Conan als Vater kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Eine Stimme lässt ihn zum Fenster sehen, ein kleines Mädchen schaut ihm direkt ins Gesicht, sie hat die Nase an die Scheibe gepresst und die Hand über die Stirn gelegt. »Da hinten«, sagt sie, es klingt, als spräche sie aus einer Blechdose. Neben ihr zwei Beine in Jeans, Männerbeine, ein Vater vermutlich. Er bleibt liegen, schließt die Augen, wartet, bis sie weitergegangen sind. Dann setzt er sich endgültig auf, checkt sein Handy. Die oberste WhatsApp stammt von einer ihm unbekannten Nummer, ist aber schon gelesen, ein Zwinkersmiley und ein Name, dann erinnert er sich wieder an die Frau, mit der er sich spät am Abend noch unterhalten hat. Sie war mit einem Typen da gewesen, vielleicht ihr Freund, es war unverkennbar, dass die beiden sich im Laufe des Abends zerstritten hatten, der Typ ist schließlich abrupt aufgestanden und hat den Laden verlassen, die Frau hat eine Weile vor sich hin gestarrt, ist dann zum Tresen rübergekommen und hat sich ein Glas Wein bestellt. Kurz darauf sind sie ins Gespräch gekommen, ziemlich süße Frau, aber er kann sich nicht mehr genau daran erinnern, worüber sie gesprochen haben.

      Er steht auf, geht zum Tresen, Kaffee wäre gut, aber er hat keine Ahnung, wie die Kaffeemaschine funktioniert, ein riesiges Ding aus Chrom, das wahrscheinlich explodiert, wenn man etwas falsch macht. Da sieht er den Zettel: Koffer hinter dem Sofa, 38 Euronen, Übernachtung frei. Das klirrende Brummen kommt von einem der Kühlschränke, die Flaschen darin vibrieren gegeneinander, er nimmt eine Wasserflasche heraus, trinkt, steht unschlüssig da und betrachtet die alten Apothekenregale, die dem Lokal seinen Namen geben, Drugstore, sieht die runtergebrannten Kerzen in den Windlichtern, die Filmplakate an den Wänden, Conan der Barbar. Geh rauf in deine Wohnung, dusch dich, trotze dem Tag. Es kostet ihn Überwindung, den Koffer zu holen und die Hintertür zum Treppenhaus zu öffnen.

      Während der Computer hochfährt, macht er Kaffee, gibt dann den Namen der Frau von gestern bei Facebook ein, klickt sich durch ihre Bilder, überlegt, ob er sie anschreiben soll. Verdammt hübsch, wahrscheinlich hat er keine Chance. Eine WhatsApp von Steffi, sie schickt Bilder, offenbar war sie gestern mit dieser Svetlana unterwegs, kannst du heute Abend? Er verschiebt die Antwort auf später, dabei würde es ihm gefallen, Steffi zu sehen, für einen Moment stellt er sich vor, dass sie etwas zusammen kochen und er dann bei ihr übernachtet, es ist doch schön mit