Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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materialen Verständnis die Erinnerung an die Texte in ihren Kontexten, um dadurch den fragmentarisierten Gebrauch der Bibel, z. B. in Introitus, liturgischen Formeln oder auch Einsetzungsworten, zu ergänzen und verständlich werden zu lassen;

      b)im formalen Bezug die Erinnerung an die Vielfalt biblischer Themen, Gattungen und Sprechakte, um dadurch eine neue Vielfalt liturgischen Redens und Handelns zu gewinnen;

      c)im prinzipiellen Bereich die Erinnerung an die grundlegenden Axiome und Basismotive, also an Geist und Buchstaben der Bibel, um dadurch die Fundamente der Liturgie kritisch und konstruktiv bestimmen zu können.

      Kerygmatisch nenne ich jetzt:

      a)prinzipiell die Kenntnis der christlichen Grammatik, gewonnen aus dem Studium der Bibel als Quellenbuch und präzisiert an der Auseinandersetzung mit der Bibel als Bekenntnisbuch, um dadurch theologisch sachgerecht und reflektiert zu interpretieren;

      b)formal die Kenntnis der biblischen Texte, Themen und Grundmotive, um dadurch homiletisch substantiell und im guten Sinne erbaulich zu predigen;

      c)material das Wissen um die innere Vielfalt der biblischen Sprache, um dadurch kreativ und pastoral angemessen zu reden.

      Die Bibel ist – um zum Abschluß ein Bild Umberto Ecos variierend aufzugreifen40 – wie ein Text, der in einer Flasche auf Reisen geschickt wurde: Sie macht sich selbständig, wurde nicht für einen einzigen Empfänger hervorgebracht, sondern für eine Gemeinschaft, die durch die Zeiten die Intentionen des Werks vielfältig deutet und zu verstehen sucht. In jeder Liturgie wird die Flaschenpost neu geöffnet. Das Besondere ist hier, daß die Bibel dabei sowohl »interpretiert« als auch »benutzt« wird.41 Interpretation wie Benutzung sind jedoch aufeinander angewiesen, ergänzen und korrigieren sich.

      Lag die Stärke der protestantischen Tradition über lange Zeit in der kritischen Interpretation, die des Katholizismus in der Benutzung, so wird es in der Gegenwart für beide darauf ankommen, daß sie die Biblizität der Liturgie in Interpretation wie Benutzung, kerygmatisch wie anamnetisch zu entdecken, zu verstehen und zu gebrauchen wissen.

       Praktische Theologie und Bibel

       Die Rolle von Bibel und Exegese in der derzeitigen Standortbestimmung der Praktischen Theologie 1

      Die Spannung des Themas Praktische Theologie (PT) und Bibel entsteht nicht aufgrund einer wissenschaftlichen Kontroverse, die nun einen neuen Lösungsansatz erforderte, sondern aus einem weitgehenden Defizit. PT und Bibel, PT und Exegese erscheinen als wenig verbundene und aufeinander Bezug nehmende Größen. Ein kleines Indiz: In der neuen RGG weisen in den immerhin rund 150 Spalten, die »Bibel« und verwandte Begriffe darstellen, nur 5½ Spalten explizit praktisch-theologische Reflexionen auf.2 Die Spannung des Themas ist also die Spannung der Entdeckungsfreude.

      Zunächst gilt es aber, mehr oder weniger Bekanntes in den Blick zu nehmen. Daraus ergeben sich die beiden Hauptteile, die ihrerseits analog aufgebaut sind: Gemäß dem praktisch-theologischen Dreischritt »beschreiben – vorschreiben – weiterschreiben«3 stehen jeweils Wahrnehmungen am Anfang, woran sich theoretische Überlegungen und dann Optionen künftiger Gestaltungen anschließen. Dass die drei Schritte immer auch wechselseitig voneinander abhängig sind, ist selbstverständlich.

       1.Terra cognita – PTund Bibelfrömmigkeit

       1.1 Wahrnehmungen: Die dreifache Funktion der Bibel

      In drei Gestalten, denen drei Grundfunktionen entsprechen, lässt sich die Bibel wahrnehmen und beschreiben.4

