Название | Eiszeiten |
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Автор произведения | Ingo Steuer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906212630 |
Mein Vater war streng, aber verlässlich. Auch aus diesem Grund entstand in mir mit den Jahren eine innere Stabilität, die sich bis heute erhalten hat, gefestigt vom familiären Umgang und mütterlicher und väterlicher Erziehung.
An den Wochenenden und in den Ferien zogen wir vier manchmal umher – ich erinnere mich an schöne gemeinsame Unternehmungen. Wir wanderten durchs Erzgebirgsvorland und kraxelten die Berge hoch. Wir picknickten hart gekochte Eier, Beefsteaks und Butterschnitten, Äpfel und Pflaumen aus dem elterlichen Garten. Wir lechzten alle nach Bewegung und kämpften in manchen Wettbewerben um die innerfamiliären vordersten vier Plätze. Im Grunde genommen wuchsen wir in solchen Zeiten zusammen wie Eltern und Kinder üblicherweise in gemeinsamen Stunden. Wir durchstreiften die Gebirgslandschaft vor unserer Haustür und bezogen dort vertrautes Quartier, Winter für Winter. In so manchen Situationen meines Lebens hat mir mein energievolles Durchhalten mächtig geholfen, so auch ganz früh, in eben jener Zeit, als unsere Familie gemeinsam in den Urlaub fuhr.
In einem unserer Winterurlaube hatten wir wieder einmal die Wanderfahne gehisst und streiften durch die verschneiten erzgebirgischen Wälder. Da wir häufig am gleichen Ort „urlaubten“, entstand zwischen dem Sohn der Herbergsfamilie und mir eine Ferienfreundschaft, gefestigt durch kleine Heimlichkeiten und Ausflüge zu zweit. Auf einem dieser Streifzüge kamen wir vom Weg ab und gelangten in unwegsames Gelände. Dann, auf einmal, ein schnee- und eisbedeckter Felsüberhang, der sich schnell als mein einziger Rückweg erwies. Nur die ausgestreckte Hand meines Freundes konnte mir helfen. Ich spannte mich wie eine Feder, zitterte vor Aufregung und mein Wille schüttelte mich förmlich. Dann nahm ich Augenmaß, sprang, erreichte seine Hand und kam mit meiner, seiner und wessen Hilfe auch immer, über den Hang.
Meine Eltern erfahren von dieser kleinen Episode erst in diesem Buch, auf dieser Seite. Ich bitte nachträglich um Verzeihung.
In den Sommerferien zuckelten wir, damals noch mit unserer „Rennpappe“, an die Ostsee. Aufgeregt knatterten wir zehn Stunden und fünfhundert Kilometer lang mit unserem Trabbi an die Küste, Mutter und Vater in Sorge, ob das Gefährt die „enorme Distanz“ durchhielte, wir Jungs in Vorfreude auf Wasser und Sand. Ich erinnere mich mit großer Freude an unseren immer gleichen Campingplatz. Ich vermisste die große weite Welt damals nicht, weil ich die kleine Welt so sehr mochte. Unsere Familie schuf sich so ein Polster gemeinsamer Erlebnisse und Zuneigung, davon zehrten wir vier.
Mein engster Freund wohnte in jenen Jahren im gleichen Haus zur Miete: Karsten Augustin. Zwei Jahre besuchten wir die gleiche Schule und drückten die gleiche Schulbank. Kam ich nach dem Training nach Hause, flog manchmal der Ranzen in die Ecke und wir stürmten in den Hof. Wenn auch nur für kurze Zeit – der kleine Rasen gehörte uns. „Fußball“ hieß unsere gemeinsame Leidenschaft. Wir dribbelten und köpften, tricksten und schossen uns abwechselnd die Pille ins gleiche Tor. Mit Karsten durchlebte ich diese frühen Jahre mit all ihren Eigenheiten. Wir stibitzten uns gegenseitig die Kohlen aus dem Keller und halfen uns, wann immer es nötig war. Unsere Geheimnisse waren beim anderen gut aufgehoben. Ich erinnere mich, dass wir einmal zur gleichen Zeit aus der Schule kamen. Ich hatte die Arme vollbepackt mit Beuteln, Schulzeug und Ähnlichem. So stiegen wir im Hausflur die Treppe hoch und es zeichnete sich deutlich ab, dass ich kaum meinen Wohnungsschlüssel würde ergreifen können. Unsere Wohnungstüren zierte ein Briefkastenschlitz. Damals kam der Briefträger ja in jedes Haus hinein, ohne Sicherheitsschloss oder Generalschlüssel. Natürlich standen die Haustüren offen, so wie sich Freunde und Bekannte unverhofft besuchten, ohne sich telefonisch anzumelden – von 20 Familien besaß maximal eine einen Telefonanschluss. Vor meiner Wohnungstür angekommen, nahm mein Freund einen großen Holzlöffel aus einem schmalen Wandschrank, wie er eigentlich im Waschhaus gebraucht wurde und der einem besonderen Zweck gewidmet war: unser „Reserveschlüssel“. Ohne ihn wären wir oft verzweifelt, weil mein Bruder nicht selten seinen Schlüssel verlor oder ihn liegen ließ, wo er niemandem nützlich sein konnte. Karsten steckte den „Holzschlüssel“, als ob es nicht anders sein könnte, durch unseren Briefschlitz, drückte mit dem langen Stiel die Klinke an der Innenseite der Wohnungstür herunter und schwupps stand ich in unserem Flur.
