Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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Individualisierung, Säkularisierung und Rationalisierung scheinen dagegen geeignet für weiche Übergänge und für diagnostische Klärung. Mit ihrer Hilfe lässt sich Praxis verstehen, wie sie sich selbst beschreibt, und gleichzeitig taugen sie zur wissenschaftlichen Analyse und Reflexion.

      Steck nimmt einerseits die drei Dimensionen Rösslers auf, mündet dann aber nicht in eine sektorielle Ausführung, die man Rössler vorwerfen kann, sondern versucht mit Recht die Wechselbeziehungen noch stärker zu berücksichtigen. Das soll dadurch gelingen, dass die drei Dimensionen immer wieder »überblendet«15 werden durch die Grundunterscheidung »privat – öffentlich«.16 Diese Grundunterscheidung, führt zu einer weitreichenden Konsequenz, die sich von Rössler deutlich unterscheidet. Das kirchliche Christentum bildet mit dem individuellen und dem öffentlichen Christentum nicht mehr eine Trias und wird infolge der »Überblendung« nicht mehr zu einer eigenen Grundgestalt neuzeitlichen Christentums; vielmehr ordnet es sich ein »in die Palette der vielfältigen, voneinander unterschiedenen und sich überschneidenden Praxishorizonte […], die mit Hilfe des dualen Interpretationsrasters rekonstruiert werden sollen«.17 Etwas einfacher ausgedrückt: Private und öffentliche Religionspraxis bilden das grundlegende Erkenntnis- und Verständnisraster, kirchliches Christentum wird hier je nachdem entsprechend einsortiert. Dass dies mit Stecks Leitkategorien Individualisierung und Säkularisierung konvergiert, dürfte deutlich sein.

      Vier kritische Überlegungen sind hier anzumerken:

      1.Die Grundunterscheidung »privat – öffentlich« finde ich hilfreich in den Beschreibungen und manchen Interpretationen. Aber sie kann leicht normativen Charakter bekommen und dieser Übergang muss zumindest als solcher erkennbar und überprüfbar sein.

      2.Die Grundunterscheidung »privat – öffentlich« ist ein typisch neuzeitlichbürgerliches Phänomen; solche Phänomene, Konventionen und Konstrukte sind gerade nicht überzeitlich gültig.

      3.Die genannte »Überblendung« führt bei Steck nicht zu einer »Ausblendung« des kirchlichen Christentums als aspektreiches Phänomen, tendiert aber zu dessen Marginalisierung, zumal in dem Aufrissschema des Gesamtentwurfs neben dem privaten und öffentlichen Christentum als gleichberechtigte dritte Größe nun plötzlich das »urbane Christentum« erscheint.18

      4.Die bei Topografieherstellungen zweifellos notwendig engen Interdependenzen von Praxis und Theorie, Wahrnehmungen und Deutungen, Rekonstruktionen und Konstruktionen dürfen nicht zu bloßen Zirkelschlüssen führen.

      Wie sieht nun die biblische Topografie des heutigen Christentums unseres Kulturkreises aus? Waren die Auswirkungen und Deutungen der Hausbibel nur in einem sehr großen Maßstab umrisshaft gezeichnet worden, ist dieser Landkartenausschnitt nun präziser zu erfassen. Peter Cornehl hatte bereits vor rund 30 Jahren dargestellt, dass die protestantische Bibelfrömmigkeit zwei unterschiedliche Grundtypen aufweist:19 einen biblizistisch-pietistischen Typ, der in dieser Frage immer wieder auch in Nähe zur konfessionellen Kirchlichkeit steht, und den bürgerlich-liberalen Typ einer ethisch-kulturell orientierten distanzierten Kirchlichkeit. Es lässt sich zeigen, dass die Bibel über lange Zeit in der literalen Kulturwelt des Bürgertums verankert war.20 Jedoch bedeutet dies – nimmt man wie Cornehl Schleiermachers kleine Erzählung »Die Weihnachtsfeier« als Interpretationsgrundlage hinzu – eben nicht die Präsenz der Bibel als Text, sondern als allgemeines Reservoir von Geschichten, Bildern und Einzelsprüchen, die mit der Erfahrung verbunden bürgerliche Kultur und Ethik bestimmen21 und ein »Medium gemeinsamer religiöser Kommunikation der Christen untereinander«22 bieten. Trotz Harnacks Rettungsversuch vor 100 Jahren ist gerade diese Bibelfrömmigkeit durch die historische Bibelkritik prinzipiell infrage gestellt worden. Als Text wird die Bibel in den pietistischen und konfessionalistischen Kreisen präsent gehalten. Hier verbinden sich andächtige Lektüre und gemeinschaftliche Auslegung – häufig durchaus in kritischer Abgrenzung zum pastoralen »Herrschaftswissen«. Dass hier das sog. Laienelement im Vordergrund stand, ist bleibend wichtig.

