Название | Liebe würde helfen |
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Автор произведения | Claudia Brendler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311702122 |
Tobi zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung, hat Mama bekommen.« Er wendet sich ab, dreht sich zum Klavier, wirft sich fast herum. Sie zieht den Mantel aus und hängt ihn über die Stuhllehne. Ihre Hosen rutschen, passen nicht mehr, dabei hat sie sie erst vor kurzem gekauft. Genau vor fünf Wochen und einem Tag. Dem Tag nach Jans Geständnis, dass es die Neue gibt. Enge Hosen, figurbetonende Pullover, die jetzt an ihr herumschlottern. Tobi sitzt schon auf der Klavierbank, schlägt rasch die Noten auf. Natürlich hat er nicht geübt, wahrscheinlich ein Computerspiel gespielt. Sie zieht einen Stuhl heran. Nicht zu nahe, so wie sie es auch in der Musikschule hält, um niemanden mit ihrem eventuellen Geruch zu belästigen. Jan konnte nichts für seine Geruchsempfindlichkeit. Für ihn hat sie auf Parfüm und Cremes verzichtet, zugelassen, dass er ihr das Deo aussuchte, sogar die Pfefferminzbonbons. Das mit dem Mundgeruch kam erst später in ihrer Beziehung. Diese eine Autofahrt, als er es kaum neben ihr ausgehalten hat, so schlimm muss ihr Mundgeruch gewesen sein. Sie hatte kein Pfefferminz dabei, saß steif, aufgerichtet, sprach nicht mehr, traute sich kaum, auszuatmen. Ihre Zähne sind in Ordnung, der Zahnarzt hat nie eine Ursache gefunden, auch gerochen hat er nichts. Tobi hat schon angefangen zu spielen, die ersten Akkorde des C-Dur-Präludiums. Sie muss sich konzentrieren. Das hat sie auf einer Fortbildung gelernt: Die Augen schließen, nicht die Noten mitlesen – sie kennt das erste Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier sowieso auswendig –, hören, was der Schüler zu geben hat. Tobi hat nach der ersten Modulation von C nach G wie immer Holpriges zu geben, entschuldigt sich, fängt von vorne an. Er riecht nach Schweiß, eine Pubertätsausdünstung, sie kennt das auch von anderen Schülern und Schülerinnen, keine leichte Zeit, wenn man alles verströmt, Hormone, Schweiß, Hoffnung, Verzweiflung, wenn man sich auf den eigenen Körper nicht mehr verlassen kann, wenn er zum Rätsel wird. Sie erinnert sich gut an ihr eigenes Aufgewühltsein in Tobis Alter, während Katrin damals immer gelassen schien, zumindest äußerlich. Wie eng war ihre Freundschaft eigentlich? Hat Katrin gewusst, warum sie in dieser Zeit nur Jacken mit weiten Taschen trug? Wie sie sich für ihre Schaufelhände geschämt, sie immer in diesen Taschen versenkt hat? Außer in der Klavierstunde, da wurde sie dafür gelobt, dass sie mühelos eine Dezime greifen konnte. Aber das zählte nicht, Beliebtheit zählte, Begehrtsein. Katrin hat auf Klassenpartys viel herumgeknutscht, schon mit vierzehn, beinahe schamlos, sie erinnert sich an Katrin auf einer Matratze, während ihr der Klassenkamerad, wie hieß er, Steffen?, den Rock hochschob, im Halbdunkel. Wenn Tobi wüsste, was sie denkt, verdammt, sie muss zuhören, mit geschlossenen Augen, dann hört man nicht nur besser, man riecht auch mehr. Wenn man sich die Welt erschnüffeln will, muss man Augen und Ohren verschließen, Nase am Boden, wie ein Hund, alles erschnüffeln, Ausdünstungsspuren, Hormonspuren, Lebensspuren, Jan und sie haben mal einen Hund anschaffen wollen, es dann doch nicht getan.
Tobi ist wieder hängengeblieben. Ob er nicht lieber etwas Neues anfangen will, fragt sie, den Fluch der Karibik zum Beispiel, das ist ein bisschen leichter und macht sicher Spaß. Tobi schüttelt den Kopf. Er mag dieses Präludium, sie weiß es, er hat es schon öfter gesagt, Tobi ist einer der wenigen Schüler, die freiwillig Bach spielen. Sie gehen die Stelle, an der er scheitert, zusammen durch, es liegt am vierten Finger, er muss den fünften nehmen, sonst stolpert er beim Lagenwechsel. Tobi bemüht sich, streicht eine Locke zurück, seine Haare sind inzwischen richtig schwarz. Bartflaum in seinem Kindergesicht, über der Oberlippe und auf den Wangen. Vor ein paar Jahren sah er Katrin noch ein bisschen ähnlich, inzwischen haben sich wohl die Gene seines Vaters durchgesetzt. Sie weiß wenig über Katrins Exmann. Erst nach Katrins Scheidung sind sie sich wieder über den Weg gelaufen, beim zwanzigjährigen Abi-Treffen.
