Der Kopf von Ijsselmonde. Jacob Vis

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Название Der Kopf von Ijsselmonde
Автор произведения Jacob Vis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726412420



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sagte Mirjam. »Ich bleibe heute Nacht hier.« Sie lachte beim Anblick ihrer skeptischen Gesichter. »Roelof Schilder passt schon auf mich auf. Und ansonsten haben wir ja noch den Geist von van Beuningens Dogge.«

      »Hast du deine Dienstwaffe dabei?«, fragte van Arkel.

      »Natürlich.«

      »Warm genug angezogen?«

      »Mein Gott, ja. Ich weiß wirklich, was ich tue.«

      »Sie ist ein großes Mädchen, Ben«, sagte Vermeer.

      »Ronnie war ein großer Junge«, entgegnete van Arkel. »Polly war ein großer Hund. Gut, Brigadier van Roon bleibt auch hier. Ihr meldet euch um drei Uhr.«

      »Machen wir«, sagte Mirjam. »Ist im Bus noch Kaffee?«

      »Ich sorge dafür, dass ihr heute Abend noch etwas Warmes bekommt«, versprach van Arkel. Aus der Gruppe der Beamten ertönte unterdrücktes Gelächter. »Dafür sorgen die schon selbst«, sagte einer.

      »Ja«, fügte ein anderer hinzu. »Für so einen Nachtdienst würde ich mir glatt Urlaub nehmen.«

      »Morgen Nacht darfst du«, sagte Vermeer.

      »Kleiner Scherz«, erwiderte der Kollege versöhnlich.

      »Ist registriert«, sagte Vermeer. »Van Roon und Schilder heute Nacht. Morgen Nacht Koenders. Noch jemand, der morgen Nacht Urlaub will?« Niemand sagte etwas. »Pech, Koenders. Morgen stehst du alleine hier.«

      »Ich sagte doch, dass es ein Scherz war«, wehrte sich Koenders.

      »Brigadier van Roon mag keine Scherze im Angesicht des Todes«, sagte van Arkel. »Ich auch nicht. Gute Wache.«

      Mirjam saß auf der vorderen Sitzbank des Busses und zündete sich eine Zigarette an. Schilder setzte sich neben sie. Mirjam hielt ihm das Päckchen hin. Schilder schüttelte den Kopf. »Danke. Ich habe aufgehört.«

      »Vernünftig. Stört es dich, wenn ich rauche?«

      »Nein.« Schilder schaute sie von der Seite an. »Warum wolltest du heute Nacht Dienst tun? Glaubst du, der Mörder kommt zurück?«

      »Nein.«

      »Warum denn dann?«

      Mirjam antwortete nicht sofort. »Weil ich wissen will, wie es nachts im Wald ist«, sagte sie schließlich.

      »Mein Opa hat die Bäume hier gepflanzt«, sagte Schilder.

      »Dein Großvater?«, fragte Mirjam interessiert. »Erzähl.«

      »Es war kurz nach dem Krieg«, sagte Schilder. »Er war arbeitslos und damals galt man als Versager, wenn man keine Arbeit hatte.«

      »Heute auch.«

      »Wenn ich ihm glauben soll, ist das heute ein Paradies verglichen mit damals. Man drückte ihm zusammen mit ein paar Hundert anderen eine Schaufel in die Hand. Erst Gräben ausheben, dann Bäume pflanzen: sechzig pro Stunde. Hinter den Pflanzern lief ein Aufseher her, der an den Bäumchen zog, und wenn sie sich bewegten, mussten sie die ganze Reihe nochmal machen.«

      »Das waren noch Chefs.«

      »Fand mein Opa auch. Eines Tages haben sie den Aufseher bis zum Hals ins Moor eingegraben und ihn den ganzen Tag stecken lassen.«

      »Wie ist das ausgegangen?«

      »Er ist abgehauen und nie wiedergekommen. Der Kerl, den sie danach kriegten, war noch schlimmer. Versteckte sich hinter einem Baum und guckte, ob die Leute auch arbeiteten.«

