Eiszeiten. Ingo Steuer

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Название Eiszeiten
Автор произведения Ingo Steuer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783906212630



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Art und Weise, aber ich wusste ja wofür. Im Sommer 1993 war es so weit – gemeinsam mit Hauptfeldwebel Zimmer als Vorgesetztem, der Schwimmerin Silke Otto und mir wurde in Frankenberg eine Sportfördergruppe der Bundeswehr aufgebaut. Ich bekam einen Dienstplan und konnte trainieren. Acht bis zwölf Wochen im Jahr absolvierten wir Sportsoldaten dort einige Lehrgänge, frischten sozusagen unser militärisches Wissen auf und konnten den Rest der Zeit frei von finanziellen Sorgen trainieren. Die ersten Jahre erhielt ich nur den Wehrsold, als Gefreiter wurde es ein wenig mehr und zwei, drei Jahre später, ich war inzwischen Zeitsoldat geworden, ging es mir finanziell sehr gut; ich bekam ein vernünftiges Gehalt und konnte in Ruhe trainieren.

      Ich blieb sechs Jahre Sportsoldat der Bundeswehr, wurde 1998 nach den Olympischen Spielen in Nagano verabschiedet und startete meine Profikarriere.

      Exakt zur gleichen Zeit

      Für mich hat sich auf andere Art und Weise Jahre später mein Wunsch erfüllt, mit Menschen zu arbeiten. Mit vier Semestern Sportstudium und einem riesigen Schatz an Erfahrungen startete ich mehr oder weniger autodidaktisch in meine Trainerlaufbahn: Ich setze meine Ideen um, gerade so wie ich es will und kann. Etwas Besseres konnte mir aus heutiger Sicht kaum passieren.

      Manchmal fragt man mich, ob meine Eltern nicht meine größten Fans seien. Nein, eigentlich nicht. In all den Jahren waren sie keine Fans, sondern zu 100 Prozent meine Eltern. Mein Vater konnte mich beispielsweise nie laufen sehen, wenn Wettkämpfe anstanden. Ihm wurde schlecht vor Aufregung, deshalb wartete er draußen vor der Halle. Übertrug man die Entscheidungen im Fernsehen, saß er in der Küche, drückte mir die Daumen und lauschte später den Kommentaren meiner Mutter, die alles genau verfolgt hatte. Heute sind meine Eltern wieder drin in der Geschichte mit Aljona und Robin. Wieder verlässt mein Vater das Zimmer, um sein Herzklopfen einzugrenzen. Beide sind wieder Feuer und Flamme. Unsere Familie war immer mein größter Halt.

      Mir gelang Gleiches leider nicht. Unsere kleine Familie zerbrach und mein Sohn lebt bei seiner Mutter. Wir zwei Erwachsenen bleiben für ihn sein Elternpaar, darin sind wir uns einig. Sooft es geht, verbringe ich Zeit mit ihm. Ich hoffe, ich kann mir sein Vertrauen auch in den kommenden Jahren erhalten. Sein Fels in der Brandung sein für immer, das wäre schön.

      Zunächst wünsche ich ihm, dass er die Schule gut hinbekommt. Er muss nicht der Beste sein, aber er soll gut zurechtkommen. Für die Naturwissenschaften braucht er allerdings einen anderen Nachhilfelehrer als seinen Vater. Er soll gesund bleiben und viel Freude haben. Keine geschenkte, hingegebene Freude, sondern selbst erarbeitete. Kämpfen soll er lernen.

      Mein Sohn soll wissen, dass sein Vater und seine Mutter immer die stabile Basis sein werden, die er braucht, um durchs Leben zu kommen. Genauso wie meine Familie immer zur Stelle war, als ich sie brauchte. Ich habe viel gelacht in meiner Kindheit und eine Menge Spaß gehabt. Das will ich nicht missen. Aber danach gefragt, ob ich mir Gleiches für meinen Sohn wünsche, kann ich nur mit einem klaren „Nein“ antworten.

      Ich erinnere mich noch gut an jene Zeit, in der sich die Prioritäten in meinem Leben noch einmal neu fanden. Als Hugo auf die Welt kam, stand mein 37. Geburtstag bevor. Da waren wir gerade mit „Holiday on Ice“ in Berlin, meine Freundin und ich wohnten damals zusammen in der Hauptstadt. Natürlich hatten wir schon ein Krankenhaus ausgesucht, um nichts dem Zufall zu überlassen. In besagter Woche lief ich jeden Tag Doppelshows mit unserem Programm. Abends war ich völlig ausgepowert. Dann, am Samstag, standen drei Durchläufe auf dem Programm: 9, 14 und 19 Uhr. Für den Sonntag galt der gleiche Zeitplan.

      Am späten Samstagabend kündigte sich unser Sohn an; ich telefonierte völlig aufgelöst mit dem Krankenhaus und teilte dort mit, dass mir die Fruchtblase geplatzt wäre! Die Schwester in der Aufnahme des Krankenhauses nahm mich trotzdem ernst. Wir fuhren sofort los und ich befand mich wohl in der gleichen Verfassung wie jeder Mann in dieser Situation: hilflos, überfordert und trotzdem gut funktionierend.

