Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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      Im Sinne einer theologischen Enzyklopädie kann evangelische Theologie als multidisziplinäre Interpretationspraxis der christlichen Kommunikation des Evangeliums entworfen werden.3 »Kommunikation« meint die differenzierte Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen;4 durch den Begriff »Evangelium« ist die systematisch-theologische Unterscheidung von Bibelbuch und Evangelium mitgesetzt sowie die inhaltliche Bestimmtheit christlicher Kommunikationspraxis durch das Evangelium ausgesagt.5 Hermeneutisch werden hier die Dimensionen der meditatio, verstanden als Kommunikation, und der in der Interpretationspraxis zu leistenden explicatio zentral; sie bestimmen und steuern die applicatio in Gestalt der christlichen bzw. evangelischen Kommunikationspraxis. Christian Grethlein und Michael Meyer-Blanck entwerfen ein hier anschlussfähiges Verständnis von Praktischer Theologie, das es ermöglicht, zwischen Theologie, Kirche und Religion zu vermitteln.6 In diesem Horizont werden Gebrauch und Bedeutung der Bibel nun entfaltet.

       3. Thematische Entfaltung: Gebrauch und Bedeutung der Bibel

       3.1 Die Verbreitung der Bibel

      Die Bibel ist weltweit das am häufigsten übersetzte Buch. Nach Angaben des Weltbundes der Bibelgesellschaften, in dem viele evangelische, katholische und orthodoxe Bibelgesellschaften zusammenarbeiten, liegen die vollständige Bibel in 422 Sprachen, das NT in 1079 Sprachen und weitere Bibelteile in 876 Sprachen vor; insgesamt wurde also in 2377 Sprachen übersetzt.7 Dies sind über 800 Sprachen mehr als noch vor 30 Jahren.8 Die weltweite Verbreitung von Bibeln, Bibelteilen und Auswahlheften ist enorm (2000: 633,3 Mill.; 2002: 578 Mill.; 2004: 390,5 Mill.).9 Über das Internet ist die Bibel inzwischen in allen gängigen Sprachen zugänglich. Nach Angaben der evangelischen Deutschen Bibelgesellschaft wurden durch sie in den vergangenen Jahren ca. 1–1,2 Mill. Bibeln, Bibelteile und Auswahlhefte pro Jahr verbreitet. Deren Statistiken zeigen weiter, dass die Anzahl der verbreiteten Bibeln und Bibelteile in »Non-Print-Media«, vor allem als CD-ROM und als Hörbücher in CD- oder MP3-Format, in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist (2004: 48.777; 2003: 61.046; 2002: 39.511; 2001: 14.634); die Anzahl der verbreiteten Kinder- und Jugendbibeln bewegt sich seit 1999 in einer Größenordnung von knapp 500.000 Exemplaren pro Jahr (2003 allerdings über 540.000 Exemplare). Die Verbreitung der Bibel ist also weltweit überaus erfolgreich und besitzt eine nicht nachlassende Dynamik.

      Im deutschsprachigen Raum ist, elf Jahre nach dem ersten »Jahr mit der Bibel«, 2003 ein erneutes »Jahr der Bibel« durchgeführt worden. In ökumenischer Kooperation warb man mit großer öffentlicher Resonanz – auch in den Massenmedien – für die Bibel und ihre Botschaft und erreichte rund 32 Mill. Menschen; an den Veranstaltungen vor Ort haben etwa 11 Mill. Menschen teilgenommen. In den drei Hauptzielen der Veranstalter – »die Bibel in die Öffentlichkeit tragen«, »das Leben mit der Bibel in den Gemeinden stärken«, »Menschen für die Bibel begeistern« – verbinden und vermischen sich kulturelle, wertebezogene und evangelistisch-missionarische Anliegen, die im Blick auf das Gesamtbild der Veranstaltungen und ihrer Fülle an Events, Ausstellungen, Bibelkursen, Konzerten, Filmreihen und Lesungen einen pluralistischen Bibelgebrauch repräsentieren.10

      Unbeschadet der notwendigen Rückfrage, ob die enorm verbreitete Bibel auch gelesen wird (vgl. 3.3.3), sind hier zunächst drei Sachverhalte von praktisch-theologischer Relevanz:

      (a)Die Bibel ist nicht in erster Linie ein Buch für theologische Experten, sondern für alle Interessierten;

      (b)sie ist die einigende Grundlage ökumenischer, im Sinne weltweiter und interkonfessioneller, Gespräche und Kooperationen;

      (c)sie ist prinzipiell allen Menschen zugänglich, wird aber in der Regel von Christen oder Kirchen angeboten, die auch die neuen Medien nutzen.

