Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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in der Vielfalt der unterschiedlichen Funktionen die Bibel als Bekenntnisbuch der Christenheit zur Darstellung bringt.16 Damit wird gleichzeitig deutlich, dass die – vor allem in evangelischer Tradition zentrale – Ausrichtung auf die Bibel als Bekenntnisbuch nicht nur eine systematisch-theologische Einsicht ist, sondern zugleich eine theologisch verantwortete Praxis freisetzt.

       2.Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit

      Der Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit außerhalb von Gottesdiensten und Andachten hat in weiten Bereichen eine neue Dynamik gewonnen. Die traditionelle Form einer »Bibelstunde« ist an vielen Orten durch das regelmäßige Angebot von Bibelkreisen und theologischen Gesprächskreisen abgelöst worden.17 Außerdem werden die jährlich wiederkehrenden Bibelwochen häufig als ökumenische Veranstaltung mehrerer Gemeinden eines Kirchenkreises oder Bezirks durchgeführt; dies ist zwar eine begrüßenswerte Entwicklung, jedoch an manchen Orten auch ein Indiz dafür, dass eine Bibelwoche innerhalb einer einzigen Kirchengemeinde nur noch eine relativ kleine Anzahl von Menschen anspricht.

      Eine im Blick auf öffentliche Resonanz und Aufmerksamkeit höchst erfolgreiche Aktion war: »2003. Das Jahr der Bibel«. Es gab hier nach Angaben der Veranstalter rund elf Millionen Besucher bei ca. 150.000 Einzelveranstaltungen, die von Kirchengemeinden aller Konfessionen durchgeführt wurden.18 Gleichzeitig ist es gelungen, durch zahlreiche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen vor Ort und in den Medien (z. B. regelmäßige Prominenten-Kolumnen in der Bildzeitung: »Meine Lieblingsbibelstelle – was sie mir bedeutet« oder die Reihe der ZDF-Fernsehgottesdienste unter dem Motto: »Provokation Bibel«19) die Aktion rund 32 Millionen Menschen in Deutschland bekannt zu machen. Ausstellungen, Bibelkurse, Events, Filmreihen, Konzerte, Lesungen, Reisen sind nur ein Teil der höchst kreativen und originellen Umsetzungen dieses ökumenischen und landesweiten Projekts,20 das auch über die Grenzen Deutschlands ausstrahlte und in Österreich, der Schweiz, Frankreich und Belgien große Resonanz fand. Ob hierdurch auf längere Sicht die durchaus ernüchternden Ergebnisse empirischer Untersuchungen, die in den 1980er Jahren Bibelgebrauch und -lektüre als zum Frömmigkeitsprofil einer zahlenmäßig kleinen Gruppierung gehörend diagnostizierten,21 zu korrigieren sind, bleibt abzuwarten.

      Seitens der Initiatoren wurden drei Hauptziele der Gesamtaktion formuliert: die Bibel in die Öffentlichkeit tragen – das Leben mit der Bibel in den Gemeinden stärken – Menschen für die Bibel begeistern. In diesen offenen Zielbestimmungen verbinden sich kulturelle, wertebezogene und missionarisch-evangelistische Anliegen, die jeweils die Veranstaltungsformate mitgeprägt haben und zugleich hinsichtlich der Zielgruppen differenziert wurden. Insgesamt hat dieses Jahr der Bibel jedoch deutlich stärker als das 1992 veranstaltete ›Jahr mit der Bibel‹ unterschiedlichste theologische und spirituelle Zugänge zur Bibel ermöglicht, ohne zu gegenseitigen Ausgrenzungen und Verwerfungen zu führen.22 Insofern ist – bei aller Unmöglichkeit, die genannte Fülle der Veranstaltungen auch nur annähernd auswerten zu können – der hier praktizierte Bibelgebrauch im Blick auf das Gesamtbild als pluralistisch zu qualifizieren: Vieles hatte nebeneinander Raum, war wechselseitig durchlässig und wurde sehr wahrscheinlich von vielen vor Ort als gegenseitige Bereicherung wahrgenommen und empfunden; demgegenüber scheint es kontroverse Positionierungen und Diskurse über angemessene und unangemessene Zugänge zur Bibel zumindest nicht im Rahmen der Konzeption und Vorbereitung der Gesamtaktion gegeben zu haben.23

      Viele Projekte im Rahmen des Jahres der Bibel verwenden bereits bekannte und bewährte Methoden und Medien wie unterschiedliche kreative Arbeitsformen,24 literarische,25 bildnerische26 oder (kirchen-)musikalische27 Formen oder das Bibliodrama.28 In der Regel liegt hier ein erfahrungsbezogener Umgang mit biblischen Texten zugrunde, dessen Gewichtung stärker auf Verstehen und Deuten der Tradition, auf gegenwartsrelevanter Umsetzung oder auf (angeleiteter) Selbsterfahrung in therapeutischer Ausrichtung liegen kann. Hieran knüpfen poimenische Konzepte an, die die Bibel als klärende und orientierende Sprachhilfe gebrauchen und nicht zuletzt infolge der zunehmenden Fremdheit biblischer Texte, Geschichten, Metaphern und Motive überraschende Perspektiven und neue Horizonte in verengte Lebenssituationen hilfreich einspielen:29

