Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens. Helmut Schwier

Читать онлайн.
Название Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens
Автор произведения Helmut Schwier
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783374063826



Скачать книгу

sondern liegt als Buch in verschiedenartigen Übersetzungen und Übertragungen vor. Systematisiert man die Übersetzungstypen, kann man mit Boecker33 (begriffs-)konkordante, philologische und kommunikative Typen unterscheiden. Derzeit sind rund 35 deutsche Bibelübersetzungen greifbar. Von den gängigsten34 lassen sich die sprachschöpferisch kraftvolle Übersetzung von Buber / Rosenzweig dem konkordanten, die Einheitsübersetzung, die Zürcher Bibel und die Elberfelder Bibel dem philologischen und die Lutherübersetzung sowie die »Gute Nachricht Bibel (1997)« und »Hoffnung für alle (2002)« dem kommunikativen Typ zurechnen,35 ebenso wie die Bibelübersetzung »in gerechter Sprache«.

      Die Bibel ist darüber hinaus in unterschiedlichen Buchausgaben erhältlich, deren Spanne vom Taschenformat über die Studienausgabe bis zu bebilderten Hochzeits- und Kunstbibeln reicht.36

      Die Lutherbibel unterscheidet sich von den anderen Buchausgaben dadurch, dass sie zentrale Bibelverse graphisch hervorhebt. Diese Praxis geht auf Luther selbst zurück, der mit diesen sogenannten »Kernstellen« Lesehilfen geben wollte. In der Folgezeit wurden die Kernstellen nicht nur deutlich vermehrt (1539: 232 Stellen; 1984: 1116 Stellen),37 sondern es veränderte sich ihre Funktion als Lesehilfe dadurch, dass sie sich mit der typisch protestantischen Erscheinung der Spruchfrömmigkeit verband: Kernstellen dienten als Memorierpensum und vor allem zur Auswahl der zu den Kasualien verwendeten Bibelsprüche (vgl. 3.2.1); diese Praxis erhält ihre binnenkirchliche Plausibilisierung durch die Tradition der Losungen und Monats- bzw. Jahressprüche (vgl. 3.3.1).

      In den Übersetzungen und Ausgaben ist die Bibel Teil der Buch- und Lesekultur, die in der literalen Welt des neuzeitlichen Bürgertums ihren Höhepunkt fand.38 Die Transformationen von der literalen zur multimedialen Kulturwelt, denen auf der Angebotsseite durch elektronische oder multimedial vernetzte Bibelausgaben begegnet wird, betreffen alle Bücher. Die Beobachtungen sind ambivalent: Einerseits ist das ›Gutenbergzeitalter‹ insofern beendet, als die Informations- und Unterhaltungsmedien sich in kurzer Zeit vervielfältigt haben, so dass Bücher und Zeitschriften nur noch einen Ausschnitt der Medien darstellen; andererseits bedeutet dies nicht, dass Bücher nicht mehr gelesen werden. Der überaus große Erfolg von Büchern wie derzeit »Harry Potter« oder »Der Herr der Ringe« verdankt sich auch einer geschickten Vermarktung und einer engen Verzahnung von Buch, Verfilmung, TV- und Internetpräsenz (samt virtueller und globaler ›Gemeinden‹ von Insidern). Auch die gehobene Literaturkritik bedient sich inzwischen fernsehtauglicher Formate und wirbt auf diesem Weg für das Lesen.

      Durch Präsenz und Präsentation in den Medien kann es zwar gelingen, neue Aufmerksamkeit für die Bibel zu wecken, was die Aktionen im »Jahr der Bibel« belegen (vgl. 3.1). Allerdings lässt sich nicht feststellen, ob dadurch eher Angehörige der Kerngemeinde, volkskirchliche Randsiedler oder Konfessionslose erreicht werden und wie beständig eine solche Aufmerksamkeit sein kann. Die Statistiken der Bibelgesellschaft (vgl. 3.1) belegen, dass mit Ausnahme von Jugendbibeln und Bibeln in Hörbuchversionen die Verbreitungszahlen im »Jahr der Bibel« nicht höher waren als in den vorangegangenen Jahren.

      Christian Grethlein hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Verständnis von »Moderne« soweit es das Alltagserleben prägt, durch Erfahrung der Beschleunigung von Zeit und Individualisierung sowie ein einfaches naturwissenschaftliches Weltbild gekennzeichnet ist.39 Diese drei Faktoren erschweren modernes Leben mit der Bibel. Die mediale Entwicklung hat nicht nur diese drei Faktorenverstärkt, sondern auch die Bilderflut sowohl enorm gesteigert wie auch deren Abfolge beschleunigt, was z. B. an Videoclips ebenso zu sehen ist wie an Kameraführung und Schnitttechnik in TV- und Kinofilmen der letzten Jahre. Dies prägt und verändert wiederum die Rezeptionsbedingungen: Vermutlich werden daher besonders Jugendliche und junge Erwachsene nicht nur das Leben mit der Bibel, sondern bereits das Lesen der Bibel beschwerlich finden. Daher erscheint es wenig wahrscheinlich, dass sie von sich aus die Lektüre der Passionsgeschichte beginnen, obwohl diese rezeptionsästhetisch aufregender sein kann als beispielsweise der Konsum von Mel Gibsons Kinoprodukt »Die Passion Christi«.40

