Eiszeiten. Ingo Steuer

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Название Eiszeiten
Автор произведения Ingo Steuer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783906212630



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Chemnitz Mitte, habe ich fast 40 Jahre lang trainiert. Hinter dem kleinen Wäldchen führt ein Weg entlang zur Eissporthalle. Hier habe ich mein blaues Rad der Marke Diamant an die Hallenwand gelehnt und diese nach dem Training mit der Stirn berührt. Mich abgekühlt, obwohl ich aus der Kälte kam. Viel hat sich nicht verändert. Gleich nach der Wende wurde das Dach der Halle erneuert. Sobald genügend Geld zusammengekommen war, erhielt die Halle neue Heizungen und Eisleitungen. Ansonsten blieb beinahe alles beim Alten. Die Umkleideräume, in denen es immer noch riecht wie in allen Umkleiden der Welt. Und da ist diese ganz spezielle Kabine, die einst Katarina Witt gehörte und in der dann Mandy Wötzel und ich unser Domizil hatten. Für einige Jahre war es ein kleiner Klassenraum, den vor drei Jahren Aljona Savchenko bezog; wer weiß, wen er in den kommenden Jahren noch beherbergen wird.

      Von den neu gebauten Tribünen überblickt man wie eh und je die Eisfläche. Nichts entzieht sich deinem Blick. Die Tafel, an die Termine, Zeitungsartikel und wichtige Informationen zum Trainingsalltag gepinnt werden, hängt immer noch.

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      Die Halle von heute unterscheidet sich kaum von ihrer früheren Beschaffenheit. Ich erinnere mich noch ganz genau, denn die Trainingshalle wurde mein zweites Zuhause.

      In der Gruppe der kleinen Eisknirpse startete ich in die Welt des Eiskunstlaufs. Ich lief meine Runden vorwärts und lernte übersetzen, vorwärts und rückwärts. Vieles eigneten wir uns spielerisch an, bildeten zwei Riegen und flitzten um die Wette von einer Bande zur anderen. Wir probierten die ersten Pirouetten und versuchten, bei jeder Umdrehung einen ganz bestimmten Punkt zu fixieren. Wem es schwerfällt, beim Laufen verschiedene Bewegungen miteinander zu koordinieren, gewinnt beim Eiskunstlaufen keinen Blumentopf. Also lagen wir anfangs, zack, ständig auf unseren kleinen Hintern. Wir schwebten in der Waage übers Eis, solange wir konnten, und probten „Kanone“ und „Storch“. Wochenlang übten wir, auf einem Bein zu laufen. Wir zogen erste Schlingen, wagten die ersten, klitzekleinen Sprünge. Dann liefen wir nach Musik und sehr viel später präsentierten wir uns in ersten Wettkämpfen.

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      Körperlich brachte ich gute Voraussetzungen mit: Meine Arm- und Beinlängen befanden sich in der richtigen Proportion. Ich war nicht zu groß, nicht zu klein, weder zu schwer noch zu leicht. Meine Muskeln spielten gut mit und wuchsen, wie es sich gehörte. Ich war ein wendiger und athletischer Bursche mit der richtigen Portion Robustheit. So nahmen die Dinge ihren Lauf. Bald standen erste Leistungsvergleiche an. Normen mussten erfüllt werden, um weiter trainieren zu können. Im Eiskunstlauf heißt es ja leider nur Hop oder Top; ich schaffte es meist erst im letzten Anlauf, die „Aufstiegsläufe“ gerade noch zu bestehen. Andere nicht.

      Es dauerte zwei Jahre und ein halbes dazu, dann blieben von der ersten Eislaufgruppe ganze vier Kinder übrig. Nur zwei Mädchen und zwei Jungen konnten mit den gestiegenen Anforderungen mithalten, die anderen schieden aus. Die Prüfungen hatten es von Jahr zu Jahr mehr in sich. Anfangs mussten wir vorgezeichneten Runden und Schlaufen folgen, später kamen komplizierte Figuren dazu und verschiedene Sprünge: erst einfacher Lutz, dann doppelter; einfacher Toeloop und später der ganze Spaß doppelt gesprungen.

      Nur dank der Eltern und Großeltern war das Training in jenen ersten Jahren überhaupt möglich. Schließlich brachten sie uns zum Training und holten uns auch wieder ab – und nicht alle besaßen ein Auto! Sie schnürten uns die Schlittschuhe zu und halfen uns in unsere Trainingsklamotten hinein.

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      Und genau wie beim Fußball stand während jedes Trainings eine ganze Horde Trainer hinter der Bande. Alle Mütter und Väter nahmen zwangsweise enormen Anteil an unserem jungen Sportlerleben; natürlich machten sie sich ihr Bild und fachsimpelten. Sie beobachteten ihre Sprösslinge und verglichen deren Chancen mit denen der anderen. Bald trainierten wir Knirpse ja immer ernsthafter und auch für unsere Eltern spielte nicht mehr nur die Logistik eine große Rolle.

