Eiszeiten. Ingo Steuer

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Название Eiszeiten
Автор произведения Ingo Steuer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783906212630



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positiven Außenwirkung des Landes verschmelzen. Jeder von uns Jungs träumte davon, als Einzelläufer einmal eine olympische Medaille zu erringen. Und der Einzellauf stand für uns klar über dem Paarlauf. Waren wir arrogant? Natürlich waren wir das, wir hatten ja auch keine Ahnung, was das Paarlaufen im Eiskunstlauf bedeutete.

      Dann kam es für mich zum großen Knall. Um die beiden Jungen zu trennen, die ständig miteinander stritten oder Unsinn anstellten, überlegten die Trainer zuerst, einen von uns beiden ganz vom Eis zu nehmen. Dann zogen sie in Erwägung, Nils oder mich in den Schnelllauf wechseln zu lassen. Das war nicht unüblich; musste sich jemand vom Kunstlauf verabschieden, wechselte er manchmal in diese Disziplin. Mein Vater arbeitete einige Zeit hobbymäßig als Übungsleiter im Eisschnelllauf. Einmal durfte ich mich im Training dazugesellen und kam wirklich gut zurecht. Doch Schnelllauf kam für mich als Alternative zum Eiskunstlauf ganz und gar nicht infrage, zumal ich ja im Grunde meines Herzens noch immer Einzelläufer war.

      Es kam ganz anders. Sie steckten den größeren der beiden, also mich, in den Paarlauf. Auch diese Entscheidung ist nachzuvollziehen, denn der Größere machte mit einer Partnerin nicht nur eine bessere Figur; es galt ja auch zu werfen und zu halten und letzten Endes physikalische Gesetze wie zum Beispiel das Hebelgesetz auszunutzen. Tja, der Größere war nun eben ich.

      Ich erinnere mich noch heute an den Moment, in dem ich erfuhr, dass ich aus dem Einzellauf raus sollte. Mehr noch, anfangs sollte meine Zeit auf dem Eis gänzlich vorbei sein. Zu sehr aus der Reihe getanzt, hieß es, zu wenig Disziplin. Zu poltrig, unbedacht und laut. Um Haaresbreite hätte ich mit dem Eiskunstlauf bald nur noch ein schönes Hobby gehabt.

       Image - img_0200000F.jpg Fürsprecherin Jutta Müller. (Foto: Wolfgang Thieme)

      Nur weil Jutta Müller ganz entschieden intervenierte, durfte ich bleiben – unter der Voraussetzung, dass ich fortan in den Paarlauf wechselte. Und es kann sein, dass nur ihre Fürsprache von damals weite Schatten vorauswarf und mich mit Aljona Savchenko und Robin Szolkowy 2014 nach Sotschi zu Olympia fahren lässt.

      Manchmal habe ich das Gefühl, dass damals überall, wo ich auftauchte, Ärger entstand. Machte ich den Menschen um mich herum wirklich das Leben schwer oder hatte ich irgendwann einfach diesen Ruf weg? Konnten sich andere besser ins Licht setzen und war ich schlicht und ergreifend etwas zu schwerfällig, um den Stolpersteinen aus dem Weg zu gehen?

      Ich redete eben auch immer, wie ich dachte. Letztendlich ist das immer richtig gewesen, denn ging ich zu weit, habe ich dafür eben Dresche gekriegt.

      So will ich auch bleiben. Nicht taktieren. Ich bemühe mich, etwas leiser zu werden, denn manchmal komme ich einfach zu laut daher. Dann hole ich erst einmal Luft und suche bessere Worte, um mich oder etwas zu erklären. Die Jahre haben mich hinsichtlich meiner Ansprüche nicht verändert, ich will keine Kompromisse eingehen und an das, was ich erreichen will, keine Zugeständnisse machen. Anderen Menschen aber muss ich meine Ansprüche nicht mehr „überhelfen“. Ich verstehe, wenn sie andere Prioritäten setzen oder ihren Zielen nicht alles unterordnen, so wie ich es tat und teilweise noch immer tue. Dieses Lebensmotto „Alles oder nichts“ muss es meinen Kollegen und meinen Sportlern manchmal sehr schwer gemacht haben, mit mir auszukommen.

      Heute verstehe ich vieles besser als früher. Vielleicht, weil ich die halbe Welt durchreist und manchen Menschen getroffen habe, der mich etwas dazulernen ließ. Vielleicht auch, weil ich mitfühle mit dem Ingo von früher, der, sehr jung noch, viel mit sich selbst ausmachen musste.

      tc

      Zu zweit

      Für mich bedeutete es damals fürs Erste, aus dem Einzellauf in den Paarlauf zu wechseln und ein Mädchen an der Seite zu haben. Manuela Landgraf hieß die Zehnjährige, die man für mich ausgesucht hatte, da sie in Körpergewicht, Größe und sportlichem Entwicklungsstand zu mir passen könnte. Mit meinen 14 Jahren durchwanderte ich die Hölle. Ich fühlte mich degradiert. Aus der Traum; der Weltuntergang wäre nicht halb so schlimm gewesen.

