Der Kopf von Ijsselmonde. Jacob Vis

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Название Der Kopf von Ijsselmonde
Автор произведения Jacob Vis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726412420



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Kopf abzuhacken.«

      »Streit wegen eines missglückten Deals? Oder Streit, weil die Musik zu laut war?«

      Schilder schaute sie perplex an. »Du glaubst doch wohl nicht, dass einer von den Nachbarn es getan hat!«

      »Wenn ich dich so höre, gibt es Motive genug.«

      »Lächerlich! Du wirst doch nicht etwa mit diesem Unsinn zum Inspecteur rennen?«

      »Weiß ich noch nicht.«

      Schilder sah ihre Zähne im Mondlicht glänzen. Lachte sie ihn jetzt etwa aus?

      »Die Leute hier tun so etwas nicht. Streitigkeiten unter Nachbarn, ja. Hin und wieder eine Kneipenschlägerei. Aber Mord?« Schilder schüttelte den Kopf. »Niemals!«

      »In Ijsselmonde hat es noch nie einen Mord gegeben?«

      »Doch, schon. Aber keinen von diesen komplizierten.«

      »Keine abgetrennten Köpfe und so?«

      »Nein. Weißt du, woran das liegt? Wir sind zu dumm dazu.«

      Mirjam lachte. »Das nenne ich ein wissenschaftliches Argument.«

      Am Ende des Weges tauchte ein Auto auf. Mirjam und Schilder liefen zum Waldrand und zogen ihre Pistolen. Das Auto hielt neben dem Bus an. Van Arkel stieg aus, eine Thermoskanne und drei Plastikbecher in den Händen.

      »Sie hätten uns vorher Bescheid sagen können«, meinte Schilder.

      »Hätte ich«, antwortete van Arkel. »Hab ich aber nicht. Tut mir Leid. Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?«

      »Eine Eule«, sagte Mirjam. »Und ein Vorgesetzter, der Kaffee vorbeibringt.«

      Van Arkel lachte. »Zum Nachtdienst gehört Kaffee. Halt mal. Die Zuckertütchen sind in meiner Jackentasche.«

      Mirjam wärmte ihre Hände an dem Becher. »Warst du bei der Familie?«

      »Ja. Ein Drama«, sagte van Arkel. Er hatte mit allem gerechnet im Hause van Splunter: Hass, Wut und lautstarke Kundgebungen der Trauer, doch die beherrschte, würdevolle Reaktion von Ronnies Mutter hatte ihn überrascht. Als habe sie den Tod erwartet.

      »Es ist auch ein Drama«, sagte Mirjam. »Für uns ist es ein Fall, aber für die Eltern ... Stell dir vor, du müsstest den Kopf deines Sohnes identifizieren!«

      Die Eule schwebte über den Waldrand hinweg. Mirjam griff van Arkel am Arm.

      »Da ist sie wieder!«

      Van Arkel richtete den Blick auf den lautlosen Schatten. »Ich wusste gar nicht, dass die Viecher so leise fliegen können.«

      Mirjam schaute der Eule nach, die im Wipfel einer Rottanne verschwand. Sie füllte die Becher nach und fragte: »Habt ihr schon beschlossen, wie es weitergeht?«

      »Du, Haydar und ich führen die Ermittlungen durch. Vermeer hält im Büro die Stellung. Der Staatsanwalt lässt uns freie Hand.«

      »Willst du keine Sonderkommission einrichten?«

      »Vorläufig nicht. Wir werden von einem Experten vom Zentralen Geheimdienst der Kriminalpolizei, dem CRI, unterstützt.«

      »Sind keine Ordnungspolizisten dabei?«, fragte Schilder.

      »Doch, natürlich. Morgen früh um sechs werdet ihr abgelöst.«

      Schilder spielte mit seinem leeren Becher. »Kann ich nicht mitmachen, Inspecteur?«

      »Warum möchtest du das?«

      Schilder steckte den Becher in die Tasche seiner Uniformjacke. »Scheint mir interessant«, erklärte er ungeschickt.

