Название | Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens |
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Автор произведения | Helmut Schwier |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783374063826 |
Was ist die Stärke der engagierten Lektüren? Einmal die Betonung der Parteilichkeit der Bibel und ihrer frühen Emanzipationspotentiale, dann aber auch konkreter ihre Fragekategorien von Herrschaft, Patriarchat, Androzentrismus und Gender, von Herrschaft, Unterdrückung, Befreiung30 und Eurozentrismus, von implizitem und expliziten Antijudaismus, von Heil und Heilung, Bild und Symbol. Auch hier gibt es also ein Bultmannsches »Woraufhin der Befragung«. Dies ist notwendig, wenn es ein ›offenes Vorverständnis‹ bleibt bzw. wird. Deutlich und eine Stärke ist weiter, dass hier der Leser31 oder Rezipient im Vordergrund steht – nicht so offen und individualistisch wie in manchen Spielarten der Rezeptionsästhetik, wohl aber hinsichtlich gemeinsamer Lektüren und Wahrnehmungen sowie, spezifischer, hinsichtlich der Erwartung individueller, sozialer, kirchlicher und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Die Rezeption setzt also ein ›Interesse‹ voraus, stärkt und vertieft es.
In der kirchlichen und theologischen Praxis knüpfen bekanntlich zahlreiche Formen des Bibelgebrauchs hier an, wobei das »Jahr der Bibel 2003« diese Fülle kultureller, wertebezogener und missionarischer Anliegen im Umgang mit der Bibel durchaus öffentlichkeitswirksam zeigte.32 Homiletisches Beispiel: Der von Uta Pohl-Patalong entwickelte Bibliolog33 eignet sich als Verkündigungsform in bestimmten Gottesdiensten und nimmt manche Anregungen der feministischen, israelbezogenen und therapeutischen Lektüren integrativ auf. Auch viele narrative Predigten gehören in dieses Feld, während nach meinem Eindruck die Frage der ethischen und politischen Predigt erst wiederentdeckt und neu bearbeitet werden muss. Dabei sind alte Fehlformen gesetzlich-vorschreibenden, pathetisch-appellierenden oder liberal-anempfehlenden Redens zu vermeiden, ohne gleichzeitig die unbequeme Parteilichkeit der Bibel und des biblischen Gottes zu ignorieren.34
4. Ein Integrationsversuch: Theologische Textinterpretation in biblischer Vielfalt
Lassen sich die Stärken der genannten Hermeneutiken integrieren? Ich versuche es in theologischer Hinsicht, nehme dabei Gewichtungen vor und rekurriere nicht selten auf Paul Ricoeur, weil in seinen Reflexionen zur Hermeneutik ein Integrationspotenzial vorliegt, das nach meiner Einsicht in Exegese und Theologie noch längst nicht ausgeschöpft ist.35
Als Zwischenbilanz ist festzuhalten: Die existentiale Hermeneutik, die Interpretationshermeneutik und die vielfältigen engagierten Lektüreformen beinhalten auch die Aspekte des hermeneutischen Vierecks,36 also des Textes oder Werks, des Autors, der Rezipienten und der Sache, wobei hier eine autorenzentrierte Auslegung, weitgehend dem Charakter der biblischen Schriften entsprechend, nicht im Vordergrund steht. Die Sache des Textes ist zentral und dominant für die existentiale Hermeneutik, der Text ist es für die Interpretationshermeneutik, die Rezipienten sind es für die Lektüreformen. Gleichzeitig sind damit verschiedene Funktionen verbunden: Die Dimension »Sache« zielt auf die theologische und anthropologische Grundfrage,37 die Dimension »Text« auf die Notwendigkeit von Kritik und methodisch kontrollierter Interpretation, die Dimension »Rezipienten« auf Gebrauch und Applikation in unterschiedlichen, nicht-einheitlichen Kontexten.
Meine These ist, dass eine verantwortliche Bibelauslegung alle drei Funktionen benötigt: die theologisch-anthropologische, die kritisch-methodische sowie die kontextuell-applikative. Würde eine fehlen, wäre dies hermeneutisch und phänomenologisch defizitär.38 Wie können sie verbunden und aufeinander bezogen werden?
