Eiszeiten. Ingo Steuer

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Название Eiszeiten
Автор произведения Ingo Steuer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783906212630



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erlernen – auch, weil mein Vater wollte, dass seine Kinder im Leben zurechtkommen. So studierte ich später also Sport, die naheliegende Variante. Als zur Wende nicht klar war, ob die Studienjahre angerechnet würden, beziehungsweise ob es Arbeit für uns geben würde, stieg ich aus.

      Diese Aussicht besaß so wenig Charme, dass ich sofort über eine andere Perspektive nachdachte. Zuerst versuchte ich mich in einer Werbeagentur, kurvte mit meinem Manta auf eigene Kosten durch die Gegend und ging auf Akquise. Nach einem Monat war Schluss damit. Ein feuchter Händedruck, ein Danke, das war‘s. So würde meine Zukunft also nicht aussehen, für den Fall, dass ich einmal nicht mehr eislaufen konnte. Lehrer werden wie mein Vater, das wollte ich auch auf keinen Fall. Früh aus dem Haus, mittags heim, Versammlungen, Elternabende – nein, das reizte mich nicht. In meiner Vorstellung sah ich mich auch nicht in eine Firma oder Fabrik stiefeln, 7 Uhr raus, 9 Uhr am Schreibtisch, 17 Uhr nach Haus kommen und morgen und übermorgen und nächste Woche immer so weiter.

      Ich wusste, ich wollte auch mit Menschen zusammen sein. Ich lief für mein Leben gern auf dem Eis und hatte – neben einem streng ausgeklügelten Trainingsplan – immer mit Sportlern oder Trainern zu tun. Auf dem Eis, beim Krafttraining, in den Trainingslagern und natürlich bei den Wettkämpfen.

      Nach einigem Hin und Her fand ich schließlich einen Ausbildungsplatz. Es musste ja irgendwie weitergehen. Heute kann ich mir das gar nicht mehr vorstellen, von jetzt auf gleich mussten die Karten neu gemischt werden. Ich brauche immer ein Ziel, denn ich bin so ein Typ, der schwer alle fünfe gerade sein lassen kann. Erst mal schauen – erstes, zweites, drittes Studium –, dafür war ich nicht gemacht. Außerdem war mir bis dahin eine exzellente Ausbildung als Eiskunstläufer zuteilgeworden und es war sonnenklar, dass ich neben der Ausbildung ein Zeitfenster brauchte, um weiter zu trainieren. Jeden Tag wollte, musste ich aufs Eis. Infrage kam schließlich eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann mit theoretischer und praktischer Ausbildung. Und das im Konsum. Wirklich! Groß und blau leuchteten die Buchstaben von der Fassade des Gebäudes. Ganz schön verrückt, dachte ich, vom Sportstudium zum Verkäufer in einer Konsumfiliale. Anfang September 1990 trafen wir vier, fünf junge Menschen uns in einer Kaufhalle und los ging es mit der Lehre.

      Man wies die wesentlich jüngeren Kerlchen und mich dort erst einmal ein und in der Folge stand ich das erste Jahr in einem kleinen Eckkonsum im Chemnitzer Beimler-Gebiet. Ein „Tante Emma“-Konsum, 30 Quadratmeter klein, im Keller gelegen. Dort absolvierte ich meine praktische Ausbildung und wurde Teil eines guten kleinen Vier-Mann-Teams. Früh um fünf heizte ich den Ofen der Filiale, damit der Verkaufsraum einigermaßen überschlagen war, und 14 Uhr war Schluss für mich. Ich konnte trainieren gehen. Das war eine gute Zeit, auch wenn ich aufstehen musste, wenn der Tag gerade erst müde aus der Wäsche blinzelte. Ich wusste, das gehörte dazu und würde zudem nicht bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Da ich Abitur und schon ein paar Semester studiert hatte, verkürzten sich meine Lehrjahre von drei auf zwei und so war das Ende ohnehin absehbar. Irgendwann würde mein Wecker für mich auch wieder später klingeln.

      Letztendlich hatte ich alle theoretischen und praktischen Prüfungen der Industrie- und Handelskammer in der Tasche. Ganz nebenbei erschloss sich mir auch ein Kapitel aus der Entwicklungsgeschichte des Konsums, der sich damals in extremer Veränderung befand. Vom kleinen Konsum ging es für mich in den Supermarkt und dann doch wieder zurück in die kleine Filiale.

      Im zweiten Jahr lernte ich also in einem großen Markt mit strenger Chefin. Es fiel mir schwer, ihr wirklich etwas recht zu machen. So lernte ich einmal mehr, dass immer wieder Menschen unsere Wege kreuzen, mit denen man nicht wirklich gut harmoniert, aber zurechtkommen muss. Zwischen uns stimmte wohl einfach die Chemie nicht. Ich gab mir Mühe, mich etwas zurückzunehmen, denn mein Temperament ließ mich reden, wie mir der Schnabel gewachsen war. Meine Sportler kennen das zur Genüge und ich bin mir ganz sicher, es macht sie nicht immer glücklich. Einmal wurde ich damals, 1991/92, in diesem Markt sogar zur Strafarbeit verdonnert. Für eine Woche sollte ich jeden Morgen die Rampe kehren. Man bedenke, ich war ein fast 26-jähriger Lehrling, ein junger Mann! Während heute junge Männer nicht selten schon Mitte zwanzig sind, wenn sie erstmalig in die Arbeitswelt hineinschnuppern, galt ich damals als Exot in der Lehrlingsgruppe. Mit dem festen Vorsatz, die Lehre zu Ende zu bringen, stellte ich mich dieser liebenswerten kleinen Zusatzaufgabe „Rampe reinigen“. Der Zufall wollte es, dass genau eine Etage über der Rampe ein Zigarettenautomat von reichlich Kundschaft aufgesucht wurde. Eine Diskothek sorgte an jedem Wochenende für Stimmung in den oberen Räumen und beim Münzeneinwerfen am Automaten verfehlte zu später Stunde so manche D-Mark den Geldeinwurf und landete auf der Rampe, die ich allmorgendlich kehrte und vom Kleingeld „befreite“. Und so hat nicht nur jede Münze zwei Seiten, sondern eben auch jede andere Angelegenheit.

