Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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des Verstehens ist;54 und Ricoeur verdeutlicht in dem Begriff der »Aneignung«, dass Textinterpretation sich in der Selbstinterpretation eines Subjekts vollendet, das sich »von da an besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt«.55 Oder im biblisch-hermeneutischen Kontext formuliert: »Die unendliche Bewegung der Interpretation beginnt und endet im Wagnis einer Antwort, die kein Kommentar hervorbringt noch ausschöpft.«56 Es geht darum, nicht in der »Schwebe des Textes«57 zu bleiben, sondern seine Offenheit auf etwas anderes hin diskursiv wiederaufzunehmen und anzueignen. In diesem Sinn ist die »Sache des Textes« für Ricoeur die zentrale hermeneutische Herausforderung;58 sie stellt nicht einen mysteriösen Inhalt oder ein metaphysisches Raunen dar, sondern den Text und seine Welten, allerdings in einer theologischen Textinterpretation, die offen ist für das »Woraufhin«59 religiöser Texte und die die Gottesrede in biblischer Polyphonie nachzeichnet.

      In seinen späten Veröffentlichungen öffnet Ricoeur das Subjekt der Interpretation zu Fragen der Ethik und des zum Handeln fähigen und befähigten Menschen. »Da wir historische Wesen sind, sind wir auch Erben grundlegender Versprechen und folglich von Hoffnungen, als deren Gedächtnis sich die Hermeneutik des Selbst versteht. Ricoeur gibt uns auf diese Weise zu erkennen: Wenn eine Hermeneutik ohne Ethik leer bleibt, so ist eine Ethik ohne Hermeneutik blind.«60 Diese programmatische Formulierung Jean Grondins lässt sich durchaus auf Forderungen und Einsichten der engagierten Lektüreformen beziehen: Da wir Christen und die Kirche Erben grundlegender Verheißungen und Hoffnungen sind, als deren Gedächtnis die zu lesende und auszulegende Bibel zu verstehen ist, bleibt Bibelauslegung ohne applicatio eine halbe Sache. Dabei sind unter applicatio nicht nur Rufe zur Entscheidung, ethische Appelle und Handlungsanweisungen zu verstehen, sondern auch Antworten auf die Fraglichkeit und Brüchigkeit menschlicher Existenz und verändernde Sichtweisen auf Wirklichkeiten des Lebens und Glaubens.61

      Die grundlegende theologische Funktion heißt hermeneutisch weitergeführt: Die Christen und die Kirche gebrauchen die Bibel in der Hoffnung, dass sich hier Gott erschließt und in, mit und unter diesen Worten, Geschichten und Redeformen in einen Dialog mit der Welt tritt. Dieser Dialog ist heute jedoch nicht so nachzuzeichnen, dass nach dem einfachen Modell von »Kern und Schale« zünftig entmythologisiert wird. Die Geschichte der Bibelauslegung zeigt, dass dann sowohl in der liberalen wie in der kerygmatischen Version nur blasse Allgemeinbegriffe übrig bleiben, die weder kognitiv überzeugen noch emotional berühren. Bei aller Notwendigkeit von Sachkritik im hermeneutischen Streit sind der Realismus und die Poesie der biblischen Texte nicht einzuebnen, sondern auszulegen und auch in ihren Spannungen zu beschreiben. Dann kann es geschehen, dass die fremde Welt zu einem fremden Gast wird, an dem wir Wichtiges wahrnehmen und Eigenes entdecken, ohne in einer »Wut des Verstehens«62 alles zu vereinnahmen und damit letztlich nichts verstehen.

      Auch die Predigt soll etwas zu verstehen geben, weil die Bibel etwas zu verstehen gibt:

      1.den biblischen Text als »fremden Gast«, den Reichtum seiner Sprache, Motive, Geschichten, Bilder, Argumente und literarischen Strategien, seine Formen und Gattungen in den narrativen, prophetischen, vorschreibenden, weisheitlichen und hymnischen Grundausprägungen biblischer Polyphonie;

      2.den identitäts- und glaubensbegründenden Anspruch und Zuspruch der Bibel, ihren zur Wiederaufnahme und Aneignung offenen Sinn;

      3.dies erfordert die Bereitschaft zu einer dem Bibeltext angemessenen theologisch-anthropologischen Fragehaltung, also zur wahrhaftigen Suche nach Wahrheit, Glauben und Verstehen in der Erwartung, dadurch in den Dialog Gottes mit der Welt einzutreten.

