Название | Liebe würde helfen |
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Автор произведения | Claudia Brendler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311702122 |
Als sie dann schwanger war, hat sie sich manchmal gefragt, ob sie doch hätte warten sollen, auf eine bessere Gelegenheit, ohne Kompromisse, aber sobald ein Kind da ist, sind solche Gedanken nicht mehr denkbar, weil dieses einzigartige Wesen nur auf diesem einen Weg gefunden werden kann. Bilder von Tobias, wie er auf der Decke im Garten liegt, Babylachen im Gesicht, als Fünfjähriger beim Skifahren, und wieder überfällt sie Sentimentalität, dieses Mal so sehr, dass ihr die Augen tränen. Sie steht auf, ohnehin müsste sie etwas essen, sie schnäuzt sich in ein Küchentuch, holt ein Stück Parmesan und Oliven aus dem Kühlschrank, Cracker, Parmesan, Oliven, Rotwein – die Zutaten für einen Abend, wie er sein könnte, wenn nichts fehlte.
Eine neue Mitteilung: Geschäftsführer (51) ist gerade online und schickt eine persönliche, annähernd fehlerfreie Nachricht. Die Berufsbezeichnung macht sie skeptisch, im Zweifel betreibt er ein Fitnessstudio oder eine Imbissbude. Sie antwortet mit ein paar Fragen zu seinem Wohnort und seinen Arbeitszeiten, Kompatibilität sei schließlich wichtig, fügt sie an und bittet ihn, seine Bilder freizugeben. Er bevorzuge ein Treffen statt vieler Nachrichten, der persönliche Eindruck sei entscheidend. Sie denkt an die vielen Male, die sie erwartungsfroh zu einem Treffen gefahren ist, um dann festzustellen, dass das Gegenüber eine Katastrophe war. Er schlägt einen Ort auf halber Strecke vor, etwa fünfzig Kilometer entfernt. Fünfzig Kilometer. Ein ganzer Abend, der dafür draufgehen würde, und die Wahrscheinlichkeit, dass es komplett vertane Zeit ist, liegt ziemlich hoch. Sie überlegt, ob sie ihn gleich wegklicken oder die Entscheidung auf morgen vertagen soll, dabei weiß sie längst, dass auch er eine Enttäuschung ist, und sie hat sich geschworen, sich gar nicht erst wieder in eine Situation zu bringen, in der sie allzu große Kompromisse eingehen würde. Sie klickt ihn weg, ich konzentriere mich gerade auf einen anderen Kontakt. Fertig.
Und nun? Sie hat nie geraucht, wird nie rauchen, doch in letzter Zeit wünscht sie sich manchmal, eine Zigarette zwischen den Fingern zu halten, so wie ihre Mutter das immer getan hat, und jetzt, da sie sich daran erinnert, fällt ihr auf, dass das Ausblasen des Rauchs ihr damals ungeheuer entspannend vorgekommen ist. Zumindest solange sie ein Kind gewesen ist und die Gesundheit der Mutter ihr als etwas Konstantes erschien. Heute sieht sie eine Zigarette natürlich als das, was sie ist: pures Gift, und umso absurder fühlt sich die Sehnsucht an, die sie plötzlich überfällt, als sie sich an den Aschenbecher aus hellgrünem Porzellan erinnert, mit der qualmenden Zigarette darin, der auf dem elterlichen Couchtisch stand. Sie springt auf, durchquert das Wohnzimmer und öffnet die Terrassentür. Atmet die kühle Abendluft ein, es riecht nach feuchter Erde und aufbrechender Natur. In ein paar Wochen wird es um diese Tageszeit hell sein, vor den Lokalen werden die Menschen im Freien sitzen, Paare, niemand wird allein sein, und irgendwo da draußen muss doch, verdammt noch mal, jemand existieren, mit dem sie dort sitzen kann. Sie schließt die Tür, kehrt in die Küche zurück, klickt systematisch ein Profil nach dem anderen an, die meisten hat sie schon gelesen, sie entfernt alle No-Gos, viele bleiben nicht übrig.
Den Radius erweitern. Nichts dem Zufall überlassen. Für ein paar hundert Euro könnte sie bei einem weiteren großen Portal Mitglied werden. Warum eigentlich nicht? Sie öffnet die Seite, klickt sich durch die Anmeldung. Sie zögert, ehe sie auf den Bezahlbutton klickt, fast vierhundert Euro, und das ist schon ein Sonderangebot. Aber was sind vierhundert Euro, sie verdient gut genug, schließlich geht es um ihre Zukunft. Sie gibt ihre Kreditkartennummer ein, dann ist sie freigeschaltet. Sofort macht sie sich daran, ihr Profil zu gestalten, beschreibt sich als witzig und gut gelaunt und wählt ein besonders attraktives Foto aus, Marco hat es aufgenommen, man sieht dir an, dass du glücklich bist.
Noch ehe sie alle Profilfragen beantwortet hat, kommen die ersten Likes und Nachrichten. Energie durchströmt sie, eine gute Entscheidung, und was sind schon vierhundert Euro! Erleichtert lehnt sie sich zurück.