       3.2 Die Bibel als Buch der Kirche

      In evangelischer Sicht ist die Bibel das entscheidende Medium für Verkündigung und Weitergabe des Glaubens in Unterricht und Lehre; praktisch-theologisch ist Verkündigung und Glaubensweitergabe heute unter der Formel ›Kommunikation des Evangeliums‹ zu bedenken, wodurch autoritäre Implikate vermieden und mediale Konsequenzen von vornherein mitbedacht werden sollen.11

      Unbeschadet der verschiedenen Handlungsfelder kann der christliche Gottesdienst als exemplarischer Ort der Kommunikation des Evangeliums gedeutet werden. Dessen grundlegende Funktionen sind als Orientierung, Vergewisserung und Erneuerung zu beschreiben,12 die durch das Evangelium eröffnet werden.

       3.2.1 Die Bibel als Material im Gottesdienst

      Biblische Worte, Metaphern und Sinnbilder prägen die Liturgie in den als Einsetzungs- oder Stiftungsworten verstandenen Berichten zu Taufe und Abendmahl, in den traditionellen Sprachformen von Vaterunser und aaronitischem Segen, im Psalmgebet, in den Wechselgesängen und Akklamationen (Kyrie, Gloria, Halleluja, Hosianna, Amen), in Worten zur Sendung (nach der Kommunion und vor dem Segen) sowie durch zahlreiche Summierungen, Auslegungen und Anspielungen im Glaubensbekenntnis, in Kirchenliedern und Gebeten (Abendmahlsgebete, Gebetsrufe in den Fürbitten), je nach Gegebenheiten auch in der Raumgestaltung. Besonders im Wortteil eines Gottesdienstes, also in der engen Verbindung von Lesung und Auslegung, sind die biblischen Texte zentral. Während in der katholischen Kirche ein alle drei Jahre sich wiederholender Lesezyklus den Wortteil bestimmt, ist in den deutschsprachigen evangelischen Kirchen ein sechsjähriger Zyklus von Lese- und Predigttexten in Gebrauch. Die beiden ersten Reihen beinhalten Zusammenstellungen der Evangelien bzw. Episteln, die bereits auf die Alte Kirche zurückgehen; in den weiteren Reihen sind in die Sammlung neutestamentlicher Texte (Reihe 3 und 5: Evangelien; Reihe 4 und 6: Episteln) auch alttestamentliche Texte eingefügt worden; außerdem liegt als siebte und achte Reihe eine Zusammenstellung von Marginaltexten und Psalmen vor, aus denen zumindest Predigttexte gewählt werden können. In der gottesdienstlichen Lesepraxis der evangelischen Landeskirchen sind ein, zwei oder drei Lesungen vorgesehen. Je nach örtlicher Tradition werden Evangelium (1. Reihe) und bzw. oder Epistel (2. Reihe), aber sehr selten AT-Texte gelesen. Als Predigttext wird der dem jeweiligen Sonntag zugeordnete Text der Reihe genommen, die für das laufende Kirchenjahr gilt. Die Predigttexte wiederholen sich also alle sechs Jahre, während die Lesungen in der Regel nur innerhalb eines Jahres variieren. Da die Lese- und Predigttextordnung von vielen als Anregung und Angebot verstanden wird, sind in der Praxis die Variationen häufiger. Wiedererkennbar sollen die Lesungen zu den hohen Festtagen sein, da sie deren biblische Grundlagen repräsentieren. Vor allem in ev.-reformierten Gemeinden sind auch Lesungen zusammenhängender biblischer Bücher, die über mehrere Sonntage verteilt sind (lectio continua), in Gebrauch. Diese Praxis ermöglicht eine stärkere Berücksichtigung des AT.

      In Kasualgottesdiensten dienen die Lesungen meist der biblischen Begründung des Kasus (Taufe, Trauung, Ordination) bzw. der christlichen Hoffnung im Leben und Sterben (Bestattung); als Predigttext wird häufig ein Bibelspruch (vgl. 3.3.2) zugrunde gelegt, der persönlich ausgesucht (Tauf-, Konfirmationsoder Trauspruch) und nicht selten innerhalb einer Familie bei anderen Kasus wiederverwendet wird.13 Im Idealfall wird so gelebtes Christentum biblisch gedeutet, was sowohl Bestätigung als auch Korrektur und Horizonterweiterung beinhalten kann.

       3.2.2 Die Bibel als Medium im Gottesdienst

      Die Bibel wird in den Liturgien vor allem als personales Übertragungsmedium14 gebraucht: Deren Erzählungen und Gedanken werden mündlich in »face-to face-Kommunikation« präsentiert, d. h. aus dem Buch als (apersonales) Speichermedium wird durch (räumlich kopräsente) Lektoren vorgelesen, und ein ebenfalls zu Gehör gebrachter Bibeltext wird in der Predigt in mündlicher Rede ausgelegt.