Название | Eiszeiten |
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Автор произведения | Ingo Steuer |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906212630 |
2. Kapitel Manchmal ist weniger mehr und das Einfache bekommt große Bedeutung
Familienbande
Ich denke gern an meine Kindheit zurück. „Wie bitte“, sagen Sie jetzt vielleicht, „wo doch bei so viel Training, Schmerz und Disziplin kaum Zeit blieb für Kinderspiele?“
Ich wuchs in einem intakten Zuhause auf und fühlte mich aufgehoben. Unser Leben verlief planvoll und gut organisiert, bisweilen recht straff. Aber ich konnte mich in diesem Leben festhalten; es besaß Strukturen, die nun meinen eigenen zugrunde liegen.
Am Nachmittag um 15 Uhr brachten mich Mutter, Vater, Großmutter oder Großvater zum Training und holten mich zwei Stunden später wieder ab. Meine Eltern organisierten unsere Tage, bis wir Kinder das selbst vermochten. Die beiden lernten sich schon als Jugendliche kennen; bezeichnenderweise auf einem Sportplatz. Dort sah mein Vater die künftige Leichtathletin die Bahnen entlangsprinten. Vier Jahre später trug die junge Frau den Nachnamen meines Vaters und zwei kleine Rabauken stolperten durch die knapp 70 Quadratmeter große Wohnung der Steuers. Mein Vater „steuerte“ unser Schiff umsichtig und mit Bedacht. Er legte den Kurs fest und stand gemeinsam mit unserer spontanen Mutter auf der Kommandobrücke. Er schaute voraus und sie überraschte. Wie es sich für einen guten Mix gehört, trage ich von beidem etwas in mir.
Von meiner Mutter stammen die Liebe zum Sport und die Disziplin bis zur Selbstverleugnung. In einer Zeit, in der das sehr unpopulär war, kam meine Mutter in Plauen als Tochter eines amerikanischen Soldaten zur Welt – 1946, gleich nach Kriegsende. Sie kannte seinen Namen nicht und lernte ihn nie kennen. Dieses Geheimnis nahm meine Großmutter mit ins Grab. Streng und mit Härte erzog sie ihr Kind. Und so lernte meine Mutter viel auszuhalten, um überhaupt existieren zu können. Normal war das nicht. Auch ich bin geübt darin, mir zu sagen: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“. Den Gegenpol zu dieser Erziehung fand meine Mutter im Sport. Sie begann als Geräteturnerin und stieg später in die Leichtathletik ein. Als Läuferin über 200 und 400 Meter heimste sie eine Menge Medaillen ein. Leider fiel ihre sportliche Laufbahn einem ignorierten, vereiterten Blinddarm zum Opfer.
Ich glaube, ich bin so ehrgeizig, wie sie es war. Mein planerisches Talent wurzelt in dem meines Vaters, und trotz seiner konsequenten Erziehung erlebte ich ihn liebevoll und uns zugewandt. Mein ein Jahr älterer Bruder und ich, wir verhalten uns tatsächlich brüderlich. Als erwachsene Männer treiben wir zwar gelegentlich noch Schabernack miteinander, aber wir sind einander die besten Berater. Natürlich prägte unser kindliches Zusammenleben nicht ausschließlich Liebe und Güte, wie man sich denken kann. Unser geringer Altersunterschied sorgte dafür, dass wir, wie zwei Kater im Hof, ständig miteinander stritten. Unsere arme Mutter! Permanent rauften wir um den besten Platz im Auto und die tägliche Führungsrolle. Der Chefposten war niemals klar vergeben, sondern immer heiß umkämpft.
Jeden Morgen sah und hörte man uns schon von Weitem vor dem Kindergarten zetern. Wir rivalisierten um den Reitersitz auf einem kleinen bronzenen Esel – der zweite Sieger musste mit dem seitlich angebrachten Korb vorliebnehmen. Wir zwei Grautiere aus Fleisch und Blut zelebrierten dieses Ritual jeden Morgen neu!
Auch aus diesem Grund fanden unsere Eltern, die selbst sehr sportlich waren, schnell heraus, dass die kleinen Kerle beschäftigt werden mussten. Vier- und fünfjährig saßen wir eines Abends beim Abendbrot und lauschten den Beschlüssen unserer Eltern. Für jeden von uns hatten sie einen Plan.
Für meinen Bruder sollte es Fechten und für mich als den „Filigraneren“ von uns beiden Eiskunstlaufen sein, denn ich war wendig und biegsam genau wie meine Mutter.
Mein Bruder wechselte auf den Fußballplatz ins Tor, später in die Gilde der Schiedsrichter. Noch heute pfeift er an manchem Wochenende irgendwo in Deutschland verschiedene Turniere.
