Название | Liebe würde helfen |
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Автор произведения | Claudia Brendler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311702122 |
In der nackten Wohnung, die einmal ihr Zuhause war, hallt jeder Schritt. Diesen Monat zahlt Jan noch seinen Teil der Miete. Ab und zu kommt er vorbei, um etwas zu holen. Viel von ihm steht nicht mehr dort. Sie hatten getrennte Zimmer, jeder seinen Bereich, so wollten sie es: zusammenwohnen, aber nicht zu eng. Ihre Wohnung war auch sein Arbeitsplatz, ebenfalls ihr Arbeitsplatz, wenn sie übte oder zu Hause unterrichtete, die Musikerin und der Grafiker. Jetzt ist er mitsamt seinem Büro bei der Neuen eingezogen, die Neue ist schwanger.
Seine Beteuerungen: Nur Wochen habe die Beziehung gedauert, nur ein paar Wochen habe er sie angelogen, nicht länger, alles noch ganz frisch, und dann gleich schwanger, die Neue will ihn haben, macht Nägel mit Köpfen oder Kinder mit Köpfen, was denkt sie da, es sind die Blumen, die Blumen, dieser Duft hat beinahe etwas Toxisches.
Tobi schiebt den ausgefüllten Bogen zu ihr herüber und greift nach seinem Handy. Sie schaut auf die Kreuze, alles stimmt, soweit sie es beurteilen kann. Auf der Wanduhr ist es Viertel nach fünf, die Klavierstunde ist um.
»Wann kommt deine Mutter denn heute nach Hause?«, fragt sie.
»Ich glaub, sie hat nach der Arbeit noch eine Besprechung.« Tobi tippt auf dem Handy herum, sie spürt, wie er sich bemüht, den nächsten Satz beiläufig klingen zu lassen: »Hab irgendwie Lust auf Pizza.«
»Pizza?«, fragt sie, wozu das Echo, vielleicht, um ihnen beiden Zeit zu geben, denkt sie. Tobi tippt, und sie fragt sich, wo ihr Handy eigentlich ist. Vielleicht hat Jan sich gemeldet. Und wenn.
»Wir könnten uns vielleicht eine holen. Ich hab Geld«, schiebt Tobi schnell nach, und kurz spürt sie seine Einsamkeit, als wäre es ihre eigene. Eine kindliche, ausgelieferte Einsamkeit, zerzauster Jungvogel, weit weg vom Nest. Auch zu Hause kann man sich mutterseelenallein, von aller Welt verlassen fühlen. Sie würde ihm gern sagen, dass sie das versteht, natürlich lässt sie es, sagt nur: »Okay. Gute Idee.« Und versucht ihrerseits, sich ihre Erleichterung – oder Bedürftigkeit – nicht anmerken zu lassen.
Als sie das Haus verlassen, flackern die Laternen auf. Der Mann mit dem Hund ist weg. Wieder der Gedanke, dass er vielleicht nicht real war. Am Ende ist sie verrückter, als sie dachte. Blödsinn, sie hat mit ihm gesprochen.
Zwei Straßen weiter gibt es eine Pizzeria. Sie bestellen zwei Pizzen zum Mitnehmen, außerdem einen Salat, Katrin würde sicher wollen, dass Tobi auch etwas Gesundes isst. Die Pizzeria ist klein, nur drei, vier Tische, ein Tresen, an der Wand ein Gemälde, ein Meeresstrand, der ihr gar nicht italienisch vorkommt, mit Hochhäusern im Hintergrund. Hinter dem Tresen ein Mann mit schütterem Haar und wachem Blick, er lächelt, hält sie wahrscheinlich für Mutter und Sohn. Sein Akzent klingt osteuropäisch, ein Pole, Ungar, Russe vielleicht. Ihn umgibt etwas Trauriges, es umschwebt ihn, umhüllt ihn, etwas wie gelassene Trauer, eine Trauer, an die man sich gewöhnt hat. Vielleicht, denkt etwas in ihr, würden seine und ihre Trauer sogar zusammenpassen, würden die Düfte ihrer Trauer sich mischen, wenn sie sich umarmen würden, wortlos.
Was denkt sie da. Sie will ihn nicht umarmen, will niemanden umarmen. Der Mann hinter dem Tresen nickt. Als hätte sie etwas gesagt. Im Lokal sitzt nur ein einziges Paar, beide sind jung und dick, haben ihre Anoraks noch an, zwei gleiche Daunenanoraks, in Rot, sie essen schnell, mit den Fingern, obwohl Besteck und Papierservietten auf dem Tisch liegen, sogar eine Blume in einer Vase steht dort, gelb. Der traurige Mann packt ihre Pizzen ein, Tobi schiebt einen Zwanziger über die Theke, besteht darauf, sie einzuladen. Sie muss mit Katrin reden, das Geld von den Klavierstunden abziehen.
