Eine Spur von Glück. Monika Hinterberger

Читать онлайн.
Название Eine Spur von Glück
Автор произведения Monika Hinterberger
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783835345393



Скачать книгу

ihren Unterricht vorzubereiten? Auch ohne den Besuch einer öffentlichen Schule blieben Mädchen in klassischer Zeit nicht ohne geregelten Unterricht, der etwa im Frauengemach eines Hauses oder in einem besonderen Schulraum für Mädchen stattfinden konnte und von Lehrerinnen – wenn nicht gar von Müttern selbst – gegeben wurde. Suchte sie als Lehrerin jungen Mädchen Kenntnisse im Lesen, im Schreiben oder im Rechnen beizubringen? Machte sie sie mit der Literatur ihrer Zeit bekannt? Vermittelte sie ihnen die Freude am Lernen?

      Vielleicht war die Lesende aber auch in das Studium einer philosophisch-wissenschaftlichen Abhandlung vertieft ? Vielleicht hatte sie einfach für sich lesen wollen und ein Alleinsein der Gesellschaft mit anderen Frauen vorgezogen? Wissenschaftliche Schriften waren seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. entstanden und seit jeher – anders als literarische Texte – für die stille Lektüre, das vertiefende Selbststudium bestimmt. Und nichts spricht dagegen, dass Frauen zu den Leserinnen dieser Schriften gehörten. Es ist bekannt, dass auch sie in klassischer Zeit den Philosophenschulen angehörten, dass ihnen der Zutritt zu philosophisch-wissenschaftlichen Kreisen nicht grundsätzlich verwehrt war und dass sie selbst philosophische Schriften hinterließen. Die Philosophie war keineswegs eine männliche Domäne.

      Oder war die Lesende mit einem Theaterstück befasst, das ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm? Hatte sie das Theater besucht und die Aufführung eines Dramas erlebt ? Denkbar ist es, denn nirgends in der antiken Literatur wird den attischen Frauen der Besuch des Theaters ausdrücklich untersagt. Aufgrund der religiös-kultischen Bedeutung des Theaters zu Ehren des Dionysos werden auch Frauen die dramatischen Aufführungen besucht haben. Ob ein solcher Besuch eher den wohlhabenden Frauen vorbehalten war, ob Frauen wegen der politischen Bedeutung des Theaters vor allem mit Plätzen in den hinteren Sitzreihen vorliebnehmen mussten, ob gebildete, angesehene Frauen eher Tragödien als Komödien bevorzugten, ob sie nun allein, in Begleitung von Freundinnen oder einer Dienerin das Theater besuchten – alle diese Fragen bleiben noch ohne Antwort.

      Außerhalb des Hauses

      Stand die Lektüre der lesenden Athenerin vielleicht im Zusammenhang mit einem der zahlreichen, in archaische Zeiten zurückreichenden Frauenfeste, die das Wachsen und Gedeihen der Natur günstig beeinflussen sollten? Mit den bedeutenden Thesmophorien beispielsweise, die zur Zeit der Aussaat in der gesamten griechischen Welt zu Ehren der Demeter und der Kore von Frauen gemeinschaftlich gefeiert wurden? Oder den ebenfalls Demeter geweihten Haloen, die zur Zeit der Wintersonnenwende stattfanden? Diese von Frauen mehrmals jährlich veranstalteten und nur ihnen zugänglichen Feste spielten im Jahreslauf und für das soziale Miteinander der Frauen außerhalb des Hauses eine bedeutsame Rolle. Tanz, Musik, Rezitationen und feierliche Prozessionen begleiteten diese manchmal mehrere Tage dauernden kultisch-religiösen Festlichkeiten, bei denen einige Frauen mit besonderen rituellen Aufgaben betraut waren. Die das Jahr rhythmisierenden Feste nahmen im Leben der Frauen einen herausragenden Platz ein. Und in einer Gesellschaft, in der Religion und Politik nicht getrennt voneinander gedacht wurden, war die Ausübung dieser Kulte gleichsam für das Selbstverständnis und den politisch-sozialen Zusammenhalt der gesamten Polisgemeinschaft von großer, stabilisierender Wirkung.

      Doch auch sonst, nicht nur bei den Frauenfesten, bei Hochzeiten, Geburtsfeiern oder Begräbnissen lebten Frauen in einem weit gefächerten Beziehungsnetz. Sie kannten sich. In der Nachbarschaft. Im Demos. Und aus diesem Kreis wählten sie ihre Leiterin für das Fest der Thesmophoria.

      Als Nachbarinnen und Freundinnen, als Ratgeberinnen, als Vertraute tauschten sie nicht nur Neuigkeiten aus, sondern auch Dinge des täglichen Lebens. Sie halfen sich mit Haushaltsgegenständen aller Art aus, mit Salz, mit Kerzendochten, mit Opferkränzen. Und nicht nur das. Sie verliehen ihre Kleider, ihren Schmuck und selbst Geld, wenn es nötig war. Das setzte nicht nur gegenseitiges Vertrauen voraus, sondern auch die Möglichkeit, sich außerhalb des Hauses frei zu bewegen, soziale Kontakte wahrzunehmen und zu pflegen und freie Zeit mit Freundinnen zu verbringen. Es war keineswegs unüblich, dass Frauen zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten das Haus verließen, um zum Beispiel einer Nachbarin oder Freundin oder der eigenen Tochter im Kindbett beizustehen. Zwar gab es Hebammen und medizinisch gebildete Frauen, die Geburtshilfe leisteten, aber es war von alters her eine weibliche Tradition, dass Frauen gebärenden Frauen zur Seite standen.