      »In der seelsorglichen Auslegung werden die biblischen Texte nicht einfach in ihrem Ursprungssinn wiederholt; sie werden umgestaltet, zugespitzt, verfremdet; sie erhalten jedenfalls neue Pointen und vielleicht eine andere Gestalt. Zur praktischtheologischen Kunst der Auslegung gehören Übung und Wissen dazu, in welcher Weise der Text benutzt, verfremdet, ja vielleicht sogar ›verbraucht‹ werden muss (Ernst Lange), um seine zugleich bestätigende und öffnende Wirkung zu erzielen.«30

      Dieser poimenische Gebrauch, der sowohl in Einzelgesprächen wie in Gemeindegruppen praktiziert werden kann, vollzieht sich also gerade nicht durch bloßes Zitieren, sondern erfordert die sprachschöpferische Gestaltung ebenso wie eine theologisch fundierte kritische Bibelkunde31 und pastoraltheologische Kompetenz.

      Der derzeitige Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit betont sehr stark die Fremdheit der biblischen Sprache und Traditionen, die nun nicht mehr in die gegenwärtigen Situationen hinein aufgesogen werden und in Gefahr stehen, sich zu verflüchtigen, sondern in ihrer bleibenden Fremdheit Interesse, Lebenshilfe und Klärung bieten können.

       3. Bibelgebrauch im Unterricht

      Der Bibelgebrauch im schulischen Unterricht war bekanntlich seit den 1950er Jahren eng verknüpft mit den grundlegenden Konzeptionsdebatten um die Ausrichtung des Religionsunterrichtes. Kerygmatische, hermeneutische, problemorientierte und symboldidaktische Ansätze weisen der Bibel unterschiedliche Funktionen zu: Sie dient der Dialogaufnahme Gottes mit den Menschen (kerygmatisch), dem Verstehen existentieller Fragen (hermeneutisch), dem Entdecken des Problemlösungspotentials für das persönliche und gesellschaftliche Leben der Gegenwart (problemorientiert) und der Eröffnung des Zugangs zu den Tiefendimensionen des Lebens aufgrund biblischer Symbolsprache (symboldidaktisch).

      Gerd Theißen hat diese vier Ansätze im Sinne einer »offenen Bibeldidaktik« weitergeführt.32 Der kerygmatische Ansatz wird religionswissenschaftlich fortgeschrieben, indem das Selbstverständnis des Christentums, in der Bibel ereigne sich Gottes Selbsterschließung, beachtet und beschrieben wird, ohne den damit gegebenen normativen Anspruch übernehmen zu müssen. Der hermeneutische Ansatz wird unter Aufnahme des Theorems des kulturellen Gedächtnisses (Jan Assmann) und einer Hermeneutik des Fremden differenziert, so dass auch hier die für jede Vermittlungsbemühung wichtige Konsequenz einer bleibenden Fremdheit zwischen Tradition und Gegenwart gezogen wird. Der problemorientierte Ansatz wird in den emanzipatorischen Anliegen bekräftigt, aber um die Dimension der Kontingenzbewältigung (Hermann Lübbe) erweitert, die existentielle und gesellschaftliche Grenzerfahrungen thematisiert. Aufgrund exegetisch-formgeschichtlicher und semiotischer Kritik wird die Geschichtlichkeit und Zeitgebundenheit biblischer Symbole stärker berücksichtigt und ihr Steuerungswert nicht nur in spirituellen, sondern auch in ethischen Fragen betont.

      Insgesamt ist der Bibelgebrauch in der »offenen Bibeldidaktik« sowohl auf der Ebene der theoretischen Ansätze wie der konkreten Umsetzung in Unterrichtsvollzüge als dialogisch zu qualifizieren; gleichzeitig wird im Blick auf Lerninhalte die Forderung nach Elementarisierung erhoben, die in diesem Konzept durch das Spiel mit biblischen Axiomen und Grundmotiven, als Verkörperung des Geistes der Bibel kreativ erfolgt.33 Dialogizität und Elementarisierung sind insofern unauflöslich miteinander verknüpft, als die Axiome und Grundmotive in den interkonfessionellen, interreligiösen und säkularen Dialogen erst zu relevanter Anwendung gelangen.34 Der Bibelgebrauch hat die Diskurs und Dialogfähigkeit in der pluralistischen Welt zu fördern und wird auf diese Weise auch die gegenwärtige kulturelle Identität mitprägen.35

      Der Gebrauch im konkreten Unterrichtsgeschehen wird auch durch die verwendeten Medien bestimmt. Es ist ein Unterschied, ob biblische Texte in Gestalt der – kaum noch verbreiteten – Schulbibel oder in Gestalt eines Textes auf einem kopierten Arbeitsblatt eingeführt werden. Im ersten Fall wird die wichtige Funktion, die das Buch der Bücher auch in seiner äußeren Gestalt für die christliche Religion