Damals wusste ich alles von ihm, heute nichts mehr. Nachdem wir aus der Gegend wegzogen, verloren wir uns aus den Augen. In meiner Erinnerung lebten wir alle sehr nah beieinander und kannten uns gut.
Meine Eltern meinen, ich sei ein lebendiges, pflegeleichtes Kind gewesen, aber manchmal auch recht schwierig. Schwierig – wie das klingt – hat so einen merkwürdigen Nachklang, als ob ich nicht ganz richtig im Kopf gewesen wäre. Ein Dickschädel war ich, das mag stimmen. Wovon ich überzeugt war, dafür kämpfte ich mit allen Mitteln. Fühlte ich mich zum Beispiel im Training falsch behandelt, hackte ich manchmal mit den Kufen ins Eis oder trat gegen die Bande. Letztendlich läuft es doch darauf hinaus, ob man die Meinung der Mehrheit vertritt oder mit seinem Verständnis der Sachlage unpopulär ist. Ich hatte einfach schon als kleiner Junge meinen eigenen Kopf und mein eigenes Maß von dem, was richtig oder falsch war. Ach, das konnte schon ermüdend sein für andere. Wie der Kleinstadthauptmann verteidigte ich mein Revier, meine Gedanken, meine Ansprüche. Mal fauchend und Feuer spuckend, mal diskutierend, bis allen erschöpft und genervt die Spucke ausging.
Einen Teil meiner kostbaren Freizeit verbrachte ich ganz allein an meines Vaters Seite. Ich meine damit den privaten Nachhilfeunterricht beim „Hauslehrer“. Ich habe das gehasst, wie jedes Kind. Mit dem Vater am Stubentisch sitzen und Schulaufgaben lösen! Mein naturwissenschaftliches Verständnis existierte nur rudimentär und ich besaß schlichtweg kein Interesse an Mathe und Physik. Im Nachhinein rettete mich die Tatsache, dass mein Vater Mathe und Physik lehrte. Er begeisterte sich für klare mathematische Wege und schwärmte von den wunderbaren Möglichkeiten der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich sehe ihn heute noch vor mir, wie er freudig Flächeninhalte und Volumen berechnet. Leider schrammte diese Leidenschaft an mir vorüber. Doch ich hatte Glück. Schnell und einfach erklärte er mir komplizierte Sachverhalte. Was ist wichtig? Worauf muss ich weniger achten? So sparte ich viele kostbare Stunden, in denen ich mir später nur mühsam Integralrechnung und optisches Grundwissen angeeignet hätte. Das nervte damals natürlich, half mir aber enorm.
Damit, dass Sport mein Lebensinhalt wurde, bin ich in unserer Familie schon etwas aus der Art geschlagen. Sport getrieben haben wir zwar alle, mein Vater zum Beispiel liebte früher Fußball über alles und heute steht er begeistert am Feldrand oder sitzt als alter Hase bei jeder Bundesligaübertragung vor dem Fernseher. Fußball würde ich übrigens auch gern spielen, nicht nur mit Robin Szolkowy zur Erwärmung und zum Spaß. Wer weiß, mit meiner ambitionierten Haltung hätte ich bestimmt einen guten Stürmer abgegeben. Weltmeister wäre ich mit Sicherheit nicht geworden. So bleibt es erst einmal dabei, dass ich ab und zu kicke und, wann es immer es geht, im Stadion sitze und den Chemnitzer FC anfeuere. Beneidenswert, dass mein Bruder übers Feld flitzen kann. Weil es aber für mich ein großes Vergnügen wäre, mehr Fußballspielen zu können, steht fest, dass in meinem Leben nach dem Eiskunstlauf das runde Leder als feste Größe dazugehören wird.
Mit der gleichen Leidenschaft, mit der ich dem Eislaufen fröne, arbeitet mein Bruder übrigens in seiner Kanzlei als Anwalt. Wir gehen beide mit großer Hingabe unserer Arbeit nach, darin ähneln wir uns.
Mein Vater und mein Bruder sind die beiden Denker in unserer Familie. Bei mir liegt die Energie, mütterlicherseits vererbt, in meinem großen Bewegungsdrang. Noch als sie in den letzten Monaten mit mir schwanger war, kletterte sie auf Apfelbäume!
In meiner Kindheit brachten unsere Nachbarn mein quecksilbriges Wesen damit in unmittelbaren Zusammenhang. Ich bin einfach kein Bücherwurm, habe weder buchhalterische noch andere herausragende intellektuelle Begabungen. Nein, ich will damit an dieser Stelle nicht kokettieren. Ich bin ein einfacher Mensch mit vielseitigem sportlichem Talent. Nicht der Denker, sondern der Handelnde. Ich muss mich zwingend bewegen. Zwar steht unter meinem Abiturzeugnis ein „Sehr gut“, doch das war reine Übungssache, die mich hin und wieder aus der Haut fahren ließ oder nervte. Sobald ich begriff, dass mit Wiederholungen „etwas zu reißen“ war, erledigte sich das allerdings von selbst.
Gelernt habe ich nur, was wirklich nötig war. Ich war faul in der Schule, das trifft es durchaus. Die meisten Stunden meines Lebens gehörten seit frühester Kindheit dem Eiskunstlaufen.
Für