Der Kopf von Ijsselmonde. Jacob Vis

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Название Der Kopf von Ijsselmonde
Автор произведения Jacob Vis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726412420



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alles und Andrea schwieg, als habe sie plötzlich die Sprache verloren.

      Der Internist behielt sie zwei Wochen länger im Krankenhaus als unbedingt nötig. Sie sprach wieder, lachte sogar und überraschte ihn mit ihrer Intelligenz und ihrem Durchsetzungsvermögen. Er ließ sie Kraftübungen durchführen. Andrea trainierte wie besessen.

      Schließlich kehrte sie nach Hause zurück. Es ließ sich nicht vermeiden, solange der Täter nicht gestand und das Opfer schwieg. Aber so leicht würde es nicht noch einmal geschehen, dachte der Internist, als Andrea ihn zum Abschied umarmte. Sie war muskulös wie eine Athletin und in ihren Augen lag ein Blick, wie er ihn noch nie bei einem Kind gesehen hatte: Hass und unverhohlene Rachsucht.

      3

      Van Arkel betrachtete das Foto von Ronnie Calypsos unversehrter rechter Gesichtshälfte. Von dieser Seite aus wirkte der Tote genauso friedlich wie die dänische Moorleiche, die er letztes Jahr gesehen hatte. Er war beeindruckt gewesen von dem Frieden auf dem zwanzig Jahrhunderte alten Gesicht. Obwohl der Mann aus Tollund gewusst haben musste, was ihn erwartete. Hatte Ronnie van Splunter es auch gewusst? Van Arkel blickte Seyat an, der ihm am Schreibtisch gegenübersaß, und fragte: »Kanntest du ihn?«

      »Ich habe mich gelegentlich mit ihm unterhalten. Ich weiß, wie und wo er wohnte.«

      »Allein?«

      »Nein, mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammen.«

      »Kennst du die auch?«

      Seyat starrte das Foto lange an. »Ich kenne seine Schwester«, sagte er schließlich.

      Sie schauten sich an und wandten gleichzeitig den Blick ab.

      »Es ist vorbei«, sagte Seyat.

      »Bist du mit ihr ins Bett gegangen?«

      Seyat seufzte. »Man könnte eher sagen, dass sie mit mir ins Bett gegangen ist.«

      »Während der Dienstzeit?«

      »Ja.«

      »Wie dumm, Brigadier. Strohdumm. Ich hoffe, sie schmeißt nicht mit Steinen auf dein Glashaus.«

      Seyat warf das Foto auf den Tisch. »Ich habe keine Lust, mich zu rechtfertigen, Ben. Es ist nun mal passiert, vor einem Jahr. Ich hatte gerade die Scheidung hinter mir ...«

      »Und?«

      »Ich bin ihr jeden Tag begegnet. Jeden Tag, an dem ich in deinem Auftrag die Gruppe Antillianer im Auge behalten musste, hoppelte sie mit ihrem Hintern vor mir herum.«

      »Wackelte.«

      »Wackelte.«

      »Und du hast dich einwickeln lassen.«

      Seyat schwieg. Van Arkel rieb sich über das Kinn. »Was weißt du sonst noch von ihm, außer dass er eine schöne Schwester hat?«

      »Er hat in Autowerkstätten gejobbt. Wenn er Geld hatte, ging er zu den Rennen in Zandvoort.«

      »Was hatte er dann verdammt nochmal in diesem Wald zu suchen?« Van Arkel tippte auf das Foto und schaute Ronnie streng an. »Was hast du da im Wald getrieben, Freundchen?«

      »Ronnie ließ sich den Kopf abhacken«, sagte Seyat laut. »Professionell, mit einem rasiermesserscharfen Gegenstand, einem Schwert, einem Beil, jedenfalls mit einem Schlag. Tschack!«

      »Wie geht das denn, jemandem mit einem Schlag den Kopf abzuhacken? Wie man sieht, war Ronnie ein kräftiger Kerl. Ein Auftragsmörder? Ein Henker? Ein Schweineschlächter?«

      »Was hältst du von einem Waldarbeiter?«

      »Waldarbeiter arbeiten mit Motorsägen.«

      »Wenn man jemanden nachts still und klammheimlich enthaupten will, ist eine Motorsäge so ziemlich die ungünstigste Waffe«, entgegnete Seyat.

