Название | Eiszeiten |
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Автор произведения | Ingo Steuer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906212630 |
Nils und ich verbrachten fast unsere gesamte Eislaufjugend zusammen. In unserer Gruppe wechselte zwar die Anzahl der Mädchen, mal waren es zwei, mal drei. Wir beide aber blieben die männlichen jungen Hoffnungsträger. Mal Rabauken, mal freundliche Schlingel, immer etwas im Hinterstübchen ausheckend. Keinem Trainer fiel es leicht, uns zwei Jungs zu bändigen. Wir mussten dem streng durchgeplanten Alltag unsere Frechheiten entgegensetzen, um ihn zu ertragen. Früh 8 Uhr begann das Pflichttraining in der Eishalle. Nils und ich trafen uns eine Stunde früher im davor gelegenen Wald. Eine kleine Höhle war unser Paradies. Dort schenkten wir uns ein Stückchen ganz normale Kindheit und übernahmen die Hauptrollen unserer Geschichten. Der eine gab den Räuberhauptmann, der andere den wilden Jäger; unser Wäldchen wurde zum Wald, in dem Robin Hood zu Hause war. Für eine kurze Zeit versanken wir ins Spielen wie alle Jungen auf der Welt in diesem Alter.
Dann begannen jeden Morgen zwei Stunden Pflichttraining. Ödes, sterbenslangweiliges Üben. Zwei Stunden lang liefen wir nur Schlingen und Kreise, absolvierten „Dreier“ und lernten, uns abzustoßen ohne nachzustoßen. Über diese monotonen Wiederholungen erlernten wir das ABC des Eiskunstlaufens. Das sogenannte Kantenlaufen, das heute nicht mehr intensiv geübt wird und damit keine abrufbare Fertigkeit der Eiskunstläufer mehr ist. Ich als Trainer bedauere das sehr. Der Wechsel von Einwärtskante auf Auswärtskante und umgekehrt muss ja beherrscht werden, wenn man als Läufer Schritte auf dem Eis macht.
Jüngere Sportler, wie beispielsweise Aljona, haben diese Schule nicht durchlaufen und kennen viele Begriffe wie „Gegenwende“ und „Gegendreier“ nicht. In meiner Jugend gehörte das zum Einmaleins des Eiskunstlaufens. Maximal zogen damals sechs Sportler ihre Kreise auf dem Eis, jeder an seinem Ort. Mehr konnten in einer solchen Übungseinheit nicht zusammen trainieren. Damals war das kein Problem, denn das Eis „kostete“ nichts; heute schlägt der Zwang zur Effizienz zu. Für Trainer sind solche Übungsstunden einfach unrentabel.
Wir hatten in der DDR immer gute Pflichtläufer, Anett Pötzsch war eine von ihnen. Von ihr konnten wir uns viel abschauen, doch für uns war es furchtbar stumpfsinnig! Eine Stunde lang übten wir die Figur „Paragraph“ oder den großen Kreis-Auswärtsdreier. Danach schlängelten wir die Schlinge, heute Rückwärts-Einwärtsschlinge, morgen die Schlangenbogenschlinge. Oh je, wenn ich daran zurückdenke! Und das jeden Tag und für ein paar Stunden, das war schrecklich!
Natürlich haben Nils und ich uns zu diesem Pflichttraining etwas ausgedacht.
Ich weiß nicht, ob es die Pflichtschiene heute überhaupt noch gibt, diese besondere Kufe am Schlittschuh, die nur eine Zacke nach oben, zum Abstoßen besaß. Zum Bremsen war keine Zacke da. Im Gegensatz zur Kürschiene, die Zacken nach unten besaß, um vor dem Springen bremsen zu können. Wir besaßen also verschiedene Trainingsschuhe, Kürschuh und Pflichtschuh. Mit jedem kompletten Paar ließ es sich gut laufen – doch wie wäre es eigentlich, wenn wir mal links den Pflichtschuh und rechts den Kürschuh anlegten? Müsste doch lustig werden, dachten wir, weil man auf diese Art überhaupt nicht laufen, sondern maximal stolpern könnte. Ja, das müsste wirklich sehr, sehr lustig werden! Gedacht, getan, mit verschiedenen Schuhen zum Pflichttraining aufs Eis. Nils wandte sich als Erster an unseren Trainer Peter Meyer. Er käme nicht zurecht, hätte wohl verschiedene Schuhe an! – Nils durfte zum Schuhwechsel in die Kabine. Als ich einige Minuten später mit der gleichen klugen Bemerkung kam, hatte Meyer Lunte gerochen und bemerkte nur, dass ich dieses bedauerliche Missgeschick, diesen unglaublichen Zufall, der auch mir passiert sei, nun leider ausbaden müsse. Na ja, da war ich wieder einmal zweiter Sieger und stolperte bis zum Trainingsende wie ein betrunkener kleiner Bär übers Eis.