      Die Hausbibel dient dem Einzelnen innerhalb der Familie oder Gruppe zur Erbauung, und zwar wird in den idealtypisch unterschiedenen Frömmigkeiten die Bibel als Text gelesen und ausgelegt, oder sie ist als Sprach- und Symbolreservoir kommunikativ präsent; in beiden Ausprägungen ist die gekannte, gelesene und ausgelegte Bibel ein überaus wichtiges Medium, denn sie dient der Identitätsvergewisserung und Kontinuitätssicherung des Protestantismus.23

      Inzwischen gibt es einerseits verschiedenste Bibelarbeitsformen und -methoden, die offenbar wachsenden Zuspruch finden (von den klassischen Auslegungen in gemeindlichen Bibelstunden oder auf Kirchentagen über narrative Ausführungen und experimentelle Formen musikalischer Gestaltung bis zum Bibliodrama).24 Andererseits ist zwar vielleicht noch nicht das Ende des »Gutenbergzeitalters« gekommen,25 aber doch eine erkennbare Verschiebung von der literalen zur multimedialen Kulturwelt samt ihrem audiovisuell geprägten Erlebnisdesign und den nicht immer durchschaubaren Kommerzialisierungen. Wer kann bestreiten, dass die Bibel auf CD-ROM, multimedial ausgeführt oder der Chat im Internet neue Ausdrucks- und Lebensformen der Erbauung sind oder zumindest werden könnten?

      Diese Entwicklung hat Rückwirkungen auf die Bibel als Bekenntnis- und Quellenbuch. Die Kartografierung als Bekenntnisbuch ist besonders betroffen, da dieses auch an der Plausibilität literaler Kommunikation hängt. Denn Lektionar und Kanzelbibel kennzeichnen die evangelische Predigt als Auslegung der Schriftlesung in öffentlicher Rede. Nicht nur das Verfertigen und Halten, auch das Hören solcher Auslegung einer Lesung will gelernt sein. Das Predigthören braucht eine längere Einübung und setzt daher, nachdem die Tradition des Kirchgangs keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen kann, auf Einsicht und Akzeptanz solcher Textauslegung samt ihrer lebenspraktischen Bedeutung.

      Ein aktuelles Beispiel: In den Berliner Zeitungen werden Gottesdienste und Predigten durchaus wahrgenommen und montags kritisch kommentiert. Über einen großen Gottesdienst im Berliner Dom berichteten verschiedene Zeitungen in langen Artikeln. In der Süddeutschen Zeitung kommentierte der Verfasser nach einer ausführlichen, teils zitatweisen Wiedergabe der Predigt abschließend: »Der protestantische Gottesdienst ist selbst an hohen Feiertagen intellektuell ungenügend und rituell unterentwickelt. Er vernachlässigt den aufgeklärten Besucher ebenso wie den, der an das Geheimnis glaubt.«26 Das Beispiel belegt neben der Kritik am Prediger auch die Notwendigkeit der Einübung in das Predigthören und die offenbar großen Barrieren, die das vielen sympathischen Zeitgenossen unglaublich erschweren. Auch hier liegt eine tiefere Ursache schwindenden Gottesdienstbesuchs, was gleichzeitig durch die relativ größere Akzeptanz von Gottesdiensten mit Erlebnisgehalten illustriert wird.27

      Stecks Individualisierungsthese würde bedeuten, dass auch die Funktion als Bekenntnisbuch auf die Erbauung des Einzelnen zielt. Dafür spricht, dass sowohl Anfertigung, Präsentation und Rezeption der Kanzelrede individuelle Akte sind28 und individuelle Akzeptanz erfordern. Diese Akte erscheinen aber gleichzeitig als immer noch auch durch gemeinschaftliche Konvention geregelt, so dass hier wenigstens Individualität und Sozialität zusammenzukommen haben. Der Gefahr muss gewehrt werden, dass hier nur noch privatisiert wird und der Öffentlichkeitsanspruch verloren geht. Dass die Frage nach Privatheit und Öffentlichkeit des Christentums in Fokussierung auf die Kirchen eine fundamentale und gleichzeitig politisch aktuelle ist, füge ich nur als Nebenbemerkung an.29

      Die Erklärungskraft der Individualisierungsthese Stecks ist wichtig, insofern sie die Individualisierungsgehalte der Bibel als Bekenntnisbuch offenlegt und verdeutlicht; sie ist jedoch begrenzt, insofern sie die Bedeutung von Gemeinschaften und Lebensverbänden ignoriert. Möglicherweise führt die »Überblendung« durch das genannte Dual »privat-öffentlich« gerade nicht zu einer neuen kritischen Perspektive auf die Leitkategorien »Individualisierung« und »Säkularisierung«, sondern zu deren bloßer Verdopplung.

      Die Kartografierung der Bibel als Quellenbuch ergibt ein Ensemble historischer Karten. Die Funktion der Bibel im schulischen Religionsunterricht hat sich so in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach verändert.30 Nachdem die »Evangelische Unterweisung«31 mit der Einsicht in die schulisch zu begründende Notwendigkeit des Religionsunterrichts abgelöst wurde, empfahlen Ingo Baldermann und Gisela Kittel die Bibel als »Buch