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      Unsere Mütter schneiderten uns die Kostüme, als es mit den Leistungsvergleichen losging und die ersten größeren Wettbewerbe bevorstanden. Aus dunkelblauem Silastik entstand für mich ein toller Anzug. Dann schwebten wir kleinen Wichte scharf beäugt übers Eis. Ich habe den Eindruck, dass das geplante Training, mit Athletiktests, Ballett- und Eistests damals viel umfangreicher war als heute. Natürlich auch weil der Sport vor 30, 35 Jahren im Osten Deutschlands eine ganz andere Bedeutung besaß. Mit ihm konnte man dem grauen Alltag entfliehen. Hier sahen wir die Welt- und Europameister im Training hautnah auf dem Eis und wurden immer wieder angestachelt, uns zu recken und zu strecken. Wir hatten immer unsere kleinen Ziele und mussten bestimmte Normen erfüllen, um dann irgendwann festzustellen, dass wir Blut geleckt hatten und wirklich dabei waren. Im Vergleich mit anderen jungen Eiskunstläufern aus der ganzen Welt begriffen wir, dass wir infolge der strengen Ausbildung und auch der zahlreichen jährlichen Leistungstests etwas auf dem Kasten hatten.

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      Von Pflicht und Spiel

      All die Jahre dort verbrachte ich gemeinsam mit Nils – dem Jungen, der, als ich in die Trainingsgruppe einstieg, sehr froh war, endlich einen kleinen männlichen Sportler neben sich zu wissen. Fast zehn Jahre sollte man uns zusammen trainieren sehen. Und nicht nur das! Wir verzapften jeden nur vorstellbaren Unsinn, übertrafen einander mit unseren Vorschlägen. Wir sorgten dafür, dass unsere Übungsleiter uns immer gut im Auge haben mussten. Max und Moritz auf dem Eis! Und wenn wir keinen gemeinsamen Streich ausheckten, nahmen wir Kobolde uns gegenseitig ins Visier.

      Später waren wir zwei leistungsorientierte Jungen, die begabt genug waren, um zu guten Einzelläufern heranzuwachsen. Wir liefen miteinander übers Eis, folgten gemeinsam den Anleitungen der Trainer und hielten verschworen zusammen, wenn wir, nun 12-, 13-, 14-jährig, versuchten, uns gegen sie aufzulehnen. Als gleichaltrige Platzhirsche stritten wir damals auch viel miteinander. Man darf davon ausgehen, dass es unsere Trainer wahrlich herausforderte, uns beide an der Leine zu halten und unsere Streitereien zu schlichten. Ich will gar nicht wissen, wie viele Nervenstränge wir Streithähne damals kappten.

      Vielleicht hätten es uns andere pädagogische Methoden leichter gemacht, Schule, Eislauf und Pubertät miteinander zu verbinden. Vielleicht würde heute manches anders laufen. Aber vielleicht auch nicht, denn Jutta Zickmantel, meine erste Trainerin, und der von uns allen so geschätzte Peter Meyer gaben sich wirklich große Mühe. Es kann gut sein, dass ich unter heutigen Trainingsbedingungen gar nicht so weit gekommen wäre. Ich weiß es nicht, denn ich trainiere fast ausschließlich Erwachsene.

      Mancher Trainer kann trotz allem Übungspensum sehr herzlich sein. Ein anderer bleibt kühl und eher unverbindlich.

      Ich weiß, dass man mit Kindern und Jugendlichen besonders einfühlsam und geschickt arbeiten muss. Sollte ich jemals eine Rasselbande kleiner, frecher Jungs unterweisen, werde ich versuchen, mich an mich zu erinnern. Monika Scheibe zum Beispiel macht das heute sehr gut in Chemnitz. Die Kinder mögen und achten sie. In dieser Mischung trainiert es sich angenehm und vor allem erfolgreich.

      Doch wen wundert‘s, dass junge Burschen, die täglich Gewichte stemmten, Ausdauerläufe schrubbten und auf dem Eis ausgebildet wurden, den Regeln mal trotzen wollten? Also „überraschten“ wir unsere Betreuer immer wieder, indem wir Absprachen schlichtweg übersahen. So selbstverständlich sich mir das aus heutiger Sicht darstellt, so sehr brachte es mich damals in Schwierigkeiten. Dabei haben wir einfach nur Blödsinn gemacht; obwohl wir auf dem Eis tanzten, blieben wir doch die Löwenjungen, die wahlweise anderen oder sich gegenseitig die Tatzen immer mal wieder ins Fell krallen mussten.

      Aber nicht nur mit Nils trieb ich Schabernack. Ich erinnere mich an einen Lehrgang. Zwölfjährig, schliefen wir in diesen Tagen im „Chemnitzer Hof“ und brauchten nach all der grauen Theorie unseren Auslauf. Das Zimmer, das ich damals mit Alexander König teilte, lag über einem Taxistand, und mit großer Freude und außerordentlichem Geschick feuerten