Indem wir in sportliche Gefilde abtauchten, reduzierten sich unsere heimischen „Rauf“-Zeiten beträchtlich. Einmal jährlich lebten wir in absolutem Waffenstillstand.
Vom 1. bis zum 19. November waren wir beide gleichaltrig. Mein Bruder hatte festgelegt, dass für diesen Zeitraum mir die Führungsrolle gehörte. Neunzehn Tage lang im Jahr hatte ich das Sagen. In der restlichen Zeit stritten wir ununterbrochen ohne Regeln um die Macht. Mein kluger Bruder kam dabei immer ein wenig besser weg als ich; manche Suppe musste ich auslöffeln, ohne die Brocken reingeworfen zu haben. Einmal fuhren wir mit den Rädern in den Wald und begegneten einer Gruppe Jungs, die meinem Bruder nicht gut gesonnen war. Ich riskierte die dicke Lippe, sie sollten ihn gefälligst in Ruhe lassen. Mein Bruder animierte mich, in die Pedale zu treten und das Weite zu suchen, aber meine dünnen Beine schafften nicht, was ihm gelang. Sieben, acht Jungs kreisten mich ein und ich musste für meine große Klappe geradestehen. Ich bekam mächtig eine verpasst. In den Allerwertesten getreten und die Nase blutig geschlagen, kam ich nach Hause. Im Garten erzählte ich unseren Eltern nur sehr vage von unserem Erlebnis. Ich, der „begossene Pudel“, schüttelte mich kurz – ich hätte ja meinen Mund auch halten können – und weiter ging‘s. Später, als ich auf die Kinder- und Jugendsportschule ging und bald kaum noch gemeinsame Zeit mit meinem Bruder haben sollte, waren wir beide hin und wieder in wirklich gutem Einverständnis.
Ich glaube, wir lebten wie eine gute ostdeutsche Durchschnittsfamilie. Die Eltern arbeiteten beide, wir Kinder gingen früh, ziemlich früh, mit ihnen aus dem Haus. Manchmal saßen wir am Nachmittag bei einem Stück Pflaumenkuchen mit Oma, Opa oder unserer Mutter am Tisch. Unsere Großeltern teilten unser Leben; der gut organisierte Alltag forderte ihre Energien schlichtweg ein. Gepriesen seien die gemeinsam verbrachten Zeiten! Irgendwie echt italienisch. Unseren Hof auf der Ammonstraße bevölkerte in der Zeit bis zum Abendbrot eine große Kinderschar. Dem elektronischen Standard der damaligen Zeit sei Dank spielten sie „Räuber und Gendarm“, „Doppeltes E“ oder „Verstecker“, bis es dunkelte. Wir gehörten sehr selten dazu, denn viel Zeit blieb uns dafür nicht; unser Training bestimmte den Rhythmus des Tages.
Vorerst aber versuchte ich, in der Kindergartengruppe meine Führungsposition zu stärken. Ich erinnere mich, dass sich in meinen sehr frühen Jahren, als ich den Kindergarten unsicher machte, Folgendes zutrug: Es war wohl um die Schlafenszeit herum und mein Mitteilungsbedürfnis ließ sich nicht beruhigen. Auch nach mehrmaligem Auffordern krakeelte ich unbesorgt weiter. Da wurde ich zur Strafe auf einen Schrank gesetzt; zuvor stülpte mir eine besonders witzige Kindergärtnerin ein Netz, das den „Maulkorb“ darstellen sollte, über den Kopf. Ich dachte aber gar nicht daran zu schweigen, sondern verlegte mich nun aufs Bellen – wusste ich doch, was sich für einen guten Hund gehört. Unter allgemeinem Lachen holte man mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
Diese Episode verstehe ich heute, während ich zurückschaue, als sehr bezeichnend für mein Verhalten in Krisensituationen. Jene ausgefallene Strafe hätte mich als Fünfjährigen ja auch zum Weinen bringen oder in kindliche Verzweiflung stürzen können. Stattdessen passte ich mein Verhalten der Situation an und machte das Beste daraus, ohne Ängste vor dem Kindergartenbesuch zu entwickeln. Einmal holte mich mein Vater vom Kindergarten ab und fragte eher beiläufig bei den Erzieherinnen nach, wie ich Rübchen mich geführt hätte. Leider gab es einiges zu berichten. Mein Vater lenkte daraufhin meinen Blick nach draußen und meinte nur, dass ich nun – bedauerlicherweise – nicht mit dem nagelneuen Wartburg nach Hause fahren könne, sondern laufen müsse. Das war hart und schlug mir Fünfjährigem mächtig auf