      »Ein Mordfall bedeutet knallharte Arbeit, wenn nötig sieben Tage die Woche. Bist du dazu bereit?«

      »Ja.«

      Van Arkel schaute ihn forschend an. »Ich bespreche das morgen mit Vermeer. Wenn er dich im normalen Dienst entbehren kann, bist du dabei. Vorausgesetzt, die anderen Teammitglieder sind damit einverstanden.«

      Schilder schaute Mirjam an. »Brigadier?«

      »Wie könnte ich jemanden ablehnen, mit dem ich Nachtdienst schiebe?«, antwortete Mirjam. »Weißt du, was das Gute daran ist, wenn du demnächst auch Brigadier bist?«

      »Ja?« Schilder sah ihre Augen im Mondlicht funkeln und fragte sich, ob sie einen Freund hatte. Dumm, dass er das nicht wusste.

      »Dann brauchst du nicht mehr zu fragen, ob du mitmachen kannst«, sagte sie. »Dann wirst du einfach eingeteilt.«

      Schilder sah, wie sie ihren Vorgesetzten anschaute, und auf einmal begriff er. Mirjam war in van Arkel verliebt.

      »Deine Eltern wohnen doch in der Nieuwstraat«, sagte van Arkel. »Kennst du die Gegend?«

      »Früher schon«, antwortete Schilder. »Jetzt schaue ich nur noch ein paarmal die Woche vorbei.«

      »Haben deine Eltern Kontakt zu ihren antillischen Nachbarn?«

      »Kaum.«

      »Andere Nachbarn?«

      »Auch nicht.«

      »Die Antillianer leben also wirklich ganz für sich.«

      »Inzwischen schon«, sagte Schilder. »Früher herrschte Kriegszustand.«

      »Wegen des Krachs?«

      »Ja ...« Schilder zögerte.

      »Weshalb sonst noch?«

      »Ihre Arroganz. Sie benehmen sich, als wären sie das auserwählte Volk.«

      »Auserwählte Völker nehmen ein schlimmes Ende«, sagte Mirjam.

      Van Arkel schaute sie an. Der Tod des Jungen ging ihr nahe. Sie hielt eine Art Totenwache ab. Prima. Abstand war gut, Betroffenheit besser. Es erweckte den Toten nicht wieder zum Leben, führte einen aber manchmal zu dem Mörder.

      Andrea hatte einen Schädelbasisbruch und einen Schock, als sie eine Stunde nach ihrem Selbstmordversuch in die Poliklinik eingeliefert wurde, jedoch kein Gehirntrauma, wie der Dienst habende Internist befürchtet hatte, als er sie wie ein Häufchen Elend auf der Krankenbahre liegen sah.

      »Was ist passiert?«, fragte er den Mann, der hinter der Bahre herging.

      »Sie ist die Treppe runtergefallen.«

      »Einfach so?«

      »Sie musste aufs Klo und ist im Dunkeln gestolpert.«

      »Sind Sie der Vater?«

      »Ihr Vormund.«

      »Hat sie keine Eltern?«

      »Nein«, sagte der Mann. »Ihre Eltern sind tot.«

      »Sind Sie ihr einziger Erziehungsberechtigter?«

      Der Mann nickte. »Meine Frau ist vor drei Jahren gestorben.«

      »Hat sie Angst im Dunkeln?«, fragte der Internist.

      »Davon habe ich nie etwas gemerkt.«

      »Bis jetzt«, sagte der Internist und schaute dem Mann geradeheraus ins Gesicht.

      »Stimmt.«

      »Bleiben Sie hier?«

      »Nein. Ihr jüngerer Bruder wartet zu Hause.«

      Der Internist untersuchte Andrea noch sorgfältiger als seine übrigen Patienten. Kinder fallen nicht einfach so von der Treppe, gewiss nicht mitten in der Nacht. Er entdeckte Sperma in ihrem After. Am nächsten Morgen sprach er mit ihrem Hausarzt, der keinen Verdacht auf Missbrauch hegte, jedoch zugab, dass der Onkel ein merkwürdiger Sonderling war: im Grunde nicht der ideale Vormund für zwei Waisenkinder. Das fand auch das Jugendamt, aber Bertus Kuik war der einzige direkte Verwandte, der sich bereit erklärt hatte, die Kinder nach dem Tod ihrer Eltern aufzunehmen.

      Der Internist