      »Harte Zeiten«, sagte Mirjam. Sie drückte ihre Zigarette aus und verließ den Wagen. Sie kannte die Geschichte des Haafterveens, des Stadtwalds von Ijsselmonde. Der älteste Teil stammte aus den Zwanzigerjahren. Kurz nach dem Krieg war ein großes Waldstück hinzugekommen. Sämtliche arbeitslosen Männer in Ijsselmonde mussten im Winter 47 zum Arbeitseinsatz ins Haafterveen. Die vielen Monate, in denen sie unter erbärmlichen Bedingungen Bäume pflanzten, lösten bei den Zwangsarbeitern einen tiefen Hass gegen alles aus, was mit Innenpolitik zu tun hatte. 1948 stimmte halb Ijsselmonde für die Kommunisten, sodass sich zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte die vierundzwanzig Glaubensgemeinschaften zu einem Bund zusammenschlossen, um die verlorenen Schafe wieder in den Schoß der Kirche zurückzuholen. Später legte sich der Hass, doch die Aversion gegen das Haafterveen blieb. Förster Jan van Dijk stand wenig Geld zur Unterhaltung des Waldes zur Verfügung, doch die angenehme Kehrseite war, dass er sein Reich nur mit einigen wenigen Wanderern und Fahrradfahrern teilte und niemand sich in seine Angelegenheiten einmischte.

      »Wie hieß der zweite Aufseher?«, fragte Mirjam.

      »Kuik.«

      »Lebt er noch?«

      »Ja, er ist in einem Pflegeheim.«

      In der Nähe schrie eine Eule. Mirjam schaute dem Schatten nach, der geräuschlos vorbeiflog. »Was war das?«

      »Eine Eule«, antwortete Schilder erstaunt. »Du weiß doch, wie eine Eule aussieht?«

      »Nicht nachts«, erwiderte Mirjam.

      Schilder lächelte. »Nachts sieht alles anders aus«, gab er zu. Er betrachtete die reglosen Gestalten der Bäume. »Wie Riesen. Man kann sich vorstellen, dass die Leute sich früher im Wald gefürchtet haben. Vor allem nachts.«

      »Ich bin froh, dass wir zu zweit sind«, sagte Mirjam.

      »Ich auch«, sagte Schilder. »Glaubst du, er wurde hier ermordet?«

      »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Auch deshalb wollte ich die Nacht hier verbringen.«

      »Versuchst du, dich in den Mörder hineinzuversetzen?«

      »Bei Mord fragt man sich immer nach dem Motiv und manchmal funktioniert das besser am Tatort. Der Kopf dieses Jungen wurde vor zwei Nächten hier in diesem Loch vergraben. Dort, nur ein paar Meter von uns entfernt. Was ist da geschehen?«

      »Bei Antillianern weiß man nie.«

      »Was hat sein Tod damit zu tun, dass er Antillianer war?«

      »Alles«, antwortete Schilder heftig. »Sie dealen, ihre Frauen prostituieren sich, ihre Kinder klauen, und wenn sich jemand beschwert, kriegt er ein paar aufs Maul.«

      »Ijsselmonder Differenzierungen«, meinte Mirjam sarkastisch. »Das hätte ich nicht von dir gedacht, Roelof.«

      »Es ist doch so«, sagte Schilder. »Meine Eltern leben in der Nieuwstraat, und jedes Mal wenn ich sie besuche, bin ich froh, dass ich nicht mehr dort wohne.«

      »Wohnen deine Eltern auch nicht mehr gern dort?«

      »Sie haben ihr Häuschen vor zehn Jahren gekauft. Was sollen sie machen? Wegen dieser Schwarzen in der Straße werden sie es nie wieder los. Meine Mutter will auch gar nicht mehr weg. Sie hat ihr ganzes Leben dort verbracht.«

      »Ein Grund mehr, umzuziehen«, entgegnete Mirjam. »So schlimm kann es doch nicht sein. Der Streit zwischen den Antillianern und der Nachbarschaft wurde doch beigelegt?«

      »Vergiss es! Der schlimmste Krach ist vorbei, aber ansonsten läuft alles weiter wie gewohnt.«

      »Die Nachbarn wollen sie also loswerden.«

      »Ja.«

      »Und Ronnie van Splunter? Was war das für ein Typ?«

      »Weiß ich nicht«, antwortete Schilder widerstrebend. »Ich kannte ihn nicht. Wir kennen im Grunde keinen von denen so richtig. Die bleiben lieber unter sich.«

      »Wir werden sie auf seinen Tod reagieren, was meinst du?«

      »Mit einem verdammten Aufstand«, antwortete Schilder grimmig.

      »Wie, glaubst du, fühlen sich seine Eltern?«

      »Das hat hiermit doch einen Dreck zu tun, Brigadier! Natürlich ist es schlimm für die Eltern! Stell dir mal vor, dein Sohn würde so gefunden. Aber trotzdem heißt das nicht,