       3.3.3 Bibelfrömmigkeit und gelebte Religion

      Durch die Repräsentativumfragen aus den 1980er-Jahren wird konkretisiert, dass die private und gruppengestützte Lektüre der Bibel nur von einem kleinen Teil der Kirchenmitglieder gepflegt wird (5% »häufig«, 13–14% »hin und wieder«).41 Deren Bibelfrömmigkeit basiert auf der Grundannahme, dass die Bibel nicht irgendein Buch ist, sondern als Wort Gottes oder Urkunde des Glaubens dem Leben Orientierung, Vergewisserung und Erneuerung eröffnet. Das verbindet sie mit dem biblizistisch-pietistischen Typ der Bibelfrömmigkeit, der im 19. und 20. Jh. auch in der Nähe zur konfessionellen Kirchlichkeit stand.42

      Da es keine aktuellen empirischen Untersuchungen gibt, lässt sich nicht begründet aussagen, inwieweit die neuen Zugänge eine eigene signifikante Bibelfrömmigkeit hervorgebracht haben. Diese Unsicherheit galt schon für die neuen Zugänge zur Bibel in den 1970er- und 1980er-Jahren.43 Für die heutige Situation ist zu vermuten, dass verstärkt Menschen erreicht werden, die nicht auf die bisherigen binnengemeindlichen Milieus beschränkt sind, zumal die Projektgruppen und Workshops in Zusammensetzung und Zeitverpflichtung wenig konstant erscheinen. Orientierung, Vergewisserung und Erneuerung werden hier in entweder stärker gesellschaftsbezogener, meditativ-spiritueller oder ganzheitlich-therapeutischer Zugehensweise erwartet, sofern diese sich im Prozess als evident erweisen. Dies wäre typisiert eine erfahrungsbezogen-liberale Spiritualität, in der die Bibel ein religiöses Medium neben anderen ist.

      Für die große Mehrheit der Kirchenmitglieder ist der Besitz einer Bibel belegt, wodurch eine gewisse Verbundenheit mit christlicher Tradition repräsentiert werden kann;44 durch das praktizierte volkskirchliche Teilnahmeverhalten an Kasualien und Heiligabendgottesdiensten bestehen dort Begegnungsmöglichkeiten mit der Bibel als Buch der Kirche (vgl. 3.2). Eine selbständige Bibellektüre kann jedoch nicht vorausgesetzt werden.

      Angesichts der medialen Entwicklungen und der durch sie geprägten Rezeptionsbedingungen erscheint die Kunst des Bibellesens heute fast wie eine anachronistische Anstrengung: »Die imaginative Arbeit, sich Vorstellungen zu bilden und sie auf die eigene Vorstellungswelt zu beziehen, wird den Leserinnen hier nicht gleichsam durch die Bilderflut schon abgenommen, sondern als Anstrengung des Lesens aufgebürdet.«45 Kirchen und Gemeinden sollten sich für diese Anstrengung engagieren und neue Hilfen und Begegnungsräume schaffen, damit die Bibel auch als Literatur entdeckt werden kann.

       3.4 Die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung der Bibel

       3.4.1 Die Bibel als Quellen- und Bildungsbuch

      Als Quellen- und Bildungsbuch wird die Bibel in Hochschulen und Schulen gebraucht. Dort wird sie mit Hilfe unterschiedlicher Methoden wissenschaftlich ausgelegt und zu verstehen gesucht. Ihr Gebrauch in der Schule ist eng mit den religionspädagogischen Konzepten verbunden, die sich nicht zuletzt in der Frage der Bibeldidaktik unterscheiden.46 Nachdem der problemorientierte Religionsunterricht zumindest in seiner klassischen Ausprägung dem Ende entgegen geht, scheinen heute symboldidaktische Konzepte mit stärker ganzheitlich-ästhetischen Zugängen oder semiotische Konzepte mit kritisch-ästhetischen Zugängen an Einfluss zu gewinnen. Dabei haben beide Konzepte die bloße Text- oder Problemorientierung überwunden und partizipieren in unterschiedlicher Weise am ästhetisch orientierten Paradigma und der ihm inhärenten Option für plurale Lesarten. Im kirchlichen Unterricht hat sich Vergleichbares vollzogen; hier können noch stärker als in der Schule ganzheitliche Zugänge praktiziert werden.47 Wie in der Schule werden dabei die lebensgeschichtliche Situation der Jugendlichen und die christliche Tradition gleich ursprünglich berücksichtigt.