Die kritisch-methodische Funktion der Exegese ist Grundlage wie Handwerk. Hier geht es einmal, wie bereits erwähnt, darum, Anwalt des Textes zu sein, den Text zur Sprache zu bringen, auch in der Vielfalt und Polyvalenz seiner Aussagen, Metaphern, Bildern, Argumentationen und Formen und in seiner Sperrigkeit und Fremdheit. Die Exegese hat sich immer dann als vital erwiesen, wenn sie Methoden nicht dogmatisiert, sondern Neues aufnimmt und integriert; das war bei der alten Formgeschichte und der neueren Sozialgeschichte, bei der alten Redaktionsgeschichte und der neuen Redaktionskritik so, und dies zeichnet, wenn ich recht sehe, auch die gegenwärtig tätige Zunft aus. Alte Einseitigkeiten und Festlegungen auf die eine diachrone oder synchrone Fragestellung gibt es heute nicht mehr39 oder würden als unseriös gelten. Demgegenüber führen neue methodische und theoretische Impulse immer wieder zu innovativen Zugängen und Interpretationen.40
Dieses Interpretationshandwerk ist für die kirchliche Lehre und Predigt, aber ebenso für die Verständigung in interreligiösen und säkularen Kontexten notwendig. Hier wird christliche Religion samt ihrer begründenden Urkunde gezeigt und interpretiert in einer auch für Agnostiker und Atheisten verständlichen Weise. Eine hermeneutica sacra kann es für Verstehen und Auslegen der Bibel nicht geben.
Paul Ricoeur hat in seinen Beiträgen zur Hermeneutik gezeigt, dass ein Text nicht eine innere Wahrheit enthält, die hinter dem Text liegt, sondern dass ein Text als Text und vor sich eine Welt entwirft,41 z. B. die erzählte Welt, die auch in ihrer Fremdheit zu begehen und vielleicht zu bewohnen ist. Dabei braucht die Textinterpretation nicht nur Vertrauen in die Tradition (Gadamer), sondern auch Ideologiekritik (Habermas),42 weil sich trotz aller geschichtlich vorgegebenen Sinntradition der Sinn eines Textes und das Verstehen überhaupt nicht immer von selbst versteht und weil es notwendig sein kann, Sachkritik zu üben und – im Streit der Interpretationen – Traditionen zu durchbrechen.
Die schon genannte Vielfalt der Formen systematisiert Ricoeur in narrative, prophetische, vorschreibende, weisheitliche und hymnische Formen und Diskurse;43 sie bilden eine »biblische Polyphonie«,44 die theologisch bedeutsame Unterschiede in der Gottesrelation und -rede zeigt, weil »Struktur und Kerygma einander in jeder Form des Gesagten angeglichen sind«45: Gott wird zuerst genannt als Moment des narrativen Bekenntnisses, also als ein »Er« in der dritten Person;46 in der prophetischen Rede ist Gott als Stimme des Anderen hinter der prophetischen Stimme genannt, also in der »doppelten ersten Person«;47 in der präskriptiven Rede ist Gott als Urheber des Imperativs, das auf ein menschliches »Du« zielt, genannt;48 in der weisheitlichen Rede ist, häufig in Nähe zum narrativen »Er«, die Nennung Gottes wenig personalistisch, sondern sie stellt sich seiner Unbegreiflichkeit und Verborgenheit; in hymnischen Rede »verinnerlicht sich das Verhältnis zu Gott«49 und er wird ein »Du« für das menschliche »Du«.
In der Reflexion dieser biblischen Diskurse, die noch stärker und intensiver auf ihre Interferenzen untersucht werden können und zu denen auch noch die »Grenzausdrücke« (z. B. Paradox, Hyperbel, Überzogenheit, unnennbarer Gottesname) gehören, die eine Gottesrede via eminentiae öffnen,50 so zeigt sich eine überzeugende Möglichkeit, nicht nur Textinterpretation, sondern theologische Textinterpretation im Kontext biblischer Vielfalt zu betreiben.51
Ricoeur erkennt in der Textinterpretation außerdem eine notwendige Distanzierung gegenüber vorschnellen Hoffnungen auf Horizontverschmelzungen.52 Texterklärungen können distanzieren, aber sie schützen dadurch auch vor Vereinnahmungen und sie halten die semiotische Einsicht aufrecht, dass das Zeichen nicht einfach das Bezeichnete abbildet und dass die Referenzrelation – stärker im Text als in der Rede – unterbrochen sein kann. Für die neutestamentliche Hermeneutik hat daher Hans Weder die treffende Metapher vom Text als dem »fremden Gast« geprägt,53 den auch Predigende in ihrer Vorbereitung als Gegenüber willkommen heißen sollen. In dieser Weise gewinnt die kritischmethodische Funktion der Exegese eine notwendige und konstruktive Ausprägung.
Auch die kontextuell-applikative Funktion gehört notwendig zum Bibelgebrauch. Manch »wilde Exegese« – sei es Karl Barths »Römerbrief« oder die »Bauern von Solentiname« oder eine Bibliodrama-Erfahrung – scheint den Ansprüchen der Bibel angemessener zu sein als eine Exegese, die sich in Viertelversteilungen, in Wortstatistiken oder Strukturanalysen verliert. Der Grund hierfür liegt allerdings in der Verbindung mit der ersten, der theologisch-anthropologischen Funktion. Diese ist nicht autoritär oder offenbarungstheologisch-positivistisch, sondern existential-hermeneutisch zu denken. Die basale Einsicht, dass ein Verstehen immer ein Selbstverstehen