      Andere Momente der Begegnung ergaben sich schließlich beim Wasserholen am Brunnen – wenn auch eher für Frauen, die diese Arbeit nicht einer Dienerin übertragen konnten und also selbst Wasser holten, ihre Wäsche selbst wuschen, als Kleinhändlerinnen auf der Agora arbeiteten, ihre Gartenprodukte anboten oder Feldarbeit verrichteten. Gleichgültig welcher sozialen Schicht die Frauen angehörten, auf die eine oder andere Weise flochten sie alle ein soziales Beziehungsnetz, das eigenen Gesetzmäßigkeiten und Traditionen folgte. Es wird ein Handeln von Frauen sichtbar, das über persönliche Belange und den Familienzusammenhalt hinaus auch auf das Wohlergehen der Gesamtheit der Polis gerichtet war. Insofern war jedwede Arbeit der Frauen, sei es im Haus, im Kultus, in sozialen wie medizinischen Belangen oder im Handel und Handwerk, immer auch von politischer Bedeutung und für das soziale Zusammenleben von Frauen und Männern innerhalb der athenischen Gesellschaft von unverzichtbarem Wert – diese Gesellschaft hätte ohne die Arbeit von Frauen nicht gelingen können.

      Weibliche Lebenswelten

      So entfaltet sich vor meinen Augen auf einer kleinen attischen Vase mit einer lesenden Frau ein Kosmos weiblicher Lebenswelten.

      Malerinnen und Maler schufen Bilder weiblicher Lebensräume: arbeitende, rezitierende, musizierende und eben auch lesende Frauen. Dass Frauen ein Handwerk ausübten, dass sie beispielsweise Vasenbilder schufen, zeigt die Darstellung auf einer rotfigurigen Hydria ( um 460 v. Chr.) aus einem Frauengrab in Ruvo ( Apulien): Eine mit einem Chiton und Mantel bekleidete und durch ihre Haartracht als Freie gekennzeichnete Frau ist dabei, die Volute eines Kraters zu bemalen. Und immerhin ist durch die Signatur auf zwei attischen Vasen der Name einer Malerin namens Timagora überliefert. Timagora und andere in Töpferwerkstätten arbeitende, namentlich nicht genannte Frauen lassen erahnen, dass »weibliche« und »männliche« Arbeitswelten auf vielfältige Weise einander berührten. Wie viele Arbeiten von Frauen möglicherweise mit der Signatur des Vaters, des Bruders oder des Ehemannes versehen in die Geschichte eingegangen sind, wird ein Geheimnis dieser Geschichte bleiben.

      Diejenigen Menschen, die die kostbaren Gefäße schließlich in Gebrauch nahmen – Amphoren für das Aufbewahren von Ölen und Weinen, Alabastren und Lekythen als Behältnisse für Parfums, Hydrien für das Wasserholen am Brunnen, Lutrophoren für Hochzeits- und Begräbnisrituale –, hielten eine reiche Bilderwelt in ihren Händen. Sie werden ihre Freude daran gehabt und die Bilder und Botschaften als Teil ihres Lebensumfeldes wahrgenommen haben. Diese für den täglichen Gebrauch wie für den Ritus geschaffenen Gefäße mit ihren Bildschöpfungen waren so begehrt, dass sie sich über Athen und Griechenland hinaus im gesamten Mittelmeerraum verbreiteten.

      Die Frage, inwiefern die Vasenbilder lesender oder musizierender Frauen der Lebenswirklichkeit attischer Frauen entsprachen oder eher Wunschbilder einer idealen Frauenwelt verkörperten, mag im Raum stehen bleiben. Ich lese die Vasenbilder indes als Wertschätzung weiblicher Lebenswelten. Ein Bild wie das der Lesenden auf der Lekythos spiegelt in meinen Augen eine große Bildungsoffenheit gegenüber Frauen und Mädchen und ihre Teilhabe am kulturellen Leben im Athen der klassischen Zeit. An diese weibliche Tradition mögen nachfolgende Generationen von Frauen angeknüpft haben. Das Bild einer in ihre Lektüre vertieften Frau auf einer attischen Vase mag die Helleninnen ermutigt und inspiriert haben, die erweiterten Bildungsmöglichkeiten durch staatliche Schulen und öffentliche Bibliotheken selbstbewusst zu nutzen und damit den Faden einer weiblichen Bildungsgeschichte weiterzuspinnen. Mich hat die Lesende inspiriert, den Anfang dieses Fadens zu suchen.

      Literatur

      Bérard, Claude / Vernant, Jean-Pierre u. a.: Die Bilderwelt der Griechen. Schlüssel zu einer »fremden« Kultur, übersetzt von Ursula Sturzenegger,