      Zunächst fungiert die Bibel als Bekenntnisbuch der Christenheit, im Protestantismus in besonderer Ausprägung: In Gestalt der Altarbibel, die in evangelischen Kirchen bekanntlich seit dem 19. Jahrhundert ähnlich zentral platziert ist wie der Tabernakel in katholischen, symbolisiert die Bibel die »Heilige Schrift«, Quelle und Norm aller Verkündigung, Autorität gegenüber Lehramt und Tradition. Die beiden anderen Gestalten der gottesdienstlich gebrauchten Bibel, das Lektionar und die Kanzelbibel, verstärken diese Funktion.5 Die Tatsache, dass der Protestantismus gerade nicht zu einer weitergehenden Buchverehrung führte und nur noch wenige Relikte eines sakralen Umgangs mit Büchern aufweist, findet seine Begründung vor allem in der reformatorischen Einsicht, dass das Schriftprinzip mit dem solus Christus verbunden ist, also mit der personalen Gestalt der Gnade, die wiederum im Evangelium als mündliche Zusage verkündet wird.6 Nicht die Verehrung des Buches, aber die Hochschätzung der Bibel als Heilige Schrift und damit das Bekenntnis zur »Scriptualität des Offenbarungszeugnisses«7 kennzeichnet diese erste Funktion.

      Hierauf basiert die zweite Funktion, die Bibel als Erbauungsbuch, Gestalt gewinnend in der Hausbibel. Charakteristisch für Hausbibeln sind die Ausgestaltung durch Illustrationen8 und die auszufüllende Familienchronik im Anhang. Damit zielt die Hausbibel auf Erbauung durch andächtige Lektüre wie auf Erfassung und Deutung der lebensweltlich markanten Ereignisse der Großfamilie. Hierzu gehört dann auch die typisch protestantische Erscheinung der einzelnen Bibelsprüche, einmal in Gestalt der Bibeln mit grafisch hervorgehobenen Versen oder durch die Herrnhuter Losungen oder auch in Form von Denk- und Begleitsprüchen zu den Kasualien. Orte der dritten Funktion sind Schule und Hochschule: Die Bibel wird gebraucht als Quellenbuch – in äußerer Gestalt der Schulbibel und der wissenschaftlichen Bibelausgaben. Sie eröffnen einen allen Beteiligten, Glaubenden wie Nichtglaubenden, möglichen kritischen Zugang zur Bibel, die Kenntnisnahme oder die Tätigkeit historisch-kritischer Forschung.

      Die primären Träger dieser drei Funktionen sind hinreichend klar. Die Funktion als Bekenntnisbuch vertritt die christliche Kirche, die als Erbauungsbuch der einzelne Mensch innerhalb familiärer Bezüge, die Funktion als Quellenbuch fördert die Gesellschaft in Wahrnehmung ihrer Bildungsverantwortung. Damit sind zugleich die drei Dimensionen benannt, in denen sich die PT heute bewegt und zur Sprache bringt. Spätestens seit Dietrich Rösslers »Grundriß der Praktischen Theologie« von 1986 sind sie – in folgender Reihenfolge – Allgemeingut unserer Disziplin: der einzelne Mensch, die Kirche, die Gesellschaft. Inzwischen liegt der erste Band eines neuen Gesamtentwurfs Praktischer Theologie vor, den man sicher nicht zu Unrecht als Fortschreibung des Rössler’schen Grundrisses zu verstehen hat: die PT von Wolfgang Steck.9 Ihr Theorieansatz soll für den zweiten Schritt ins Spiel gebracht werden.

       1.2 Theorie: Die Bibel in der Landschaft privater, kirchlicher und öffentlicher Religionskultur

      W. Steck entwirft PT als Wahrnehmungswissenschaft und stellt damit nach den Verständnissen der PT als Anwendungswissenschaft und als Handlungswissenschaft einen dritten Typ dar. Dieser dritte Typ wird in den praktisch-theologischen Standortbestimmungen und Theoriediskussionen derzeit allgemein favorisiert und unter den Leitperspektiven Phänomenologie (Failing / Heimbrock), Ästhetik (Grözinger) oder Semiotik (Meyer-Blanck) nur verschieden akzentuiert. Der Proklamation eines »Paradigmenwechsels« sollte man sich allerdings enthalten.10

      Steck zielt auf die Gestalt »einer theoretisch ausgearbeiteten Topographie des zeitgenössischen Christentums« bzw. der »religiösen Lebenswelt«.11 Damit wird der seit Schleiermacher geltende Basissatz, dass PT »nicht Praxis, sondern Theorie der Praxis« ist, aufgenommen und umgesetzt, wobei der Praktischen Theologie Stecks eine intermediäre, also eine »zwischen Theorie und Praxis pendelnde Denkform«12 zugehört.

      Die »Kartografierung« führt Steck zur Anlehnung an die wissenssoziologischen Theorien von A. Schütz, Th. Luckmann und P. L. Berger. Steck geht es um die Analyse der grundlegenden, teils hintergründigen und daher zu rekonstruierenden Strukturen der religiösen Lebenswelt,13 die im noch ausstehenden zweiten Band geboten werden sollen. Leitkategorien sind für Steck Individualisierung, Säkularisierung und Rationalisierung.14 Kartografierung und pendelnde Denkform erfordern