      An diesem Abend lag ich auf meinem Bett und heulte wie ein Schlosshund. Ich schämte mich, denn der Wechsel in den Paarlauf war für mich ein Abstieg, doch das war nur einer der Gründe.

      Die Trainingsgruppe war mein zweites Zuhause. In diesem sozialen Umfeld wuchs ich heran, feierte meinen 10., 12. und 14. Geburtstag. In dieser Gruppe übte ich, mich zu anderen ins Verhältnis zu setzen, denn hier spielte sich meine gesamte Freizeit ab. Ich agierte zwischen Bande und Umkleidekabine, zwischen Trainergespräch und Trainingslager. Mitten unter all diesen jungen Spunden begann ich zu verstehen und zu begreifen, dass wirkliche Freude immer mit einem Sieg über sich selbst zu tun hat. Zum Beispiel, wenn man den ersten doppelten oder dreifachen Sprung gestanden hat.

      Wenn einer den Sprung am Anfang der Trainingsstunde stand, dann wollte der andere das auch können und übte so lange und so intensiv, bis er am Ende der Stunde den Sprung auch draufhatte. Sobald jemand etwas besser beherrschte als der andere, distanzierte er sich von der Gruppe und das Gemeinschaftsgefühl, der Spaß verlor sich für den Moment. Unsere Trainer meinten, auf dem Eis gebe es keine Freundschaft. Uns war nicht klar, was damit gemeint war. Das war es, war einer besser, wollte der andere nachziehen. Mit zehn Jahren stand ich den dreifachen „Salchow“, mit elf stand ich den dreifachen „Toeloop“ und mit zwölf stand ich den ersten „Axel“. Ich lernte, Sprünge so lange zu wiederholen, bis ich den richtigen Dreh raushatte. Den Rittberger mochte ich, der lag mir. Der dreifache „Lutz“ fiel mir hingegen schwer. Das ist ein Kantensprung, der von der Rückwärts-Auswärtskante gesprungen wird und mit dem ich nie richtig warm geworden bin. Ich musste ihn immer mehr üben als die anderen.

      Im Training begriff ich, dass Enttäuschungen zum Leben dazugehören und dass das nicht das Schlimmste ist. Und, obwohl ich manchmal danebenlag, schätzte und achtete ich meine Übungsleiter, wenn mir auch nicht jeder ans Herz wuchs – wie auch ich nicht jedem gleichermaßen sympathisch wurde. Aber ich begriff, dass jeder seinen Teil zum Ganzen zu leisten hatte.

      In der großen Eismanege mussten Sportler, Trainer, technische Mitarbeiter und die Frauen in der Verwaltung einen guten Job machen. Wer nicht zuverlässig war, hatte in diesem Team nichts verloren. So wurde den Damen in der Verwaltung ebenso Respekt entgegengebracht wie dem Masseur.

      Wir lernten, dass wir unseren Mädchen die Taschen zu tragen hatten. Wir hielten ihnen die Tür auf und halfen ihnen in die Jacken. „Kinderstube“ sagt man wohl dazu. Das Wort klingt altmodisch, ich weiß. Und ich fühle mich selbst nicht alt genug, um zu lamentieren, aber wir lernten in diesen Jahren, uns zu benehmen. Im Sport kann einer ohne den anderen nicht sein und immer steht das Team über dem Einzelnen. Doch jeder Sportler träumt von olympischem Gold, beäugt die Fortschritte der Trainingskameraden und schielt manchmal nach dem kleinen Vorteil für sich selbst. In diesem Spannungsfeld wuchsen wir heran, Freunde und Konkurrenten. Wir stritten uns und loteten auf dem Eis unsere Grenzen aus.

      Weit und bunt war das Terrain nicht, auf dem wir uns austobten, obwohl wir das Eis liebten. Sicher war es nicht immer leicht, mich so anzunehmen, wie ich war. Ehrgeizig und trotzig und dabei bestimmt liebenswert und frech, wie die meisten Jungs auf dieser Welt. Es hätte mir gut getan, angenommen zu werden.

      Vielleicht fehlten mir ein paar Lausbubensommer auf dem Land, während derer ich den Unsinn für ein ganzes langes Schul- und Trainingsjahr hätte machen können. Herumtollen, schreien, leise sein, lachen und weinen. Wann immer es geht, nutze ich die Gelegenheit und versuche, gemeinsam mit meinem Jungen Unsinn zu treiben und nachzuholen, was ich versäumte.

      Unterdessen hatte ich an vielen Spartakiaden teilgenommen. Im Winter 1981/82 richtete Karl-Marx-Stadt, unser heutiges Chemnitz, die Eissportdisziplinen im Rahmen der Winterspartakiade aus. Auf Landesebene nahmen die besten Nachwuchssportler teil. Mit prächtigen Eröffnungsfeiern und viel Show ging es zur Sache.

      Die Stimmung war für junge Sportler herrlich, die Atmosphäre gespannt und doch ausgelassen. Für jeden, der teilnehmen konnte, ein Vorgeschmack auf künftige, internationale Wettkampfatmosphäre. Ich sollte in diesem Winter das Spartakiade-Feuer entzünden.

      Heute noch erinnere