Ob Tobi seinen Vater liebt, mit ihm reden kann, sie würde ihn gern danach fragen. Soweit sie weiß, gibt es eine neue Frau, neue Kinder, auch die Frau verlassen von einem Mann, wegen einer anderen, alle verlassen alle, Patchworkfamilien sind heute die Normalität. Was sich alles geändert hat in kaum drei Jahrzehnten, sie selbst hat sich als Kind noch dafür geschämt, dass sie eine vom Vater verlassene Tochter war. Haltlos, so hat sie sich immer gefühlt, schon als Schülerin, die Musik war ihr Halt, später war Jan ihr Halt, eigentlich will sie in der Therapie über all das gar nicht reden, will einfach nur ihr altes Leben zurück. Die Therapie ist eine Nottherapie. Ein paar Stunden zur Überbrückung, während sie auf einen richtigen Platz wartet. Sie hat sofort nach Jans Geständnis angerufen. Alle Notfallnummern, die sie finden konnte. Dann ist sie einkaufen gegangen. Vollkommen betäubt.
Tobi hat den Lagenwechsel geschafft, scheitert aber an dem nächsten arpeggierten Akkord und beißt auf seiner Unterlippe herum.
»Scheiße. So eine blöde Scheiße«, sagt er, dann entschuldigt er sich. Etwas Tieftrauriges geht von ihm aus, es hat nichts mit verpatzten Lagenwechseln oder verstolperten Arpeggien zu tun. Direkt danach fragen kann sie nicht, sie fragt nur: »Und sonst? Alles okay? Wie geht’s in der Schule?«
»Hab noch so viele Hausaufgaben.« Tobi schaut auf die Tasten. Auch das ist nicht der Grund, sie spürt es. Manchmal erzählt er ein bisschen von der Schule, er hängt in verschiedenen Fächern, nur in Mathe ist er gut. Freunde kommen in seinen Erzählungen nicht vor, das ist ihr aufgefallen.
Ob sie ihm helfen könne, fragt sie, hält dabei die Hand vor den Mund. Ein Dreiwortsatz schießt ihr durch den Kopf: Mundgeruch macht einsam. Aus einem Werbespot für Gebissreiniger, jetzt fällt es ihr wieder ein, sie war noch ein Kind, und die Omis, von denen sich alle abwandten, haben ihr leidgetan.
»Helfen? Bei den Hausaufgaben?« Tobi lächelt sein Zahnspangenlächeln. »Geht das? Ich meine … ich hab Klavierstunde, dafür bezahlt Mama dich doch.«
Es klingt ein bisschen nach Dienstbotentum, genau das ist der Grund, warum sie sich normalerweise weigert, zu Privatschülern nach Hause zu gehen. Nur bei Katrin hat sie eine Ausnahme gemacht, Tobi war neun damals, Katrin im Dauerstress, keine Zeit, ihn zu bringen und abzuholen. Jetzt könnte er längst mit dem Bus fahren, aber es ist dabei geblieben. Im Moment kann sie sowieso nicht in der Wohnung unterrichten. Überall Umzugskisten, die meisten Möbel sind weg. Sie hat noch keine neue Wohnung gefunden, müsste Tag und Nacht suchen, bei diesem schwierigen Wohnungsmarkt und ihrem geringen Gehalt, aber sie sucht nicht, sie tut nichts, als irgendwie durch die Tage zu schwimmen.
»Das ist schon okay«, sagt sie, »zeig mir einfach, was du aufhast«, und Tobi springt auf, kommt einen Moment auf dem Parkett ins Rutschen. Seine riesigen Füße in gestreiften Wollsocken. Soweit sie weiß, strickt Katrin nicht. Vielleicht von der Oma? Der Frau von Tobis Vater?
Im Zimmer ist es dämmrig, sie steht auf und knipst die Lampe über dem Tisch an. Draußen auf der Straße geht der Mann mit dem Hund auf und ab. Was für ein langer Spaziergang. Er trägt nur eine Lederjacke zum Hut, Jeans, Stoffturnschuhe. Kurz hat sie den Impuls, ihn hereinzubitten. Hier ist es warm. Zu warm. Fast heiß. In der Wärme entfaltet sich der Blumenduft, wird immer aufdringlicher. Unangenehm.
Tobi hat seinen Schulrucksack angeschleppt und breitet Blätter auf dem Tisch aus, Texte und Fragebögen. Vor allem die Deutschhausaufgabe macht ihm zu schaffen, Gedichtinterpretation. Damit kann er nichts anfangen, rein gar nichts. Sie setzt sich neben ihn, versucht, die Vase mit den Blumen ein Stück wegzuschieben. Zu schwer, zu voll, der Strauß zu üppig. Tobi zeigt ihr die Gedichte, sie sollen erst nur kategorisiert werden: Romantik, Dadaismus, moderne Lyrik, Rap. Eigentlich nicht schwierig. Eichendorffs Mondnacht. Schwitters. Bachmann: Erklär mir, Liebe. Eine neuere Dichterin, die sie nicht kennt. Den Rapper kennt sie auch nicht. Die Vase ist zu nahe. Dieser Duft. Der süßliche Duft des Verblühens, fast könnte einem schlecht werden. Kommt davon, wenn man die Nasenflügel zu weit aufsperrt. »Nasenflügel«. Sie spricht das Wort aus, ohne es zu wollen, hört sich selbst zu wie einer Fremden. Und spürt sofort Tobis Irritation.
»Könnte auch in einem Gedicht stehen, so ein Wort«, sagt sie schnell und hält sich dabei die Hand vor den Mund. »Was meinst du, in welcher Epoche würden sie solch einen Begriff am ehesten verwenden? In welcher eher nicht?«
Tobi zögert, rutscht auf dem Stuhl hin und her, sie zeigt auf den Eichendorff: »Und