Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

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Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



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werden.

      Als Quellen- und Bildungsbuch hat die Bibel in überaus starkem Maße die abendländische Musik, Literatur und bildende Kunst, Theater und Film inspiriert und ist vor allem auf diese Weise Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden. Biblische Geschichten und Gedanken werden dargestellt, ausgelegt, zitiert, angedeutet, verfremdet und karikiert. Zu einer verstehenden Begegnung mit Kunst gehört auch, dass solche Bezugnahmen entschlüsselt werden können. Diese Kompetenz muss die Schule im Rahmen ihres Bildungsauftrages vermitteln. Allerdings reicht eine bloße Entschlüsselung nicht aus, da gleichzeitig die damit verbundenen Sinnkonzepte, Weltbilder und Werte kritisch zu prüfen sind. Daher sollte ein Religionsunterricht, der z. B. mit Videoclips arbeitet, nicht nur deren Zeichenverwendungen entschlüsseln, sondern ebenso zur theologischen Kritik, die keineswegs nur kognitiv erfolgen muss, befähigen.48

      Vergleichbares gilt für gesellschaftliche Diskurse, in denen über ethische Grundfragen oder die kulturellen Werte Europas oft mit biblischen oder religiösen Bezügen argumentiert wird. Auch hier ist die Prägekraft der jüdischchristlichen Traditionen auf Rechtswesen, Wohlfahrt und Moral zu entdecken und gleichzeitig kritisch und aufklärend neu zur Diskussion zu stellen.49

       3.4.2 Hermeneutische Kompetenz

      Die wissenschaftliche Auslegung der Bibel hat zu einer methodisch und hermeneutisch hoch differenzierten Forschungskultur geführt. Wissenschaftliche Exegese geschieht prinzipiell applikationsfern und identitätsoffen,50 sie zielt also auf Verstehen, nicht auf Einverständnis. Ihre Aufgabe ist das Verstehen eines Textes in seiner Welt; dies geschieht aber auch in der Absicht, plurale Rezeptionen und Kommunikationen zu eröffnen wie sie kritisch zu prüfen. Dazu sind allerdings alle Disziplinen der Theologie notwendig, die nicht nur Texte, sondern die biblische und die christliche Grammatik vergangener und gegenwärtiger Kulturen analysieren und auf diese Weise die christliche Interpretationspraxis des Evangeliums mitgestalten.

      Die in wissenschaftlicher Auseinandersetzung gebildete hermeneutische Kompetenz ist für Kirche, Schule und Öffentlichkeit notwendig, um die Bibel und ihre Botschaft zu verstehen, sie in säkularen, interreligiösen und ökumenischen Dialogen vertreten zu können51 und sie als Orientierung, Vergewisserung und Erneuerung mit Einzelnen, in Gruppen, Gemeinden und Kirchen privat und öffentlich zu kommunizieren.

       Verschiedene Arten des Bibelgebrauchs

      »Sol die Axt hawen, so muss der Holzhawer die Axt erstlich erheben: Soll die Thür auffgethan werden, so muss der Thürhüter den Riegel wegthun.«

      Mit solchen bildkräftigen, allerdings dogmatisch wenig präzisen Formulierungen veranschaulichte der Danziger Pfarrer Hermann Rahtmann Anfang des 17. Jahrhunderts das Verhältnis von Heiligem Geist und Heiliger Schrift und polemisierte gegen Annahmen, die Heilige Schrift wirke (als Gnadenmittel) auch außerhalb ihres Gebrauchs.1 Unbeschadet der differenzierten Debatten und Positionen zur dogmatischen und praktischen Funktion der Bibel2 ist christlicher Konsens: Die Bibel soll gebraucht werden, und zwar vom Einzelnen wie innerhalb der Gemeinschaft einer Familie und einer Gemeinde(-gruppe) sowie durch die Kirche in der Öffentlichkeit. Die Arten des Bibelgebrauchs sind vielfältig, ihre Wechselbeziehungen unübersichtlich. Im Folgenden sollen exemplarische Arten und Orte dargestellt und kritisch gewürdigt werden,3 wobei der Hauptakzent hier weder auf dem Lesen selbst noch auf der Wirkungsgeschichte der Bibel in Kunst und Kultur liegt.4 Ob Kirche und Theologie – um vom Hl. Geist zu schweigen – dabei häufiger als »Holzhawer« oder als »Thürhüter«, der Zugang ermöglicht, gewirkt haben, ist schwer zu entscheiden; beides kam bekanntlich vor.