Hanne
Sie hat keine Erinnerung, wie sie hierhergekommen ist. Hierher, vor diese Haustür, die sie kennt, natürlich kennt sie diese Tür, seit mehr als vier Jahren steht sie jeden Mittwoch um sechzehn Uhr dreißig davor und drückt auf die Klingel. Gleich wird sie Tobis Schritte hören, er wird die Tür öffnen, sie werden einander begrüßen, er wird durch den Flur vorausgehen wie immer, und sie wird auch diese Klavierstunde durchstehen. So, wie sie alles durchsteht. Seit fünf Wochen und zwei Tagen geht es nur noch darum, Durchstehen, Durchhalten, Weitermachen, wie, ist erst mal egal, Hauptsache durch. Was hinter dem Durch kommt, kann sie sich nicht vorstellen. Sie muss mit dem Bus hergefahren sein, wie immer. Muss gestanden oder gesessen, aus dem Fenster geschaut oder den Boden betrachtet haben, all die kleinen Pfützen, die die Schuhe der Leute hinterlassen, muss ausgestiegen und den üblichen Weg zu Katrins Haus gegangen sein, vorbei an den Geschäften, Dönerbuden, Pizzerien, Cafés, dem Bioladen, bis zu der ruhigen Seitenstraße mit den Reihenhäusern. Sie kann sich an kein Detail des Wegs erinnern, wo war sie währenddessen, haben Außerirdische sie entführt und wieder abgesetzt? Solche Gedanken fliegen sie jetzt manchmal an, abwegige Gedanken, die sie zum Lachen reizen, eine Verrückte, der Teile ihres Alltags fehlen. Ganz sicher hat sie vor dem Weggehen ihre Zähne geputzt, so sorgfältig wie immer, danach die Zungenreinigung, Zahnseide, antibakterielle Spülung. Der Geschmack von Zahnpasta und Spülung ist verflogen, sie schiebt sich ein Pfefferminz in den Mund und drückt wieder auf den Klingelknopf. Ist heute überhaupt Mittwoch? Ihr Handy ist nicht in der Tasche, wahrscheinlich zu Hause gelassen. Nein, in der Wohnung. Zu Hause gibt es nicht mehr, sie sollte das Wort nicht mehr denken. Sie dreht sich um. Die Straße hinter dem winzigen Vorgarten ist leer. Am Eingang des kleinen Parks steht ein Mann mit Hund. Er trägt einen Hut, einen Cowboyhut aus schwarzem Leder. Kurz fragt sie sich, ob er real ist. Was denn sonst, sie ist nicht verrückt, sie weiß auch, welcher Wochentag ist. Vorgestern war Montag, sie war bei der Therapeutin. Gestern war Dienstag, ein Nachmittag an der Musikschule, die Schüler wie Gespenster, sie selbst ein Gespenst. Das Regentropfen-Lied aus der Klavierschule für die Kleinen; Yann Tiersen, die Filmmusik von Amélie; eine dieser Kitschmelodien aus den Biss-Filmen; Mozart; Bartok; ein Lied aus der Eiskönigin; Ravel; Gershwin. Sie hat funktioniert. Die kleinste Schülerin, kaum sieben Jahre alt, hat nach der Stunde mit dem winzigen Zeigefinger über ihren Handrücken gestrichen, ganz kurz, ganz zart: Bist du traurig, Frau Martini? Sie hat überstürzt aufs Klo gehen müssen.
Der Mann mit dem Hund kommt nun die Straße herunter. Der Hund wieselt voran, schnüffelnd, er ist groß, hell, freundlich. Ein Kinderhund, Familienhund. Sie geht vor zum niedrigen Zaun des Vorgartens, fragt den Mann, wie spät es ist. Als er sein Handy herauszieht, versucht sie, einen Blick aufs Display zu werfen, dort müsste auch das Datum stehen, der Wochentag, zu klein, sie kann es nicht entziffern. Fünf nach halb fünf, sagt er, seine Stimme ist ein bisschen rau. Einer, der sich oft räuspert. Vielleicht erträgt seine Frau das ständige Geräusper nicht und schickt ihn deswegen mit dem Hund raus.
Danke, sagt sie, hält dabei automatisch die Hand vor den Mund, wie immer, wenn jemand nahe bei ihr steht. Nur der Zaun ist zwischen ihnen, und der Mann mustert sie, wirkt, als wollte er noch etwas sagen oder fragen. In diesem Moment hört sie Tobis Schritte im Haus, hört, wie er die Tür aufreißt, und sie bedankt sich noch einmal und geht zurück.
»Ich hab … gerade geübt, hast du schon mal geklingelt?« Tobi steht ihr gegenüber und schaut zu ihr herab. Ist es möglich, dass ein Vierzehnjähriger innerhalb einer Woche um mehrere Zentimeter wächst? Katrin ist klein. In der Schule waren sie ein ungleiches Freundinnenpaar, Katrin und sie. Klein und schmal, groß und plump. Daran muss sie jetzt denken, während sie Tobi ins Haus folgt und sich dabei wieder plump vorkommt. Tobi schlängelt sich durch den Flur, vorbei an herumstehenden