      Turbulente sieben Stunden später kam 6:35 Uhr unser Sonntagskind zur Welt; zur gleichen Uhrzeit wie 37 Jahre zuvor sein Vater. Ich hielt ihn im Arm, wenige unbeschreibliche Minuten lang – und fuhr dann zur ersten Sonntagsvorstellung in die Eishalle. Vor ausverkauftem Haus liefen meine Partnerin Mandy Wötzel von rechts und ich von links aufs Eis und wir glitten nach vorn. Nie kann ich diesen Augenblick vergessen und niemals habe ich einen schöneren Morgen erlebt. Mein Sohn war auf die Welt gekommen und mit diesem Wahnsinnsgefühl stand ich da, nach durchwachter Nacht mit einer Energie, die von irgendwoher aus dem Universum zu mir kam. Für einen winzigen Augenblick stand ich ganz still und bedankte mich für dieses große Geschenk. Ich erlebte diesen glückseligen Sonntag wie in einer Wolke.

      Danach veränderte sich alles für mich, der kleine Knopf wurde zum Zentrum meines Universums. Aber ihm eine Jugend wie meine wünschen? Obwohl ich alles wieder genauso machen würde, wünsche ich es mir für meinen Jungen anders. Alles erleben, was mir geschah und wie es mir ergangen ist – nein. Sein Leben soll mehr Leichtigkeit haben, ohne dass er bequem wird. Mehr Heiterkeit, weniger Druck. Ich will sein Lachen hören, wenn ich mit ihm zusammen bin, sooft es geht.

      Es wünscht sich wohl jeder für sein Kind, dass es glücklich ist, weil es jeden Vater, jede Mutter selbst glücklich macht. Ich denke, wenn Kinder nicht glücklich werden, finden deren Eltern auch kein Glück.

      Wenn ich mit meinem Jungen zusammen bin, denke ich oft an mein Kinderleben, das so komplett anders verlief. So viel Ernst und Reglement. Zu wenig Zeit für unbeschwertes, einfaches Dasein. Bei allem Erfolg und in dem Wissen, dass ich aus mir selbst heraus immer ehrgeizig getrieben war, kam doch die Unbeschwertheit zu kurz. Ein wenig mehr Entspannung hätte mir sicher nicht geschadet und mir vielleicht schon in jungen Jahren etwas mehr Gelassenheit geschenkt. Manchmal denke ich, das hängt mir heute noch an.

      Der Ernst des Lebens kommt früh genug. Wie mein Junge einmal leben wird, wo er seinen Platz findet, das ergibt sich aus seinem ureigenen Weg. Ich versuche ihm zu vermitteln, dass man im Leben nur sehr selten etwas geschenkt bekommt und für alles kämpfen muss. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Bei meinen Sportlern gelingt mir das meist, aber meinem Sohn kann ich nur Vater, nicht Trainer sein. Vielleicht habe ich das Glück, dass wir uns nie aus den Augen verlieren. Ich möchte mein ganzes Leben lang an seiner Seite sein; mal von Nahem, mal aus der Ferne zuschauen. Ich verfolge seine Entwicklung sehr aufmerksam und bin gespannt, wie er durch die Jahre gehen wird, während denen er alles kompromisslos selbst ausprobieren muss. Stehen mir dann die Nackenhaare zu Berge? Ob ich ihn dann immer noch verstehen kann? Hört er mir dann immer noch zu?

      Wir werden sehen.

      3. Kapitel Erfolg erfordert harte Arbeit

      Ich will sehen, wie du läufst

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      Ich weiß es noch, als ob es gestern war: Fünfjährig stand ich zum ersten Mal auf dem Eis. Die Halle, die Trainerin, alles stürzte, rauschte ganz ungewohnt auf mich ein. Hinter der Bande standen meine Eltern und schwitzten für mich mit. Laufen sollte ich.

      „Lauf“, sagte die fremde Frau, die für lange Zeit meine Trainerin werden sollte. „Lauf und halte dich auf den Beinen – ich will sehen, was du kannst!“

      Ich rang dem Eis mit Leichtigkeit ein erstes Stehen und ein vorsichtiges Gleiten ab. Das fühlte sich gut an. Das fühlte sich sehr gut an! Lag es daran, dass ich seit einiger Zeit auf Rollschuhen durch unsere den Rasen begrenzenden Straßen flitzte? Oder daran, dass in mir ein Bewegungstalent schlummerte?

      Jedenfalls, der erste Versuch auf dem Eis fühlte sich großartig an wie Musik. Dann stolperte ich und fiel zum allerersten Mal aufs Eis. In diesem Augenblick liefen plötzlich wildfremde Mädchen und Jungen, sich eigenartig einig, im Kreis um mich herum und ließen mich nicht mehr durch. Kichern, Lächeln, Schadenfreude. Nun – damit, dass Kinder grausam sein können, haben wir alle im Laufe unseres Lebens Bekanntschaft gemacht. Da meinte ein anderer kleiner Steppke, er könne das viel besser als ich. Seit dieser Erfahrung weckt alles, was aussichtslos scheint, zu jeder Zeit meinen Ehrgeiz. Selbstmitleid ist nicht meine Stärke. Ich stand auf, putzte mir den Eisstaub von der Hose und dachte: „Denen zeigst