       1. Gottesdienstlicher Bibelgebrauch

      Im christlichen Gottesdienst wird die Bibel in Liturgie und Predigt gebraucht: Aus der Bibel wird in der Liturgie sowie vor oder während der Predigt vorgelesen; gleichzeitig entstammen ihr Gebete (Psalmgebet bzw. Introitus, Vaterunser), liturgische Sequenzen (Sanctus, Einsetzungsworte, Segen) und mehr oder weniger deutliche Anklänge (Kyrie, Gloria, Halleluja, Hosianna, Amen, biblische Sprache in Gebeten und Liedern).5

      Im Bereich evangelischer Traditionen ist zunächst auffällig, dass hier fast alle Relikte einer rituellen Buchverehrung fehlen. Liturgisch ausgeformte Prozessionen mit dem Bibelbuch oder sichtbare Begleitriten bei den Lesungen (Beräucherung, Kerzen, den Lektor begleitende Ministranten) sind im Unterschied zu Orthodoxie und Katholizismus nicht gebräuchlich. Allerdings besitzt die aufgeschlagene Bibel in der Mitte des Altars eine signifikante Bedeutung. Gerade die geöffnete und in der Regel nicht zur Lesung benutzte Bibel wird symbolisch gebraucht:6 Dieser Gebrauch verdichtet die protestantischen Einsichten, dass Gott sich im Wort der Heiligen Schrift selbst erschließt, im Wort gegenwärtig ist und dass die Heilige Schrift als einzige Regel und Richtschnur des Glaubens zu gelten hat.7 Die Altarbibel verdeutlicht – zugespitzt formuliert – das protestantische Schriftprinzip. Gleichzeitig ist sie das kostbarste Buch im Raum, also auch ohne Verehrung mit besonderer Würde versehen. Auf sie und das mit ihr verbundene Altarkreuz ist für alle wahrnehmbar der evangelische Kirchenraum in der Regel ausgerichtet.

      Um nun nicht den Streit um und mit Hermann Rahtmann erneut aufzunehmen, ist zu bedenken, dass zu dem symbolischen Gebrauch der Bibel im Gottesdienst der lesende und der auslegende Gebrauch hinzutreten, die gleichzeitig den Höhepunkt des Wortgottesdienstes darstellen und ihrerseits dem symbolischen Gebrauch erst Relevanz verleihen. Nicht das Buch als solches, sondern die gelesenen, gehörten und für die Gegenwart ausgelegten biblischen Geschichten und Summierungen der Botschaft, also die viva vox evangelii, begründen und stärken den Glauben und bieten dem christlichen Leben Veränderungsimpulse.

      Die unterschiedlichen Funktionen gottesdienstlicher Lesungen lassen sich systematisieren in didaktische, anamnetisch-kerygmatische und parakletische Primärfunktionen.8 In heutigen Gottesdiensten wird die didaktische Funktion am ehesten durch eine an der lectio continua orientierte Lesung (am häufigsten im reformierten Bereich), die anamnetisch-kerygmatische Funktion durch die kirchenjahreszeitlich geprägten Lesungen (in unierten und lutherischen Kirchen) und die parakletische Funktion durch die Lesungen in Kasualgottesdiensten (Taufe, Trauung, Bestattung) erfüllt.9 Diese Differenzierung in Lesungstypen und -funktionen ist bei der liturgischen Gestaltung zu beachten.

      Ihre Mittelpunktstellung im evangelischen Gottesdienst gewinnt die Bibel vor allem durch die Predigt, denn ihr liegt in der Regel ein Bibeltext zugrunde, der ausgelegt wird.10 In prinzipieller Hinsicht gilt der Bibeltext traditionsgemäß als Wahrheits-, Verbindlichkeits- und Verlässlichkeitsargument.11 Die gegenwärtige Homiletik darf hier nicht alte Positionen, die diese Argumente häufig einseitig gegen die menschlichen Anteile der Hörer und Prediger ausgespielt hatten, unkritisch übernehmen; sie hat diese Funktionen vielmehr unter Einbeziehung der Rezipienten- und Produzentenperspektive weiter zu schreiben.

      Der Bibeltext als Predigttext gilt als wahr, insofern er Hörende und Predigende in einen Prozess der Auseinandersetzung mit und der Entdeckung von Wahrheit führt. Er gilt als verbindlich, insofern er sich im Prozess des Hörens und Predigens als verbindlich erweist, und als verlässlich, insofern durch ihn Erfahrungen der Verlässlichkeit Gottes bezeugt werden.12 In praktisch-theologischer Sicht gewinnt dadurch der Bibeltext eine kreativ-kommunikative, eine identitätsgewährende13 und eine konfessorische Funktion. Kreativ wirkt der Bibeltext vor allem für die Predigenden, weil er inspirierende Impulse ebenso freisetzt wie er kritisches Gegenüber bleibt; kommunikativ wirkt er für die Hörenden, die als Gemeinde verbunden sind und sich gemeinsam auf Bibel und Auslegung als personal vermittelte Kommunikation des Evangeliums ausrichten.14 Identitätsgewährend, also sowohl identitätsstiftend wie -stabilisierend,15 ist der Bibeltext, wenn er sich im Akt der Predigt als verbindlich erweist und damit die entscheidende Relevanz für Glauben und Leben der Hörenden und Predigenden gewinnt. Seine konfessorische Funktion erfüllt er, wenn er die Treue und Verlässlichkeit Gottes nicht an sich, sondern als Einladung zu eigenen Glaubenserfahrungen