      Bis dahin hatte ich schon die verschiedensten Arbeiten erledigt: Flaschen putzen, Obst einsortieren, an der Käsetheke aufs Gramm genau Käse am Stück abtrennen. Was für ein Hochgefühl: „Ich hätte gern 150 Gramm Emmentaler!“ – abgeschnitten, auf die Waage gelegt und 149,5 Gramm abgesäbelt! Das ringt mir heute noch Bewunderung ab, wenn ich so geschickt bedient werde. Abenteuerlich war auch der Kassendienst. Den Preis für jedes Lebensmittel hatten wir im Kopf – von wegen Scanner! Jedes Stück Butter, jeden kleinen Schokoriegel preisten wir aus und tippten ihn bei jedem Kunden einzeln in die Kasse. Mir war das ein guter Ausgleich zu meinen Trainingseinheiten. Ganz abgesehen davon lernte ich die Buchhaltung kennen und erfuhr viel über Lebensmittel. Wie lange sind sie haltbar? Was ist drin? Ein Umstand, der später sowohl mir als auch meinen Sportlern half.

      Nach zwei Jahren nannte ich mich also Einzelhandelskaufmann. Ich besaß einen soliden Berufsabschluss, mit dem überall etwas anzufangen war.

      Verrückt war an der ganzen Sache, dass ich mitten in meinem Aufstieg zum Chemnitzer „Spitzen-Konsumverkäufer“ auf dem internationalen Eis mit Mandy Wötzel Vizeweltmeister wurde! Ich will später in einem Extrakapitel von jener umfassenden Zweisamkeit erzählen.

      Man stelle sich vor, Montag an der Kasse im Konsum das Wechselgeld herausgegeben und Samstag im schillernden Dress die Silbermedaille bei den Weltmeisterschaften im Paarlaufen erkämpft. Als das im Supermarkt bekannt wurde, gratulierten mir die verwunderte Chefin und meine Kollegen. Ich glaube, sie sahen mich von da an mit anderen Augen und zollten mir Respekt.

      Manchmal schaue ich heute meinen zehnjährigen Sohn Hugo an und versuche, in seine Zukunft zu sehen; ich bin neugierig auf seine Wünsche. Was wird er einmal wollen? Wenn wir davon ausgehen, dass unsere Talente und Neigungen schon bei unserer Geburt angelegt sind – wie und wo findet er einmal Erfüllung und Glück? Ich bin ganz vorsichtig und will ihn nicht bedrängen, damit alles aus ihm selbst erwächst. Ich will geduldig bleiben, bis er seine ersten wichtigen Entscheidungen trifft.

      Bundeswehr

      Ich hatte zu diesem Zeitpunkt, nach Abschluss meiner Lehre, noch einmal eine andere Perspektive ins Auge gefasst.

      Von irgendjemandem hatte ich von Sportfördergruppen der Bundeswehr gehört. Diese Gruppen existierten in den alten Bundesländern schon über Jahrzehnte, nur im Osten waren sie noch nicht etabliert und man begann gerade erst, sie ins Leben zu rufen. Mithilfe der Gruppen unterstützt die Bundeswehr erfolgreiche Sportler, indem sie ihnen eine finanzielle Basis schafft.

      Wenn ich Teil einer solchen Fördergruppe würde, könnte ich trainieren, ohne parallel dazu als Verkäufer arbeiten zu müssen.

      Ich erfuhr, dass in Halle eine solche Fördergruppe aufgebaut werden sollte und bewarb mich dort für den ganz normalen Dienst bei der Bundeswehr – in der Hoffnung, die kleine Spezialeinheit würde tatsächlich irgendwann entstehen und ich könnte Teil derselben werden. Ich wusste, dann würde es mir leichter fallen, gleichzeitig zu trainieren und vernünftig zu existieren. Also reichte ich alle nötigen Unterlagen ein, musste einen Sonderantrag stellen, denn ich war schon älter als 25, und so konnte für mich nur eine bestehende Ausnahmeregelung greifen; kurz darauf wurde ich Soldat der Bundeswehr.

      Montagfrüh um vier zog ich in Chemnitz los und schob bis Freitagnachmittag in Holzdorf bei den Fliegern Dienst in der Grundausbildung. Dann sauste ich zurück, denn Mandy Wötzel und ich hatten zu diesem Zeitpunkt schon begonnen, zusammen zu trainieren und hatten jeden Freitagabend ein „Date“ in der Eishalle, ebenso am Samstag und Sonntag. Die Wochenenden