In der Wohnung deckt Tobi den Küchentisch: Teller, Wassergläser, Besteck, kleine Schüsseln für den Salat, violette Servietten. Seine welpenhaften Bewegungen, sein Eifer, mit dem er ihr dabei ein Computerspiel erklärt, das sie schon von anderen Schülern kennt. Auf der Ablage steht eine Flasche Rotwein, angebrochen. Sie gießt sich ein Glas ein, trinkt, während Tobi seine Pizza zersäbelt und Bissen für Bissen in den Mund schiebt. Die Trennung hat auch etwas Gutes, denkt sie nach dem zweiten Schluck, jede Trennung, jeder Neuanfang hat etwas Gutes, so sagt man doch. Zum Beispiel geht sie wieder aufrecht, schleicht nicht mehr gekrümmt herum, immer auf der Hut vor einer ätzenden Bemerkung von Jan. Zum Schluss konnte sie ihm nichts mehr recht machen. Er musste doch längst bemerkt haben, muss doch gespürt haben, wie seine Liebe zu ihr immer weniger wurde, wie sie schrumpfte, vertrocknete. Wie feige von ihm, denkt sie, früher hat er sie gebraucht, sich an sie geklammert wie ein Kind, ich hab dich lieb, hab dich lieb, hast du mich denn lieb, hast du mich wirklich lieb, ich hab dich lieb, hab dich, hab dich über. Die Grenze ist schmal, vielleicht merkt man es nicht gleich, wenn man sie überschreitet.
»Schmeckt es dir nicht?«
Tobi hat seine Pizza schon zur Hälfte verschlungen, sie schneidet sich einen Bissen von ihrer ab.
»Doch, schon, aber … ich hab’s ein bisschen am Magen. Wenn du willst, kannst du nachher von mir noch was haben.«
»Ich kann doch nicht zwei Pizzas …« Tobi grinst, ein bisschen Tomatensauce um den Mund.
»Du brauchst die Kalorien. Jede einzelne. Aber iss auch Salat, Vitamine brauchst du noch mehr.«
Damals, kurz nach dem Abi-Treffen, als sie das erste Mal bei Katrin eingeladen war, saß Tobi mit ihnen an diesem Tisch und malte. Wie geht es dir, was hast du gemacht, ah, getrennt, und ich, ja, ich bin mit jemandem zusammen. Er ist Grafiker. Jan. Nein, verheiratet sind wir nicht, wir glauben an die Freiwilligkeit. Essen. Sie muss essen. Wenigstens eine Pizzaecke. Das muss doch zu schaffen sein. Die Küchentür steht offen. Sie glaubt, die toxischen Blumen bis hierher zu riechen. Auf einmal weiß sie, woran der Duft sie erinnert. An Jans Deo. Ein Billigdeo aus dem Supermarkt. Die Sprühdose war blau, aber es roch nicht blau, es roch orangerosa, blumig, betäubend, er kaufte immer mehrere Dosen, hortete sie, eine oder zwei davon stehen noch im Einbauschrank im Bad. Er schwitzt schnell und stark, aber sie hat seinen Schweiß nie gerochen, nur das Deo, das er sich nie ausreden ließ. Er war derjenige, der übersensibel war, sie nahm alles hin. Ob die Neue auch für ihn auf Cremes und Parfüm verzichtet, ob er ihren Schweiß erträgt, den Geruch einer Geburt, nach Windeln, nach Kinderkacke? Sie wünscht ihm viel Kinderkacke. Am besten kackende Zwillinge. Nein, Drillinge, mit Dauerdurchfall.
Von draußen jetzt Stimmen. Katrin. Und ein Mann. Sie müssen schon im Flur sein. Tobi hört auf zu essen, irgendetwas ist in seinem Blick. Sie schiebt ihr Glas ein Stück von sich fort. Katrin erscheint in der Tür, schimpft über die Getränkekisten im Flur, warum Tobi sie nicht weggeräumt habe, stockt.
»Oh, du bist noch hier.«
Sie erklärt, rechtfertigt sich fast, der Mann bleibt im Flur stehen, anscheinend unsicher, abwartend, vielleicht ist er die Besprechung.
»Wie nett«, sagt Katrin und lächelt. Wenn sie lächelt, passiert etwas mit ihrem Gesicht, es verliert seine Zartheit, das fein Gemeißelte, es wird Mund, zu viele Zähne, schöne, ebenmäßige, weiße Zähne, aber zu viele, sie passen nicht zum Rest, Katrins Gebiss ist zu groß für ihr Gesicht, Großmutter, warum hast du so viele Zähne, damit ich dich besser fressen kann. Vielleicht machen diese Zähne Männern Angst. Vagina dentata, sie hat den Begriff während des Studiums in einer psychoanalytischen Vorlesung gehört.
»Erschöpft«, sagt Katrin gerade, »du wirkst erschöpft, ist was mit dir?«
»Nein, nein, alles gut, nur ein bisschen schlecht geschlafen.«
Sie hat niemandem von der Trennung erzählt. Sie weiß nicht warum. Und wie lange sie alles noch geheim halten kann.
»Ich … muss jetzt.« Sie erhebt sich, schiebt den Stuhl weg.
»Jetzt iss doch wenigstens auf«, sagt Katrin. Sie trägt einen halblangen Rock, Stiefel, etwas Gerüschtes unter der Bluse, die betont schlicht ist, dazu eine dünne Lederjacke.
»Nein, nein, ich wusste nicht, dass du … Schöne Blumen. Im Wohnzimmer, meine ich.«
»Wir sollten mal wieder was zusammen trinken gehen, in Ruhe«, sagt Katrin.
Sie