Es gab noch eine weitere Möglichkeit, die Pflichtübungen ein wenig zu reduzieren. Bevor wir begannen, unsere Kreise und Schlingen zu laufen, ritzten wir die Übungselemente selbst ins Eis. Mittels eines riesigen Holzzirkels – heute wird dafür ein Zirkel aus Metall genutzt – zeichneten wir sie uns auf die spiegelglatte Fläche.
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Später, bei der Pflicht, mussten wir ohne diese Vorgaben dreimal so genau wie möglich die geforderten Figuren nachlaufen.
So manchen Eiskunstläufer machte die Abschaffung der Pflicht bei den Wettkämpfen überglücklich. Für Kati Witt beispielsweise war es wunderbar! Ihr lag die Kür viel mehr. Manche, unter anderem Jan Hoffmann, beherrschten sowohl Kür als auch Pflicht sehr gut.
So nahmen wir das Vorzeichnen mit dem Zirkel sehr genau! Wir mussten schließlich Zeit schinden, fuhren gleich dreimal mit der Zirkelspitze im Kreis herum und ließen uns dabei so viel Zeit wie möglich – bis es den Trainern zu weit ging. Manchmal bestritten Nils und ich nur zu zweit eine solche Einheit und dann ließen wir unter großem Gejohle die Hölzer übers Eis schlittern, bis sie an die gegenüberliegende Bande krachten. Unsere Trainer gönnten uns die Abwechslung; nur wenn es gar zu schlimm wurde, zogen sie uns an den Hörnern.
Dazwischen bestritten wir unser altersgebundenes Aufstiegslaufen in regelmäßigen Wettkämpfen. Wir liefen unsere Pflichtfiguren, um danach die Kür vor der Kommission zu laufen. Ich erinnere mich, dass ich einmal in der Dresdner Eishalle die Norm meiner Altersklasse erfüllen musste. Meine Eltern kamen später aus Chemnitz hinterher und wurden mit der Frage empfangen, wo denn ihr Sohn stecken würde.
Völlig aufgelöst suchte uns eine Schar Erwachsener. Sie fanden uns in der neben der Halle gelegenen Kiesgrube, glücklich spielend, in völlig verschmierten Küranzügen. Jeder weitere Leistungsbeweis hatte sich an diesem Nachmittag für uns erledigt. Generell gelang es mir immer erst recht spät, die Norm zu erfüllen, da mir die Pflichtaufgaben Probleme bereiteten. Entweder schob ich mich mehr ab, als erlaubt war, oder ich lief die Kreise ungenau, mit meinen Gedanken sonst wo, nur nicht bei den monotonen Übungen. Trotzdem oder gerade deshalb wurde ich mehrere Male Spartakiade-Sieger. Man kann die Spartakiade mit einer Mini-Olympiade im eigenen Land vergleichen. Diese Siege flogen mir mehr oder weniger zu, da ich zu den Älteren meiner Gruppe gehörte, während meine Altersgenossen im Gegensatz zu mir die höhere Normstufe schon erreicht hatten und während der Spartakiade auch mit strengeren Maßstäben gemessen wurden.
Manchmal, wenn wir zum Pflichttraining mussten, stiegen wir absichtlich in den falschen Bus, der uns von der Schule – natürlich ganz aus Versehen – nicht in die Eishalle, sondern in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Jede Minute, die wir uns drücken konnten, war uns ein Gewinn. Auch der Zigarre rauchenden, streng polternden Pförtnerin spielten wir manchen Streich, spuckten einmal sogar durch ihr Pförtnerfensterchen hinein – um am nächsten Tag einen ordentlichen Anpfiff zu erhalten.
Später kamen weniger lustige Geschichten dazu. Trinkfest starteten wir in Trainingslagern durch – was auch immer wir uns da beweisen mussten. Einmal torkelten wir vom Flaschendrehen direkt in einen Swimmingpool hinein; was konnten wir schließlich dafür, dass die Schnapsflasche ausgerechnet immer wieder vor uns zum Stehen kam?
In meiner Erinnerung leuchten diese „schweren Vergehen“ aus dem durchgeplanten Trainingsalltag heraus. Es könnte diese Zeit gewesen sein, in der ich etwas vorsichtiger und schweigsamer wurde. Wie erkläre ich es am besten? Ich war nicht wirklich geschmeidig, tappte in jeden Fettnapf, der zu finden war. Manchen verfehle ich auch heute nicht. Vielleicht isolierte ich mich, von mir selbst unbemerkt, etwas mehr als vorher. Ich zog mich bisweilen gekränkt zurück und schaute von drinnen trotzig auf draußen. Es kann gut sein, dass mich das prägte und ich diese Schwarzer-Peter-Position ein Stück ins Erwachsenenleben mitnahm.
Auf jeden Fall blieben jene heiklen Aktionen nicht unbemerkt, doch man ließ uns gewähren und hatte aus der Entfernung – vielleicht auch ganz aus der Nähe – ein wachsames Auge auf uns. Wir „Goldkufen“ bewegten uns in einem großen Freiraum; was wir auch anstellten, wir liefen an der langen Leine.
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