      »Die können auch gut mit Äxten umgehen.«

      Auf dem Flur hörte man das Klappern des Kaffeewagens. Van Arkel wartete, bis der Mann im Arbeitskittel schweigend wie immer den Kaffee hingestellt hatte.

      »Was fällt dir zu dem Motiv ein?«

      Seyat holte einen Zettel aus der Tasche und legte ihn ohne ein Wort zu sagen auf den Tisch. Van Arkel betrachtete das Stück Papier, das auf beiden Seiten mit Seyats kleiner, regelmäßiger Schrift beschrieben war. »Konntest du nicht schlafen?«, fragte er lächelnd.

      »Nein.«

      Van Arkel las die Aufzeichnungen und gab ihm das Blatt zurück. »Was steht hier drin, was wir heute Nacht nicht besprochen haben?«

      »Leidenschaft.«

      »Ein Lustmord?«

      »Leidenschaft«, wiederholte Seyat. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Jemand war verrückt nach ihm, Ronnie hat diese Person betrogen und sie hackt ihm den Kopf ab.«

      »Das ist ein klassisches Mordmotiv«, gab van Arkel zu. »Aber ich frage mich die ganze Zeit, warum der Täter den Kopf im Wald versteckt hat. Hat er gehofft, die Füchse würden ihn fressen? Oder hoffte er, dass er gefunden würde?«

      »Von uns?«

      »Das frage ich mich eben.«

      »Guten Morgen«, grüßte Mirjam. »Gibt’s Kaffee?«

      »Die zweite Runde«, sagte van Arkel. »Jansen war gerade hier.«

      »Schade«, sagte sie. »Darf ich deine Theorie auch mal hören, Ben?«

      »Ich grüble über den Kopf im Wald nach. Stellen wir uns mal vor, Ronnie musste dort einen Auftrag ausführen. Etwas abholen oder wegbringen. Und stellen wir uns dann mal vor, dass derjenige, für den die Nachricht bestimmt war, nicht zufrieden mit ihm war.«

      »Es ist lange her, dass Überbringer schlechter Nachrichten ihr Leben lassen mussten.«

      »Manche Menschen leben in der Vergangenheit.«

      »Hältst du das wirklich für eine sinnvolle Ausgangstheorie?«

      Van Arkel lachte. »Na gut, dann eben nicht.«

      Das Telefon klingelte. Van Arkel nahm ab.

      »Die Hundestaffel ist eingetroffen, Inspecteur«, meldete der Telefonist.

      »Wir kommen«, sagte van Arkel. »Bitte Jansen, den Jungs eine Tasse Kaffee zu geben.« Er stand auf. »Die Hunde sind da.«

      »Gehen wir alle drei in den Wald?«, fragte Seyat.

      »Alle vier«, erwiderte van Arkel. »Schilder kommt auch mit. Während die Hunde den Wald durchsuchen, nutzen wir die Zeit, einen Plan auszuarbeiten.«

      Auf dem Waldweg standen fünf dunkelhäutige Männer mit Wollmützen, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Zwei nervöse, mit Karabinern bewaffnete Polizisten bewachten die Stelle, an der Ronnies Kopf gefunden worden war. Van Arkel grüßte die Antillianer, die schweigend nickten, und ging zu den Beamten hinüber.

      »Morgen Bakker, morgen Spruit. War noch irgendwas Besonderes?«

      »Morgen, Inspecteur«, sagte Spruit, ein magerer Mann mit fliehendem Kinn. »Keine besonderen Vorkommnisse, nur die Leute auf dem Weg gefallen mir nicht.«

      »Was machen die denn?«

      »Nichts. Das ist es ja gerade. Sie stehen nur so herum.«

      »Wann sind sie gekommen?«

      »Um halb sieben. Wir hatten Schilder und Brigadier van Roon gerade abgelöst. He, die sind auch hier?«, sagte Spruit überrascht.

      »Schilder will zur Kripo«, erklärte Bakker.

      »Na, von mir aus«, sagte Spruit. »Sollen wir hier bleiben, Inspecteur?«

      Van Arkel nickte und ging zum Waldweg hinüber.

      »Du mich auch«, sagte Spruit leise.

      Bakker feixte.