      Dieser Dialog wird – nicht exklusiv, aber exemplarisch und verlässlich – in der Bibel als Bestandteil der christlichen Interpretation des Evangeliums dargestellt; an ihr nehmen Exegese und Praktische Theologie interpretierend, verstehend und gestaltend teil. Sie tun dies in der Regel im Medium von Text und Schrift, während die Predigt und Verkündigungspraxis und die sie begleitende Homiletik vor allem hinsichtlich der Mündlichkeit, der lebendigen Sprache, aber auch der Musik, der Künste, des Films sowie der neuen und neuesten Medien vor eigenen hermeneutischen Herausforderungen stehen, die praktisch-theologisch zu bearbeiten sind. Mein hermeneutisches Plädoyer als Exeget und als Homiletiker lautet dabei: Zur Sache der Texte!

       Bibel

       Medium / Auslegung / Frömmigkeit / Schriftkultur

       1. Einführung

      Der unübersichtlich vielfältige Gebrauch der Bibel kann funktional als explicatio, meditatio und applicatio unterschieden werden, wobei Luther noch die meditatio mit der lectio zusammenfasst.1 Diese Begriffe sind als hermeneutische Aspekte zu reformulieren: explicatio ist die methodisch vorgenommene Auslegung, die durch ein Subjekt vollzogene Besinnung und Reflexion, applicatio die in persönlichen, kirchlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Bereichen wirksame Anwendung. Durch die unterschiedliche Gewichtung der aufeinander bezogenen hermeneutischen Aspekte können zentrale Denkrichtungen eingeordnet (vgl. 2.) und die Bibel als entscheidendes Medium der »Kommunikation des Evangeliums« in ihrer inneren Differenzierung und Pluralität wahrgenommen und beschrieben werden (vgl. 3.).

       2. Problemskizze: Die Bibel zwischen Kirche, Theologie und Religion

      Über die Prägekraft der Bibel für das Leben der Einzelnen, für Theologie, Kirche und Öffentlichkeit gibt es unterschiedliche Befunde und Einschätzungen. Neben der unbezweifelbar inspirierenden Wirkung biblischer Worte, Symbole und Erzählungen auf Musik, Kunst und Literatur kann deren Bedeutung für die Theologie und die Praxis im Raum der Kirche auf dem Hintergrund unterschiedlicher Grundkonzeptionen beschrieben werden.

       2.1

      Die Bibel besitzt aufgrund des Schriftprinzips höchste normative Bedeutung: Sie ist norma normans, bleibt dabei aber über das solus Christus an die personale Gestalt der Gnade gebunden. Gleichzeitig erhielten gewichtige Reformbewegungen wie die Reformation selbst, aber auch die pietistische Erneuerung im 17. Jh. und die Erweckungsbewegungen des 19. Jh. oder die Wort-Gottes-Theologie des 20. Jh. durch Rückgriff auf die Bibel ihren Anstoß, ihr programmatisches Profil und ihre mitunter großen Wirkungen, die nicht zuletzt die sogenannten »Laien« ihr Priestertum in Anspruch und Gebrauch nehmen ließen – u. U. sogar bis zur Bewährung in existentiellen Konflikten oder angesichts staatlicher Bedrohungen. Solche Dogmatik wie Praxis lassen die Bibel aber nicht als »papiernen Papst« oder als »heiliges Buch« erscheinen, sondern erfordern in der Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« verantwortliche Auslegungen (»was Christum treibet«) und vielfältigen Gebrauch. Explikation und Applikation sind die entscheidenden hermeneutischen Herausforderungen dieser Denkrichtung, die ihre Zielbestimmung häufig aus der theologischen Konstruktion einer »Mitte der Schrift« gewann, während die persönliche Lektüre und Meditation stark unter dem Blickwinkel der Bewährung in Anfechtung2 gesehen wird. In der Praktischen Theologie wurde diese Denkrichtung z. B. durch Eberhard Winkler rezipiert.

       2.2

      Die normative Bedeutung der Bibel ist durch neuzeitliche Konzepte durchaus in Frage gestellt und die Bibel als historische Quelle kritisch untersucht und dadurch auch relativiert worden. Dies erforderte Reformulierungen der dogmatischen Tradition unter den Bedingungen neuzeitlicher Subjektivität. In der Praxis wurden dadurch wiederum neue Zugänge zur Bibel eröffnet. Die hermeneutische Dimension der meditatio verstanden entweder als persönliche geistliche Betrachtung eines Textes oder als eher allgemeine Reflexion der biblischen Botschaft oder der christlichen Religion, wird zur entscheidenden Vermittlungsinstanz zwischen Auslegung und Anwendung. So unterschiedliche praktischtheologische Entwürfe wie die von Otto Haendler, Manfred Seitz, Dietrich Rössler, Wolfgang Steck und Wilhelm Gräb können hier zugeordnet werden.